Mehr vom Leben durch Langzeitkonten

Demografie-Tarifvertrag Mehr vom Leben durch Langzeitkonten

Langzeitkonten geben Beschäftigten und Betrieben mehr Flexibilität in der Arbeitszeit-Organisation. Die Bundesregierung fördert ihre Einrichtung durch das "Flexi I" und das "Flexi II"-Gesetz. Aber erst zwei Prozent aller Betriebe nutzen diese Möglichkeit, etwa der Reifenhersteller Michelin.

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Mitarbeiterin in der Fertigung

Den Übergang zur Rente besser verkraften

Foto: Michelin

Wer kennt ihn nicht, den dicken Michelin-Reifen-Mann? Er ist schon 125 Jahre alt und wird vermutlich noch lange nicht in Rente gehen oder eine Auszeit nehmen. Anders die rund 5.000 Beschäftigten des Reifenherstellers in Deutschland. Sie haben ein FlexiPlus-Konto, das ihnen Freistellungszeiten sichert.

Den Übergang in die Rente selbst gestalten

Wie man ein Langzeitkonto nutzen kann, beschreibt Reiner Scheidt, 51 Jahre. Er ist Ausbildungsleiter bei Michelin in Bad Kreuznach und schon 25 Jahre im Werk: "Für mich ist die Idee beim FlexiPlus-Konto, einen harmonischen  Übergang  in die Altersfreizeit zu gestalten. Ich möchte nicht von einem Tag auf den anderen von 100 Prozent Arbeitsleistung in die Rente gehen. Ich stelle mir vor, vielleicht ein halbes Jahr oder ein Jahr nur noch zwei Tage in der Woche zu arbeiten und dadurch den Übergang besser verkraften zu können." 

So wie er denken viele seiner Kollegen. Das Durchschnittsalter bei Michelin liegt bei 45 Jahren – das ist für ein Unternehmen mit Schwerpunkt in der Produktion ziemlich hoch.

"Unser Ziel mit FlexiPlus-Konto ist auf jeden Fall, das Arbeitsumfeld so zu organisieren und individuell anzupassen, dass es auch älteren Mitarbeitern möglich ist, lange im Betrieb zu bleiben", erklärt Mathias Siebe, Personaldirektor für Michelin Deutschland (siehe Interview). "Denn vor allem sie sind Know-how-Träger und haben viel Erfahrung. So sorgen sie für die nötige Kontinuität und damit Qualität – und das reicht bis hin zu den Produkten."

Freiräume schaffen

Fachkräfte im Unternehmen halten, weiterbilden und gleichzeitig Freiräume für die individuelle Lebensgestaltung bieten - nur wenige Branchen haben im Tarifvertrag den demografischen Faktor im Blick. "Die Industriegewerkschaft Chemie, Bergbau, Energie war die erste Gewerkschaft, die das ganz konsequent mit eingebaut hat", sagte Bundeskanzlerin Merkel im März auf dem Arbeitnehmerkongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion "Fit für die Zukunft".

Personaldirektor Siebe sieht das so: "Unsere Idee war, dass auch ältere Mitarbeiter in der Lage sein sollen, die Schichtarbeit und das Arbeitssystem vernünftig gestalten zu können. Das ist vor allem vor dem Hintergrund wichtig, dass Belegschaften heutzutage ein recht hohes Durchschnittsalter aufweisen." Ziel sei es, gerade auch die gewerblichen Mitarbeiter möglichst lange zu beschäftigen und für ein Umfeld zu sorgen, das dies erlaubt. "Wir haben uns überlegt, dass es gut wäre, ein flexibles Instrument zu haben, damit  Mitarbeiter früher in die Rente gehen oder Teilzeitmodelle nutzen können. Unser Betriebsrat hat von Anfang an mitgezogen."

Arbeitszeitguthaben nutzen

Jüngere Mitarbeiterin mit älterem Kollegen bei Michelin.

Sowohl ältere als auch jüngere Beschäftigte können vom FlexiPlus-Konto profitieren

Foto: Michelin

Die Personalabteilung hatte aber auch die jüngeren Beschäftigten als Nutznießer der FlexiPlus-Konten im Auge. Ziel war es, ihnen eine neue Möglichkeit zu geben, für das Alter vorzusorgen.

Tatsächlich bietet das Langzeitkonto Freiräume, um sich für eine gewisse Zeit anderen Lebensbereichen zuzuwenden. Zum Beispiel, um Kinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen. Während der Freistellung wird weiterhin monatlich ein Entgelt gezahlt, das aus dem angesparten Guthaben des FlexiPlus-Kontos überwiesen wird. Die Höhe der Auszahlung kann selbst bestimmt werden.

