"Unsere älteren Mitarbeiter sorgen für Kontinuität"

Interview zu Langzeitkonten "Unsere älteren Mitarbeiter sorgen für Kontinuität"

Beim Reifenhersteller Michelin haben die Beschäftigten Langzeitkonten. Diese ermöglichen ihnen und dem Betrieb mehr Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitszeit. Warum das Unternehmen die Konten führt und wie das funktioniert, erklärt Mathias Siebe, Personaldirektor von Michelin für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Das Interview führte Sabine Davids für das Bundespresseamt.

4 Min. Lesedauer

Mitarbeiterbesprechung bei Michelin

Mitarbeiterbesprechung bei Michelin

Foto: Michelin

Bundespresseamt (BPA): Warum gibt es bei Michelin das FlexiPlusKonto?

Mathias Siebe: Unsere Idee war, dass auch ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Lage sein sollen, die Schichtarbeit und das Arbeitssystem vernünftig gestalten zu können. Das ist vor allem vor dem Hintergrund wichtig, dass Belegschaften heutzutage ein recht hohes Durchschnittsalter aufweisen. Unser Ziel ist es, gerade auch die gewerblichen Mitarbeiter möglichst lange zu beschäftigen und für ein Umfeld zu sorgen, das dies erlaubt.

Wir haben uns überlegt, dass es gut wäre, ein flexibles Instrument zu haben, damit  Mitarbeiter früher in die Rente gehen oder Teilzeitmodelle nutzen können, ohne dass dadurch Verluste bei der Rente entstehen. Konkret: Sie arbeiten dann nur noch 80 oder 70 Prozent oder noch weniger. Für  Mitarbeiter über 60 Jahre in der industriellen Produktion ist es oft schwierig unter voller Belastung zu arbeiten. Die Nachtschicht ist ein solches Beispiel, aber auch individuelle körperliche Beeinträchtigungen können eine Rolle spielen. Und auch den Übergang in die Rente darf  jeder sorgfältig vorbereiten, um das berühmt berüchtigte Loch zu verhindern, in das man fallen kann.

Das war der Grundgedanke, den Michelin nun schon viele Jahre umsetzt. Wir haben die Langzeitkonten schon vor etwa zehn Jahren eingeführt, also lange vor dem Tarifvertrag "Lebensarbeitszeit und Demografie".

BPA: Warum zahlen die Arbeitgeber in der Chemiebranche in einen Demografiefonds ein?

Siebe: Bei den Tarifverhandlungen in der Chemischen Industrie wurde 2008 festgelegt, dass die Arbeitgeber einen Demografiebetrag in Höhe von 300 Euro pro Jahr und Beschäftigten leisten.

Weil wir bei Michelin dieses Langzeitkonto schon hatten, haben wir uns mit unserem Betriebsrat geeinigt, dass wir diesen Betrag für jeden Mitarbeiter künftig hier einstellen.

BPA: Wofür kann man das Guthaben verwenden? Wie kann man es "abheben"?

Siebe: Die Mitarbeiter können frei entscheiden, wofür sie das Guthaben verwenden möchten. Sie können es für ihren Übergang in die Rente einsetzen, für eine Weiterbildung nutzen oder zum Beispiel für eine Freistellung, um Angehörige zu pflegen.

Die Mitarbeiter können individuell entscheiden, wie viel Geld sie während der Freistellung aus diesem Konto abziehen. Das heißt, ob sie die vollständige Entgeltfortzahlung bevorzugen oder nur einen Teil davon. Wer zum Beispiel der Meinung ist, er komme in dieser Zeit mit weniger Geld aus, kann auf diese Weise seine Freistellungsphase verlängern.

Die Nutzungsmöglichkeiten sind also ganz flexibel, deshalb auch der Name FlexiPlus-Konto.

BPA: Was kann auf das Langzeitkonto eingezahlt werden?

