"Integration muss aus der Seele kommen"

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Serie Gastarbeiter "Integration muss aus der Seele kommen"

Yilmaz Atalay lebt seit 48 Jahren in Deutschland. Er hat in einer Fabrik gearbeitet, war Sozialarbeiter und leitet heute einen Verein, der türkischstämmige Migranten in Gesundheitsfragen berät. Er ist überzeugt: Integration braucht keinen Zwang, sondern guten Willen auf beiden Seiten – und viele kleine, einfache Schritte, mit denen Menschen aufeinander zu gehen.

4 Min. Lesedauer

Portrait Yilmaz Atalay mit Gymnastikbällen

Yilmaz Atalay mit Gymnastikbällen

Am Karfreitag 1961 steigt Yilmaz in Frankfurt am Main aus dem Zug. Der Getreidehandel der Eltern in der Türkei konnte nicht mehr alle Mitglieder der Familie versorgen, und so hatte sich der 27-Jährige auf den Weg nach Deutschland gemacht. „Auf der Fahrt von Istanbul habe ich etwas Deutsch gelernt: Von eins bis zehn zu zählen, ‚Bitteschön’ und ‚Dankeschön“, erinnert er sich.

Einen Arbeitsvertrag hat er noch nicht, aber junge Türke ist zuversichtlich, „dass man mit Freundlichkeit und Fleiß in Deutschland viel erreichen kann“. Von Frankfurt aus reist Yilmaz weiter zu Verwandten nach Bonn, geht zum Arbeitsamt, und hat Glück: „Die Leute dort waren äußerst hilfsbereit.“ Schon nach einem Tag Suche findet er eine passende Stelle in einer Fliesenfabrik, für 2,25 Mark Stundenlohn – damals ein guter Verdienst.

Schwierige Wohnungssuche

Weitaus schwieriger gestaltet sich die Suche nach einer Unterkunft. In den ersten drei Monaten kommt er in Jugendherbergen unter. „Ich wusste damals nicht einmal, was eine Jugendherberge ist“, gesteht er lachend ein. In den Jugendherbergen darf er immer nur eine Woche bleiben. Yilmaz fühlt sich trotzdem willkommen: „Die jungen Deutschen dort haben mir sehr geholfen, zurechtzukommen.“

Um endlich ein eigenes Zimmer zu finden, wartet er nachts drei Stunden vor einer Zeitungsdruckerei. Ganz früh morgens will er die Wohnungsanzeigen lesen. Yilmaz bewirbt sich für ein Zimmer, das 150 Mark im Monat kosten soll – und macht zum ersten Mal eine schlechte Erfahrung: „50 Mark hatte ich schon angezahlt. Trotzdem haben sie das Zimmer einem Deutschen gegeben, der erst nach mir kam. Die 50 Mark wurden mir aus dem Fenster zurückgeworfen.“

Integration in der Nachbarschaft

Yilmaz nimmt diesen Rückschlag als Ansporn, besser Deutsch zu lernen. Er hat erkannt, dass er mit Händen und Füßen und seinem Schulenglisch auf Dauer nicht weit kommen wird. Im Juli findet er ein Studentenzimmer, belegt einen Deutschkurs und nimmt sein neues Leben in die Hand. Später zieht er in eine Wohngegend, in der fast ausschließlich Deutsche leben. „Für die Integration war das sehr wichtig“, ist Yilmaz überzeugt.

Die Erfahrungen, die der junge Türke in den 1960er Jahren in Deutschland gesammelt hat, nutzt er später, um anderen zu helfen. 1970 hört Yilmaz im Radio, dass die Arbeiterwohlfahrt in Mainz Sozialarbeiter für eine Beratungsstelle sucht. Er bewirbt sich, bekommt die Stelle und berät ab sofort andere Türken, die in Deutschland leben.

1978 macht sich Yilmaz selbstständig, gründet das erste türkische Reisebüro in Mainz. Als er Jahre später an Diabetes erkrankt, muss er das Geschäft wieder verkaufen. Doch auch diese Wendung seines Schicksals nimmt Yilmaz mit Optimismus und Tatkraft an. Er besucht Selbsthilfegruppen für Diabetiker und übersetzt dort für andere Türken.

Soziales Engagement für die Gesundheit

Portrait Yilmaz Atalay

Portrait Yilmaz Atalay

Das Murmeln beim Übersetzen stört die anderen Teilnehmer. „So kam mir die Idee, eine eigene Gruppe zu gründen“, erzählt Yilmaz. 2002 setzt er sie in die Tat um und gründet die erste Diabetiker-Selbsthilfegruppe in türkischer Sprache. Seit 2005 ist Yilmaz Vorsitzender des Vereins „Gesundheitsprävention im Mainz und Umgebung“. Er leitet Informationsveranstaltungen, Selbsthilfegruppen – inzwischen auch zu anderen Themen wie Brustkrebs und Depressionen – und Gesprächskreise, die sich vorwiegend an türkischsprachige Migranten wenden.

Seine Arbeit hat Erfolg. Immer mehr Türken wenden sich mit Fragen zu ganz verschiedenen Krankheiten an den Verein. In die Gesprächskreise lädt Yilmaz regelmäßig türkischsprachige Fachleute, auch Ärzte, ein. „Unser Ziel ist es, rechtzeitig über die Gesundheit aufzuklären. Oft nehmen Migranten die präventiven Angebote nämlich nicht in Anspruch“, erklärt Yilmaz. Sein Verein kooperiert auch mit staatlichen Stellen: „Wir wollen die Verantwortlichen in diesen Stellen für die Situation der Migranten sensibilisieren.“

Aus seiner jahrzehntelagen Beratungsarbeit hat Yilmaz gelernt: „Kleine Arbeiten können viel helfen. Aber vor allem die Sprache ist die Voraussetzung für ein Leben in Deutschland. Vor allem Kinder müssen sprachlich gefördert werden. Dafür müssen die Sprachlehrer gut ausgebildet sein.“

Kleine Gesten helfen

Integration ist für den engagierten Rentner nichts, das man erzwingen kann. „Natürlich existieren Unterschiede zwischen den Mentalitäten. In Europa bemerke ich unsichtbare Mauern zwischen Migranten und Einheimischen“, räumt er ein. „Aber beide Seiten müssen sich bemühen. Ohne Zwang. Gesunde Integration muss aus der Seele kommen.“

Yilmaz ist überzeugt, dass auch die Deutschen mit kleinen Gesten die Integration erleichtern können: „Fremden hilft es, zum Beispiel mit den Nachbarn zu sprechen oder mit Kollegen etwas zu unternehmen. Deutsche sollten Migranten zu ihren Festen, zu Weihnachten oder Ostern, zu sich nach Hause einladen. Nur auf einen Kaffee, das reicht schon. Das hilft, die Mauern einzureißen, da bin ich sicher.“

Heute ist Yilmaz 75 Jahre alt und macht sich hin und wieder auch Gedanken über das Lebensende – für ihn eine Inspiration, auch über Integration nachzudenken: „Migranten sollten wählen dürfen, wie sie bestattet werden möchten. Man sollte Gebäude auf die Friedhöfe bauen, in denen rituelle Totenwaschungen abgehalten werden können.“ Für Yilmaz selbst steht fest: „Ich will in Mainz begraben werden.“ In Deutschland geblieben zu sein, hat er nie bereut.