Das europäische Werk muss fortgesetzt werden

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Im Wortlaut: Merkel Das europäische Werk muss fortgesetzt werden

In der Passauer Neuen Presse äußert sich Bundeskanzlerin Merkel zur Bedeutung der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine, betont den Wert der Europäischen Union als "ein Raum des Friedens, der Freiheit und der Bürgerrechte" und stellt klar: das Rentenpaket ist "eine Politik der Gerechtigkeit".

  • Interview mit Angela Merkel
  • Passauer Neue Presse
Porträt Bundeskanzlerin Angela Merkel

Merkel: Die EU ist keine Sozialunion.

Foto: Bundesregierung/Bergmann

Das Interview im Wortlaut:

Passauer Neue Presse (PNP): Frau Bundeskanzlerin, die beiden Altkanzler Gerhard Schröder und Helmut Schmidt haben der Europäischen Union Fehler im Umgang mit der Ukraine vorgeworfen. Gibt es aus Ihrer Sicht Grund zur Selbstkritik?

Angela Merkel: Nein, denn wir sollten zum Beispiel nicht vergessen, dass der frühere ukrainische Präsident Janukowitsch mit der EU über Jahre an einem Assoziierungsabkommen verhandelt hat. Als er sich in letzter Minute entschied, das Abkommen nicht zu unterzeichnen, machte er zugleich deutlich, die Verhandlungen fortsetzen zu wollen. Dieser Wille der freien und souveränen Ukraine war und ist für uns der Maßstab und darüber haben wir parallel immer auch mit Russland gesprochen. Ich sehe nicht, dass wir anders hätten handeln sollen. Ganz sicher rechtfertigt keiner unserer Schritte die Verletzungen des Völkerrechts durch Russland.

PNP: Sie haben vor einiger Zeit gesagt, der russische Präsident Wladimir Putin scheine in einer anderen Welt zu leben. Sehen Sie Chancen, ihn in diese unsere Welt zurückzuholen?

Merkel: Es ist offensichtlich, dass Präsident Putin bestimmte Tatsachen, wie die völkerrechtswidrige Annexion der Krim oder das Recht der Ukraine auf Unverletzlichkeit ihres Territoriums, anders sieht als Deutschland und die große Mehrheit der internationalen Gemeinschaft, wie sie in der Abstimmung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Ausdruck kam.

PNP: Helmut Schmidt warnt vor der Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Teilen Sie die Sorge, dass es zu einer Situation kommen könnte, die dann nicht mehr kontrollierbar wäre?

Merkel: Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Krise in der Ukraine militärisch nicht zu lösen ist. Wir verfolgen einen Dreiklang, der erstens praktische und konkrete Hilfe für die Ukraine und ihre Bürger vorsieht, zweitens immer wieder diplomatische Gespräche mit Russland und drittens weitere Sanktionen für den Fall, dass Russland den Weg der Deeskalation in dieser Krise nicht zu unterstützen bereit ist. Wichtig hierbei sind die Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag. Jeder weiß, dass weitere Sanktionen für uns wahrlich kein Selbstzweck sind, denn wir wollen die Krise auf dem Weg des Dialogs beilegen, aber notfalls sind wir auch zu weiteren Sanktionen bereit, wenn sie unvermeidbar sind.

PNP: Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft spricht sich ganz klar gegen Sanktionen aus. Was geben Sie der Industrie mit auf den Weg zum Wirtschaftsforum nach St. Petersburg?

Merkel: Uns ist es wichtig, dass die Vertreter der deutschen Wirtschaft unseren politischen Ansatz zur Lösung in der Ukraine-Krise kennen. Die Wirtschaftsverbände haben ihrerseits deutlich gemacht, dass der gegenwärtige politische Prozess einschließlich der Überlegungen zu Sanktionen Entscheidungen der Politik seien, die sie selbstverständlich akzeptierten. Das versteht sich ja auch von selbst und ist zum Beispiel auch im Falle des Iran so. Die Bundesregierung will über Gespräche Fortschritte erzielen. In dem jetzt begonnenen Prozess der Runden Tische auch in der Ostukraine sehe ich deshalb zum Beispiel eine Möglichkeit, den nötigen nationalen Dialog in der Ukraine voranzubringen.

PNP: Lassen sich unter den derzeitigen Bedingungen überhaupt noch geregelte Wahlen in der Ukraine abhalten, oder wird der Sonntag der Stichtag für Wirtschaftssanktionen?

Merkel: Wir setzen alles daran, dass die Wahlen am 25. Mai stattfinden und dass so viele ukrainische Bürger wie möglich frei und unbedrängt an ihnen teilnehmen können. Wahlbeobachter der OSZE werden im Einsatz sein und den Ablauf der Wahl beurteilen. Ihre Einschätzung wird zu respektieren sein. Wenn wir die Lage in der Ukraine Schritt für Schritt normalisieren wollen, dann ist die Wahl eines neuen Präsidenten ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin. Nun finden am Sonntag auch Europawahlen statt. Gerade im Zuge der Krimkrise war die Bedeutung von Europa besonders sichtbar.

