Ansprache von Dr. h.c. Friedrich Schorlemmer, evangelischer Theologe und Publizist,

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Eines ist nur Glück hienieden,
Eins: des Innern stiller Frieden.
Und die schuldbefreite Brust!
Und die Größe ist gefährlich,
Und der Ruhm ein leeres Spiel;
Was er gibt, sind nicht´ge Schatten;
Was er nimmt, es ist so viel!

An dieses Grillparzer-Gedicht hat er sein ganzes Leben lang denken müssen und dies habe ihn vor Hochmut bewahrt und Demut gelehrt. Der Hochfliegende blieb immer ein Geerdeter. Nach seiner schweren Erkrankung wurde ihm jeder Tag ein Geschenk. Ich glaub‘, deswegen war er auch meist so fröhlich. „Ich bin wie ich bin und kann zu mir selbst Ja sagen“, sagte er sich. Der glücklich überlebende Flakhelfer aus Halle hat nie aus dem Auge verloren, dass er alles irgend Mögliche tun müsse für ein Leben in Frieden, in Freiheit und in Einheit.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Exzellenzen, sehr geehrte Trauergäste, vor allem aber liebe Frau Barbara Genscher, liebe Familie, liebe Freunde und Weggefährten!

Wir nehmen Abschied und ich verneige mich in Dankbarkeit vor diesem besonderen Menschen und in Respekt für seine Lebensleistung. Für immer nun vermissend seine warme Stimme, seinen Rat, seinen Humor, seinen Erfahrungsschatz und seine Lebensweisheit. Das Herz ist voll von Trauer über den Verlust und von Gefühlen der Dankbarkeit.

47 Jahre waren Sie miteinander verheiratet. Sie wussten Ihre Privatsphäre zu schützen. Mancher meinte aber, dass Sie der einzige Mensch gewesen seien, auf den er hörte. Sie haben das Kunststück vollbracht, trotz seines Terminkalenders Zeit mit- und füreinander zu finden, Nähe und Austausch. Was Sie füreinander waren, das war und blieb sein „Zuhause“ und deshalb nahm er Sie oft mit „in die weite Welt“. Persönliches Anteilnehmen brauchte er und er brauchte auch Ihre ausgleichende Art, um zu überleben und in der Fremde nicht einsam zu werden. Dieses glückende Aufeinander-Bezogensein – ein Segen, dass Ihnen das unter all den Beanspruchungen gut gelungen ist.

Ich spreche hier, auf seine Bitte hin, als ein freundschaftlich verbundener Sachsen-Anhalter – für den Sachsen-Anhalter, nicht für die Sachsen-Anhalter und für alle 28 Jahre Eingemauerten – dankend, dass für ihn Frieden und Menschenrechte, Einheit und Freiheit keine Floskeln waren.

Protestantische Ernsthaftigkeit von der Saale hatte sich in ihm vereinigt mit katholischer Leichtigkeit vom Rhein. Und ich kann nur sagen: Ich glaube, er war der fröhlichste Hallenser aller Zeiten und er hat es vermocht, indem er alle seine Gäste auch in den Jahren nach der Einheit – ich will nicht sagen schleppte –, aber er brachte sie alle nach Halle, sodass Halle eine weltberühmte Stadt geworden ist. Dann tat er auch praktisch viel dafür, aber das Wichtigste glaube ich war: wo der hinkam, da gab es gute Laune und gute Laune motiviert, etwas zu tun und er half uns auch – er half etwa, die vorhandenen Stiftungen wieder aufzubauen oder in Wittenberg ein Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik zu gründen.

