Ansprache von Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister a.D.,

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Liebe Frau Genscher,
liebe Martina,
Herr Bundespräsident,
Herr Bundestagspräsident,
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Präsident des Bundesrats,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
verehrte Mittrauernde,

Hans-Dietrich Genscher hat seine letzte Reise angetreten. Auf unzähligen Reisen, viele von ihnen habe ich mitgemacht, hat er vielfach den Globus umrundet; von dieser letzten Reise gibt es keine Rückkehr. Ein prall volles Leben ist zu Ende gegangen. 89 Jahre hatte er manch körperliches Problem und auch viele schwierigste Situationen durch seinen eisernen Willen und seine beispiellose Energie gemeistert. Nun war sein Lebenswille und seine Kraft erschöpft.

Wir trauern mit Ihnen, liebe Frau Genscher, mit Ihnen, liebe Martina und der ganzen Familie, mit seinen beiden Enkeltöchtern Henriette und Charlotte, an denen er so voller Stolz hing. Sie alle haben ihren Familienmittelpunkt verloren.

Deutschland verliert einen verdienten, im In- und Ausland hoch angesehenen und dekorierten Staatsmann, der als einer der letzten Politiker den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hat und daran als junger Soldat teilnehmen musste, einen Staatsmann, der viel für sein Vaterland getan hat. Wenige Tage nach dem traurigen Tod von Guido Westerwelle verliert die FDP ihren Ehrenvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, der - geachtet und verehrt - elf Jahre ihr Bundesvorsitzender und bis zu seinem Lebensende ihr engstens verbunden war. Sehr viele werden ihn als guten und verlässlichen Freund vermissen; ich selbst verliere meinen Mentor und Ziehvater, dem ich 46 Jahre lang freundschaftlich eng verbunden war und dem ich viel verdanke.

Ich durfte Hans-Dietrich Genscher auf für ihn ganz wichtigen beruflichen Lebensabschnitten eng begleiten; fünf Jahre im Bundesinnenministerium, vier Jahre im Auswärtigen Amt, bevor ich ihm als Außenminister und Parteivorsitzender nachfolgte. Das waren wahrlich große Schuhe, in die zu treten wahnsinnig schwierig war. Er hat mir dabei sehr geholfen. Dies alles schuf Nähe, Vertrautheit, enge menschliche Verbundenheit, persönlich und auch familiär - das ist bis heute, bis zu seinem Tod so geblieben.

Ich habe die Politik Hans-Dietrich Genschers hautnah erlebt. In 23 ereignisreichen Ministerjahren voll spannender, oft auch dramatischer Entscheidungen wurde aus dem Innen- und Parteipolitiker Genscher ein Akteur der Weltpolitik. Gräfin Marion Dönhoff sagte einmal: Von Bismarck habe man gesagt, er verstehe mit fünf Bällen gleichzeitig zu jonglieren, Genscher bringe es mindestens auf drei: die Ost-West-Problematik, die Europäische Gemeinschaft und die transatlantische Bindung. Das waren neben der bedrückenden aktuellen Flüchtlingsproblematik dann auch die zentralen Themen, die ihn bis in die letzten Tage seines Lebens beschäftigt haben. Als er bei öffentlichen Auftritten zum Schluss schon im Rollstuhl saß, hielt er noch flammende Vorträge zu seinem Europa, verbunden mit dem Wunsch des Neubeginns der Beziehungen zu Russland. Immer wieder wies er auch mir gegenüber darauf hin, es müsse in diesem Kontext ein Szenario gefunden und geschaffen werden, bei dem niemand als Verlierer dastehe. Immer ging es ihm darum, Treue zum Atlantischen Bündnis mit der Öffnung nach Osten zu vereinbaren, Risiken zu vermeiden und Spannungen abzubauen. Noch in den letzten Tagen vor seinem Tod hat er mir seine Sorgen um Europa, um die Beziehungen zu den USA und zu Russland ans Herz gelegt. Das war sozusagen sein Vermächtnis. Und immer bis zum Schluss ging es ihm um die Menschen, um die Menschenrechte, um die Gefolterten, die Verfolgten, die Vertriebenen, die Hungernden und die Leidenden. Genscher war ein Menschenfreund. Ich denke nur an seinen Beitrag zur kürzlichen Freilassung des russischen Oligarchen Chodorkowski und daran, dass er als Innen- und Außenminister 20 Jahre lang - ich habe das selbst erlebt - die Hand über den Weg von 220.000 Rumänien-Deutschen aus der Unfreiheit in die Freiheit gehalten hat.