PNP: Macht es Ihnen da Sorge, dass offenbar eine Europa-Müdigkeit herrscht?

Merkel: Eigentlich ist es schön, dass die Friedensgemeinschaft Europa für viele Menschen eine Generation für Selbstverständlichkeit ist. Dennoch werde ich immer wieder darauf hinweisen, dass dieses europäische Werk Generation für Generation fortgesetzt werden muss. Die Bürgerinnen und Bürger können durch die Wahl und ihre Stimme dazu einen Beitrag leisten, dass auch ihre Kinder und Enkel weiter in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können. Gerade die Ukraine-Krise zeigt uns doch überdeutlich, welchen Wert es hat, dass die Europäische Union ein Raum des Friedens, der Freiheit und der Bürgerrechte ist. Eine deutliche Qualitätsverbesserung ist, dass im Prinzip der Kommissionspräsident gewählt wird.

PNP: Es heißt, Sie wollten erst einmal mit der Entscheidung abwarten und sich das Ergebnis genauer anschauen.

Merkel: Das Ergebnis sollte bei jeder Wahl abgewartet werden, bevor Schlüsse gezogen werden. In Europa gehen wir so vor, wie es die europäischen Verträge vorsehen. Das heißt, dass der Rat der Staats- und Regierungschefs im Lichte des Wahlergebnisses dem Europäischen Parlament einen Vorschlag für das Amt des Kommissionspräsidenten macht. Rat und Parlament müssen also eng zusammenarbeiten und werden das auch tun.

PNP: Die Sozialdemokraten plakatieren in diesem Wahlkampf flächendeckend Martin Schulz. Die Konservativen plakatieren flächendeckend Sie, Frau Merkel.

Merkel: Wer sind denn die Konservativen?

PNP: ... die Union ...

Merkel:... wir sind die Christlich Demokratische Union und als solche schon immer liberal, christlich und konservativ, wie es den Wurzeln unserer Partei entspricht.

PNP: ... gut, die CDU plakatiert flächendeckend Frau Merkel

Merkel:... richtig, wie auch unseren nationalen Spitzenkandidaten David McAllister.

PNP: ... und Herrn McAllister, richtig. Ist es heute leichter, einen solchen EU-Wahlkampf mit nationalen Identifikationsfiguren zu führen als mit jemandem, der gar nicht aus Deutschland stammt?

Merkel: Mit unserem europäischen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker machen wir zahlreiche Veranstaltungen, er hat unsere volle Unterstützung.

PNP: Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger würde gerne weiter im Amt bleiben. Kann er sich Hoffnungen machen, auch in Zukunft in Brüssel eine wichtige Rolle zu spielen?

Merkel: Erst finden die Europawahlen statt, dann wird das Ergebnis analysiert und anschließend folgen Personalentscheidungen.

PNP: Die CSU macht Stimmung gegen Sozialmissbrauch durch EU-Zuwanderer und fordert die Streichung von Kindergeld für EU-Saisonarbeiter. Wer betrügt, der fliegt, lautet ein Slogan. Ist das nicht Wasser auf die Mühlen der extremen Parteien?

Merkel: CDU und CSU haben in Wahlkämpfen schon immer ihre eigenen Akzente gesetzt. Ansonsten geht es hier um die Frage, ob es zu Missbrauch bei der Zahlung von Kindergeld oder Hartz IV an EU-Bürger in Deutschland kommt. Das wird zurzeit von einem Staatssekretärsausschuss der Bundesregierung intensiv geprüft. Denn wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten. Die EU ist keine Sozialunion. Zum Kindergeld gibt es Freizügigkeitsregelungen der EU und ein klares Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Danach haben in Deutschland arbeitende EU-Bürger grundsätzlich Anspruch darauf, wenn sie in Deutschland erwerbstätig sind. Wir arbeiten daran, hierbei bestmöglich Missbrauch ausschließen zu können.

PNP: Die Brüsseler Regulierungswut - Stichwort Glühbirne oder Olivenölkännchen - ist vielen Bürgerinnen und Bürgern ein Dorn im Auge. Können Sie das verstehen?

Merkel: Da wo Regelungen an den wahren Problemen unseres Kontinents vorbeigehen, kann ich die Kritik verstehen. Die europäische Politik hat die Sorgen der Bürger und der Staaten ernst zu nehmen und sich auf das zu konzentrieren, was im europäischen Rahmen erfolgreich angegangen werden kann. Es muss nicht jedes Problem in der EU in Brüssel gelöst werden. Wenn ein Problem näher bei den Menschen, in den Ländern oder in den Kommunen gelöst werden kann, dann muss die Entscheidung darüber auch vor Ort getroffen werden.

PNP: Zur Innenpolitik: Union und SPD haben sich über das Rentenpaket verständigt. Ist mit der Regelung eines rollierenden Stichtags eine Frühverrentungswelle bei der Rente mit 63 wirklich ausgeschlossen?