Er konnte entspannen, entfeinden, erspüren, was geht – also auch erspüren, was nicht geht, Schritt für Schritt. Zuversichtlich viele kleine Schritte auf ein großes Ziel zugehen und nie aufgeben. Er hat es vermocht, dem Nötigen das Machbare abzuringen, wissend, wo er wurzelt. Der Wert der Verschwiegenheit ergänzt den Wert der Offenheit. Klug wie die Schlangen sein und ohne Falsch wie die Tauben. Das geht, wenn man Hans-Dietrich Genscher ist. Haltet Frieden mit jedermann, so viel an euch ist. Das heißt doch auch: auf Gegner zugehen. Das braucht Mut, das braucht Geschick, das braucht Ausdauer. Und dass wir Sicherheit in unserer globalisierten Welt nur gemeinsam haben, das spüren wir jetzt alle mehr und mehr.

„Die Welt wird nur stabil“, sagte er, „wenn sie von allen Völkern als gerecht empfunden werden kann und wenn alle erkennen, dass Groß und Klein ebenbürtig sind.“ Das könnten wir eigentlich noch in die Verfassung aufnehmen. Dass der Indikativ aus Artikel eins des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ als unverrückbarer Glaubenssatz eines Demokraten für alle auch zur erlebten Wirklichkeit wird – dafür hat er sich lebenslang engagiert.

„Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen“, schrieb Bonhoeffer auf dem Wege in den „Stationen zur Freiheit“. Dessen Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, haben Sie miteinander so geliebt und in schwerster Stunde auch tröstlich erlebt.

Eine seiner Lebensmaximen ist mir im Ohr: „Man muss nicht immer alles sagen; aber was man sagt, das muss stimmen.“ So konnte er auch auf nicht gestellte Fragen eine Antwort geben. Freilich konnten nicht alle seine Entscheidungen allen gefallen. Er wusste Vertrauen in die friedlichen Absichten Deutschlands bei unseren Nachbarn zu wecken und er war gewissermaßen eine einzige vertrauensbildende Maßnahme und hat nicht nur säen, sondern auch ernten können.

Dieser Frühaufsteher aus Sachsen-Anhalt konnte eine gute Atmosphäre verbreiten; und da ging es dann nicht parteipolitisch, sondern ganz menschlich und sachbezogen zu.

Er war uns im Herbst 1989 ein einzigartiger Mutmacher, als alles noch offen war, als die Grenztore offenstanden. Er rief uns zu: „Die Würde, die Besonnenheit und die Reife, mit der die Menschen in der DDR für ihren Anspruch auf Freiheit eintreten, ehrt die ganze Nation.“ Ja, bei uns im Osten gewann man den Eindruck: Der versteht uns, noch bevor wir ihn gesprochen haben. Und die Einheit stellte er sich als ein wechselseitiges Geben und Nehmen vor. Daran arbeiten wir noch.

Als einen gewinnenden, humor- und anekdotenreichen Menschen haben wir ihn erlebt. Und ein Unterhändler scheint leichter zum Ziel zu kommen, wenn er auch ein Unterhalter ist, also einer, der das „menschlich Allzumenschliche“, die Fronten auflockernd, einzustreuen versteht.

Er hatte eben ein gutes Gespür für den Kairos, also für die besondere Zeitstunde, die man zu ergreifen habe. Seine besondere Sorge bis zuletzt galt Europa und auch zunehmender Entfremdung von Russland. Hätte man der „Charta von Paris“ 1990 entsprochen, sähe es jetzt anders aus in einem Europa mit Russland. Es ist noch nicht zu spät.

Ihm war ein reiches Leben, ein erfolgreiches Leben vergönnt. Sein Leben hat sich vollendet. Die Anliegen dieses Prozesspolitikers sind noch nicht zu Ende gebracht.

Der Name Hans-Dietrich Genscher enthält einen Mehrwert. An uns ist es jetzt, den Steinbrocken des Sysiphos wieder hochzuhieven, und zwar in seinem Sinne als Zuversichtliche, nicht als Verzagte. Wir trauern und wir können ganz getrost sein, hier in dieser Stunde – der Erinnerung, der Würdigung, des Abschieds – mit dem heiteren Mozart und der „Ode an die Freude“. Hans-Dietrich Genscher wir trauern, aber heute ist auch Sonntag. Jubilate!