Siebe: Es gibt viele Möglichkeiten, das Konto zu füllen, sowohl mit Zeiten als auch mit Geld. Die Mitarbeiter können zum Beispiel sämtliche Zulagen auf das Konto einbringen. Dazu zählen etwa Nachtzuschläge, Schichtzulagen, übertarifliche Entgelte oder das 13. Monatsgehalt. Sie können außerdem die Altersfreistellungen von maximal 3,5 Stunden pro Woche, die ihnen ab 55 Jahren zustehen, oder auch Überstunden einbringen, die durch angeordnete Mehrarbeit entstanden sind. Auch Urlaub ist eine Möglichkeit – allerdings muss der gesetzlich vorgeschriebene Urlaub natürlich genommen werden.

Jeder kann also ganz individuell Guthaben auf dem Konto ansparen, so wie er es für seine private Situation für richtig hält. Zusätzlich gehen jedes Jahr die 300 Euro Demografiebetrag des Arbeitgebers ein.

BPA: Was geschieht mit dem Guthaben, wenn ein Arbeitnehmer kündigt und das Unternehmen oder auch die Branche wechselt?

Siebe: Wenn jemand in einen Betrieb wechselt, in dem es ebenfalls Langzeitkonten gibt, kann er das Konto und das Guthaben einfach mitnehmen. Andernfalls zahlt Michelin das Geld aus.

BPA: Wie sind die FlexiPlus-Konten abgesichert?

Siebe: Die Konten sind gesetzlich insolvenzgeschützt. Die Mitarbeiter haben dadurch die Garantie, dass ihr Geld nicht verloren geht. Außerdem wird die Geldeinlage mit 1,95 Prozent verzinst.

BPA: Sind Langzeitkonten erst ab einer bestimmten Betriebsgröße möglich?

Siebe: Ich kann nicht für andere Unternehmen sprechen, doch ich könnte mir vorstellen, dass es bei sehr kleinen Unternehmen zum Beispiel aus arbeitsorganisatorischen Gründen schwierig sein könnte, diese Flexibilität einzurichten. Aber schon bei Unternehmen von einer Größe ab 100 oder 200 Mitarbeitern denke ich, dass es möglich sein könnte, mit Langzeitkonten zu arbeiten. Die Freistellungen werden ja geplant, da kann sich das Unternehmen darauf einstellen.

Ich sehe die Schwierigkeit eher darin, dass die Langzeitkonten Aufwand bedeuten und Ressourcen binden, denn sie müssen eingeführt und verwaltet werden. Wir haben rund 4.500 gewerbliche Mitarbeiter bei Michelin in Deutschland und führen für jeden ein Konto. Das ist ein enormer Aufwand. Bei Michelin haben wir dafür ein eigenes EDV-Tool eingerichtet.

Sie benötigen aber auch einen Treuhänder für die Konten, der für Insolvenzschutz und die Kapitalanlage verantwortlich ist. Dafür fallen natürlich Kontoführungsgebühren an. Außerdem wollen die Mitarbeiter ja auch informiert und beraten werden. Das heißt, sie haben entweder Mitarbeiter für diese Aufgabe – Informationen erstellen, publizieren, Gespräche führen und so weiter - oder Sie beauftragen die Kommunikation extern. Gerade für kleine Unternehmen ist das ein Kostenfaktor.

BPA: Wie geht es mit dem Demografiefonds weiter?

Siebe: Der Demografie-Tarifvertrag läuft  noch bis 2015. In der letzten Tarifrunde 2012 wurde ein zusätzlicher Demografiebetrag von 200 Euro pro Mitarbeiter vereinbart. Während der Demografiefonds I in Höhe von 300 Euro jedem Beschäftigten individuell zukommt, geht der Demografiefonds II in einen Betriebstopf ein, der gezielt für demografische Maßnahmen eingesetzt werden soll. Wie genau das dann jeweils aussieht, das handeln die Betriebe individuell mit ihren Betriebsräten aus.

Unser Ziel mit dem FlexiPlus-Konto ist auf jeden Fall, das Arbeitsumfeld so zu organisieren und individuell anzupassen, dass es auch älteren Mitarbeitern möglich ist, lange im Betrieb zu bleiben. Denn vor allem sie sind Know-how-Träger und haben viel Erfahrung. So sorgen sie für die nötige Kontinuität und damit Qualität – und das reicht bis hin zu den Produkten.