Merkel: Ich bin überzeugt, dass wir damit in der Tat ein gutes Mittel gegen eine mögliche Frühverrentungswelle gefunden haben, die niemand will. Zu beachten ist auch, dass das Alter, ab dem man nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Rente gehen kann, jetzt zwar auf 63 gesenkt wird, dass es dann aber ab dem Jahr 2016 Schritt für Schritt wieder ansteigt. Wenn das allgemeine Renteneintrittsalter 67 Jahre erreicht hat, liegt es wieder bei den jetzt schon geltenden 65 Jahren.

PNP: Arbeitgeber und Wirtschaftsexperten wie die Mitglieder des Sachverständigenrats kritisieren das Rentenpaket und sehen vor allem in den hohen Kosten eine Hypothek für die jüngeren Generationen. Machen Sie Politik zulasten der Jungen?

Merkel: Nein. Unser Rentenpaket ist eine Politik der Gerechtigkeit gegenüber älteren Müttern ebenso wie gegenüber Menschen, die in ihrem Leben besonders lange gearbeitet haben. Außerdem machen wir eine konsequente Haushaltspolitik ohne neue Schulden und ohne Steuererhöhungen, wir investieren weiter Milliardenbeträge in Forschung und Bildung, in Infrastruktur und in den Ausbau der Kinderbetreuung, all das kommt gerade der heute jüngeren Generation besonders zugute.

PNP: Gleich mehrere Unionsabgeordnete drohen damit, am Freitag im Bundestag wegen der Rente mit 63 gegen das Paket zu stimmen. Kann sich die Große Koalition auf Dauer mangelnde Geschlossenheit leisten?

Merkel: Zum Rentenpaket gehören neben der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren auch die Mütterrente, die Erwerbsminderungsrente und das Reha-Budget. Alles findet eine breite Zustimmung.

PNP: Die SPD erfüllt ein Wahlversprechen nach dem anderen. Haben Sie nicht die Sorge, dass der Koalitionspartner am Ende die Lorbeeren der Regierungsarbeit ernten wird?

Merkel: Wir lösen unsere Wahlversprechen ein, die Steuern nicht zu erhöhen, keine neuen Schulden zu machen, in Forschung und Bildung zu investieren, in Europa keine Vergemeinschaftung von Schulden vorzunehmen und vieles mehr. Die Bürger erwarten von uns, dass wir unsere Arbeit machen und die Aufgaben bewältigen, für die sie uns ihr Vertrauen gegeben haben. Deshalb wollen wir die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt befördern, die Energiewende voranbringen und den Anstieg der EEG-Umlage stoppen. Ich bin damit und mit der bisherigen Arbeit der Bundesregierung insgesamt sehr zufrieden.

PNP: Die Energiekonzerne wollen die finanziellen Belastungen für den Abbau der Atommeiler mindern und diese in eine Bundesstiftung übertragen. Müssen die Steuerzahler jetzt auch noch für den Atomausstieg zahlen?

Merkel: Das Thema wird die Regierung und die Energiekonzerne noch lange beschäftigen, aber der Grundsatz ist klar: Die Energieversorgungsunternehmen haben mit gutem Grund Rückstellungen für die Verpflichtung zum Rückbau der Atommeiler und zur Entsorgung des Atommülls gebildet. Wir werden genau darauf achten, dass diese finanziellen Risiken auch von ihnen, den Verantwortlichen, getragen werden.

PNP: Es gibt Wirbel um den geplanten Wahlkampfauftritt des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan vor Landsleuten am Samstag in Köln. Ist die Veranstaltung vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Türkei das richtige Signal?

Merkel: Ministerpräsident Erdogan hat schon häufiger solche Auftritte in Köln und Berlin bestritten. Ich setze darauf, dass er dies am Samstag mit Verantwortungsbewusstsein und Sensibilität macht.

PNP: Am Freitag feiert das politische Berlin 65 Jahre Grundgesetz - ist die Verfassung ein Erfolgsmodell?

Merkel: Ohne jede Einschränkung ja. Unser Grundgesetz hat sich bewährt. Es ist ein demokratischer Glücksfall, das Fundament des freiheitlichsten, sozialsten und wirtschaftlich erfolgreichsten deutschen Staats der Geschichte. Das Grundgesetz hat die richtigen Lehren aus den Schwächen der Weimarer Republik und ihrer damaligen Verfassung gezogen. Junge Demokratien, die sich für unser Grundgesetz interessieren, unterstützen wir gern dabei. Das gilt auch für die Ukraine. Das Grundgesetz bietet ein sehr gutes Beispiel dafür, wie moderner Föderalismus erfolgreich funktionieren kann. Es beweist, dass richtig gestaltete föderale Vielfalt keine Schwäche, sondern eine Stärke der Demokratie ist.

Das Interview führte Andreas Herholz für die

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