Er war immer ein Brückenbauer, er war immer ein Mann des Dialogs, der nie aufgab. Er schlug auch in schwierigen Situationen nie die Tür zu. Er war ein Meister des Gesprächs, offen für kritischen Rat; und wo es Gegensätze zu überwinden galt, stellte er zunächst Gemeinsamkeiten heraus, sozusagen als Basis, von der er Fortschritte bei den strittigen Punkten anstrebte. Gerade in der Zeit des Kalten Krieges war natürlich die Dialogfähigkeit in besonderer Weise gefragt. Sie half ihm besonders bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, seinem politischen Meisterstück. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte Hans-Dietrich Genscher immer unbeirrbar an die Wiedervereinigung geglaubt und auch auf sie hingearbeitet. Nach der Wiedervereinigung, die wohl der glücklichste Augenblick seines politischen Lebens war, mussten alle greifbaren Außenministerkollegen mit ihm nach Halle, seiner geliebten Heimatstadt, reisen, auch James Baker, wir haben vorher darüber gesprochen. Stolz zeigte er ihnen die Stätten seiner Jugend, sein Geburtshaus in Reideburg.

Die Wiedervereinigung war ganz stark das Werk Helmut Kohls und Hans-Dietrich Genschers. Über Genschers politischem Gesamtwirken, das Sie, Herr Bundespräsident, gewürdigt haben, könnte das dialogische Prinzip von Martin Buber stehen: ,,Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass, solange man im Dialog steht, nicht geschossen wird.“ Er prägte den Wandel vom Rüsten zum Reden, von der Feindschaft zur Partnerschaft, er lebte sozusagen Kooperation anstelle von Konfrontation; dies war sein Lebensprinzip. Und vor allem als Außenminister handelte er immer nach der Devise: Nur wenn es den anderen Staaten gut geht, kann es auch Deutschland gut gehen.

Bis in die letzten Stunden seines Lebens war er in Gedanken natürlich auch bei seiner FDP, die er über lange Jahre geführt und danach immer noch aufmerksam begleitet und unterstützt hat, wo es nur irgendwie ging. Sein Herzblut galt der Partei. Er lebte mit und in ihr. Erfolg und Misserfolg, Glück und Unglück - das ganze Auf und Ab seiner Partei ließ ihn auch nach seiner aktiven Zeit nie los. Ich habe erlebt, wie sehr ihn die schwierige Zeit der FDP nach der letzten Bundestagswahl getroffen hat, wie er mit Rat und Tat, solange er nur irgendwie konnte, an allen Ecken geholfen hat, und wie er gerade bei den letzten Landtagswahlen noch mitfieberte und unendlich glücklich war über den spürbaren Aufwärtstrend. Christian Lindner, der Parteivorsitzende, stand ihm nahe, er vertraute ihm und setzte auf ihn.

Die FDP hat die deutsche Nachkriegsgeschichte entscheidend mitgeprägt, vor allem die Außenpolitik. Das war Hans-Dietrich Genschers Verdienst, das war sein Werk. Die Partei hat ihm sehr viel zu verdanken. Das bringt die große Zahl der Parteifreunde, die ihm heute bei diesem Staatsakt die letzte Ehre erweisen, stark zum Ausdruck. Der Ratgeber, der Hilfreiche, der Erfahrene im Hintergrund wird der FDP sehr fehlen. Es ist eben nicht jeder ersetzbar.