Auch Ausbildungsleiter Scheidt richtet sich noch lange nicht auf die Rente ein: "Ich überlege zur Zeit, dass ich ab Herbst eine Weiterbildung machen möchte, für die ich dann zwei Jahre auf eine Vier-Tage-Woche gehe. Ohne dieses FlexiPlus-Konto könnte ich diese Weiterbildung entweder gar nicht machen oder nur mit erheblichen finanziellen Einschränkungen."

So funktioniert das FlexiPlusKonto 

Die Grafik erklärt, wie das Langzeitkonto bei Michelin funktioniert.

Das Langzeitkonto im Überblick

Foto: Michelin

Auf dem FlexiPlus-Konto kann Zeit und Geld angespart werden. Die Arbeitnehmer  können angeordnete Überstunden, Urlaubstage oder auch Zulagenzahlungen einbringen. 

Michelin zahlt außerdem jährlich auf jedes Langzeitkonto 300 Euro ein. Denn in dem 2008 abgeschlossenen Tarifvertrag "Lebensarbeitszeit und Demografie" für die Chemische Industrie wurde diese Summe als Demografiebetrag der Arbeitgeber festgelegt. Für jedes Unternehmen entsteht dadurch ein betrieblicher Demografiefonds. Wie dieser eingesetzt wird, wird passgenau für jede Firma mit dem Betriebsrat ausgehandelt. Bei Michelin wurde vereinbart, die Langzeitkonten aufzustocken.

Gute Praxis

Schon 1998 hat die Bundesregierung mit dem "Flexi I"-Gesetz die Grundlage zur Einrichtung von Langzeitkonten geschaffen. 2009 wurde mit dem "Flexi II"-Gesetz der Insolvenzschutz verbessert. Das Bundesarbeitsministerium hat 2011 untersuchen lassen, wie stark Langzeitkonten bereits verbreitet sind. Ergebnis: Etwa 40.000 Betriebe in Deutschland führen "echte" Wertguthaben, mit denen die Beschäftigten explizit für längerfristige Freistellungen ansparen können. Das sind bislang erst zwei Prozent aller Betriebe, überwiegend solche mit 500 und mehr Beschäftigten.

Vorreiter in der Privatwirtschaft sind die Chemie- und die Metallindustrie. Der Tarifvertrag in der Chemiebranche gilt für rund 500.000 Beschäftigte. Gut 20 Prozent der 1.900 Chemie-Betriebe haben Langzeitkonten eingerichtet. Dies zeigt, dass hier ein Umdenken eingesetzt hat: zeitliche Flexibilität ist nicht nur machbar, sondern sie macht auch alle zufriedener.

"Ich habe mein Konto schon fast zehn Jahre und habe bereits acht Monate angespart - geldwert gerechnet mit meinem jetzigen vollen Lohn. Das ist ein schönes Gefühl. Das Gute ist, dass man kein Bittsteller ist, wenn man das Konto nutzen will. Und dass man keine finanziellen Einbußen hat", fasst Ausbildungsleiter Scheidt die Vorteile des Langzeitkontos zusammen.

Die "Chemieformel" zum demografischen Wandel
Der Tarifvertrag "Lebensarbeitszeit und Demografie" in der Chemischen Industrie bietet einen Rahmen, in dem 1.900 Betriebe mit 500.000 Beschäftigten in der Chemie-Branche den demografischen Wandel aktiv gestalten.
Im Tarifvertrag ist vereinbart worden, dass jeder Betrieb in der Branche:
- eine Demografieanalyse (Beschreibung der Alters- und Qualifikationsstruktur) durchführt,
- Maßnahmen zur alters- und gesundheitsgerechten Gestaltung des Arbeitsprozesses festlegt,
- Maßnahmen zur Qualifizierung während des gesamten Arbeitslebens (lebenslanges Lernen) entwickelt und
- Maßnahmen zur (Eigen-)Vorsorge und Nutzung verschiedener Instrumente für gleitende Übergänge zwischen Phasen für Bildung, Arbeiten und Ruhestand vereinbart.
Zentrales Element des Tarifvertrages ist der Demografiefonds, in den die Arbeitgeber jährlich für jeden Beschäftigten 300 Euro einzahlen. Die Verwendung wird jeweils in einer Betriebsvereinbarung festgelegt.