Ich habe in den langen Jahren unseres intensiven Kontakts insbesondere den Menschen Hans-Dietrich Genscher kennen, schätzen und achten gelernt. Er hat das Leben geliebt, er hat es genossen, hatte immer einen Witz auf den Lippen, war manchmal geradezu lebensgierig. Er liebte und er wollte geliebt werden.

Er war ein besonders treuer, den Menschen zugewandter, mitfühlender Freund und ein - ja! – außerordentlich fordernder, aber sich selber selbst am meisten einsetzender Vorgesetzter, der immer auf Konsens und Sich-Einfühlen in den anderen ausgerichtet war. Der Schlüssel hierfür liegt in seiner schwierigen Jugendzeit mit dem frühen Verlust des Vaters, in seiner ihn ungeheuer prägenden Militärzeit, schon erwähnt vom Herrn Bundespräsidenten, mit 17 Jahren als Pionier noch in der Schlussphase des Krieges eingezogen und der schweren Lungentuberkulose, die er aus dem Krieg mitbrachte, und die ihn monatelang, sehr lange Zeit ans Sanatorium zwang. Entscheidend geprägt haben ihn natürlich auch seine Herkunft, seine ostdeutschen Wurzeln und alles, was er in der früheren DDR erlebt und was ihn dann auch zum Wechsel in die Bundesrepublik bewegt hat. Halle, seine geliebte Heimatstadt, die Halloren hatten quasi Heiligencharakter für ihn. Und wenn Hans-Dietrich Genscher mit seinem geradezu phantastischen Gedächtnis – auch gerade für Einzelheiten – von seinen Erlebnissen in den letzten Kriegstagen der Wenck-Armee und von seinen DDR-Erfahrungen berichtete, habe nicht nur ich fasziniert zugehört. Ja, er hatte vieles zu berichten und er war ein absolut glänzender Erzähler.

Manchmal, auch das muss gesagt werden, konnte Hans-Dietrich Genscher auch hart und konsequent sein, manchmal sogar etwas barsch, aber er hatte nie ein Problem damit, sich zu entschuldigen. Er war sensibel, sensibler als er nach außen erschien und sensibler als er nach außen erscheinen wollte; er kannte seine Stärken, er kannte aber auch seine Schwächen.

Die wichtigste Rolle in seiner Jugend spielte seine treusorgende Mutter, die ihm den Vater ersetzte. Genschers Mutter war, als er Minister wurde, bei vielen Anlässen dabei: sie reiste mit in die USA zu Kissingers Eltern, sie war beim Opernball in Wien an seiner Seite, und immer wenn es ging, hat er sie mit sich mitgenommen. Er hat ihr mit viel Herz ihre Fürsorge zurückgegeben. Wie die Familie überhaupt für ihn das Wichtigste war – seine Tochter Martina mit Familie – vor allem aber Sie, liebe Frau Genscher, wie vom Herrn Bundespräsidenten schon richtigerweise so angesprochen. Sie haben ihn in seinen Ämtern jahrelang durch Dick und Dünn treu begleitet, und haben vor allem – ich habe das selbst miterlebt – in den letzten Wochen und Tagen, als seine Kräfte nachließen, ihm liebevoll und geduldig bis zu seiner letzten Stunde zur Seite gestanden. Sein wahrlich erfülltes Leben, da wiederhole ich, was der Herr Bundespräsident gesagt hat, weil es einfach wiederholt werden muss. Ein wahrlich erfülltes Leben wäre ohne Sie und die Familie nicht denkbar gewesen. Er war sich dessen bewusst; er war sich dessen sehr bewusst, und ich habe bis kurz vor seinem Tod selbst miterlebt, wie dankbar er Ihnen war.

Wir werden Hans-Dietrich Genscher nicht vergessen.