Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel zum informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am 27. Mai 2014

Thema: Informelles Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union

Sprecher: Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

(Die Ausführungen des fremdsprachlichen Teils erfolgten anhand der Simultanübersetzung)

STS Seibert: Guten Abend, meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin berichtet Ihnen jetzt über diesen informellen Rat der Staats- und Regierungschefs.

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, heute hat der Europäische Rat in einem informellen Rahmen getagt und sich mit dem Ausgang der europäischen Wahlen und mit der Frage befasst, wie es in der Ukraine und unserem Verhältnis zu ihr aussieht.

Zum ersten Thema: Wir haben erst einmal natürlich analysiert, dass der Ausgang der europäischen Wahlen zwar eine große Mehrheit für einen proeuropäischen Kurs gebracht hat, aber in einigen Ländern auch sehr starke Tendenzen der Skepsis. Deshalb müssen wir so war unsere Verpflichtung eine starke Botschaft aussenden, dass wir dieses Europa funktional gestalten, dass wir auf die Fragen eine Antwort geben, die die Menschen interessiert. Deshalb haben wir uns vor allen Dingen damit befasst, wie eigentlich die Arbeit der nächsten fünf Jahre aussehen soll. Wir glauben, dass im Rahmen der Konsultationen mit dem Parlament wichtige Weichen gestellt werden können, um ein Arbeitsprogramm zu entwickeln.

Hier gab es eine große Übereinstimmung, dass es vor allen Dingen darum geht, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze in den Mittelpunkt zu stellen sowie die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion, Fragen wie Energiepolitik, Klimawandel und Energieabhängigkeit und natürlich die Frage der gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik. Dies ist eigentlich von allen Teilnehmern der Diskussion noch einmal bestätigt worden.

Nun haben wir natürlich auch die Aufgabe, das Personaltableau für die kommenden fünf Jahre mitzugestalten. Hier haben wir erst einmal von dem Brief Kenntnis genommen, den die Präsidenten der Gruppen des Europäischen Parlamentes an den Präsidenten des Europäischen Rates geschrieben haben. Wir haben dem Präsidenten des Europäischen Rates heute einen Auftrag gegeben, Konsultationen natürlich unter Berücksichtigung des Lissabonner Vertrags einzuleiten, der auch den Ausgang der Wahlen, das heißt den Sieg der EVP, mit in Betracht zieht.

Herman Van Rompuy wird also solche Konsultationen sowohl zum Inhalt als auch zu den Fragen der Personalverteilung führen. Es ist ja offensichtlich, dass keine der Parteigruppierungen, obwohl die EVP die stärkste Kraft geworden ist und Jean-Claude Juncker unser Spitzenkandidat für den Kommissionspräsidenten ist, eine eigenständige Mehrheit im Europäischen Parlament hat. Deshalb müssen wir sicherlich auch ein breiteres Personaltableau diskutieren, um zu einer Gesamteinigung zu kommen. Für uns als Rat ist wichtig, dies auch inklusive der Inhalte zu führen.

Wir wollen, dass diese Konsultationen durch Herman Van Rompuy, was von dem Europäischen Parlament so vorgeschlagen worden ist, in Absprache mit Jean-Claude Juncker bis zum Rat am 26. und 27. Juni durchgeführt werden, sodass wir, wenn alles gut läuft, in eine Entscheidungssituation sowohl in Richtung des Programms als auch in Richtung des Personaltableaus kommen könnten.

Ich möchte noch einmal angesichts der allgemeinen heutigen öffentlichen Diskussion drei Punkte betonen:

Erstens. Für mich geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Es geht hier um die Arbeitsfähigkeit von Rat, Parlament und Kommission in den nächsten fünf Jahren. In diesen fünf Jahren wird sich entscheiden, welche Rolle Europa zukünftig in der Welt spielt. Werden wir wettbewerbsfähig sein? Werden wir Jobs haben? Werden wir anerkannt sein oder werden wir vor den Herausforderungen der nächsten Jahre nicht bestehen? Deshalb war heute der allgemeine Wille, dass wir bestehen können und dass wir die richtigen Weichenstellungen vornehmen.

Zweitens. Jeder hat seine Verantwortung: das Parlament, aber nach den Verträgen genauso der Europäische Rat. Deshalb ist es wichtig, dass wir miteinander in wirklich kameradschaftliche und nach dem Vertrag gebotene Konsultationen eintreten.

Drittens. Wir haben alle in den letzten Jahren die bittere Erfahrung gemacht, dass die Nichteinhaltung von Verträgen, zum Beispiel des Stabilitäts- und Wachstumspakts, uns an den Rand einer riesigen Katastrophe gebracht hat. Deshalb rate ich uns allen, uns auch an die Lissabonner Verträge im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Personalien zu halten.

Das ist das, was ich zu dem Thema Auswertung der Wahlen und folgende Aufgaben sagen kann.

Dann haben wir uns naturgemäß mit der Frage der Ukraine beschäftigt. Wir begrüßen, dass es zu einer wirklich überzeugenden Wahl eines Präsidenten der Ukraine gekommen ist. Ich habe heute selber mit dem zukünftigen Präsidenten Poroschenko telefoniert. Wir wollen natürlich sehr enge Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine und helfen, was die wirtschaftliche Entwicklung anbelangt.

Wir erwarten auch von Russland, dass hier die nötigen Schritte getroffen werden. Es gab ermutigende Signale bezüglich der Respektierung der Wahl, der Rolle der OSZE. Wir hoffen, dass es bald zu Kontakten zwischen dem neu gewählten Präsidenten und dem russischen Präsidenten kommt.

Wir haben noch einmal betont, dass immer wieder unsere Position ist, dass, falls es weiter zu Destabilisierungsaktionen Russlands kommt, weitere Sanktionen nicht ausgeschlossen sind. Deshalb haben wir uns hier noch einmal auf unsere Beschlüsse im Mai und im März bei den jeweiligen Europäischen Räten bezogen. Im März hatten wir ja deutlich gesagt: Wenn es zu weiteren Destabilisierungen kommt, müssen weitere Wirtschaftssanktionen in Betracht gezogen werden. Wir sehen im Augenblick nicht die Notwendigkeit. Aber angesichts der Zustände in der östlichen Ukraine ist auch nicht ausgeschlossen, dass wir wieder auf unsere Beschlüsse vom 21. März zurückkommen müssen.

Das ist das, was ich Ihnen heute Abend sagen wollte.

Frage: Frau Merkel, Sie haben in Stichworten das Programm für die nächsten Jahre beschrieben und haben gesagt, dass es um große Weichenstellungen für den Platz Europas in der Welt geht. Ähnlich hat sich beim Hereingehen auch der britische Premierminister David Cameron geäußert, der gesagt hat, es bedürfe einer grundlegenden Reform der EU und an der Spitze der Organisation müssten Personen stehen, die dies verstanden hätten und keine Leute der Vergangenheit. Meine Frage an Sie ist: Halten Sie Jean-Claude Juncker für jemanden, der diese Veränderungen einleiten, der diese Veränderungen mitgestalten kann? Sind Sie guten Mutes, Ihren Kollegen Cameron auch davon zu überzeugen?

BK’in Merkel: Ich habe jetzt für mich gesprochen, und ich glaube, dass das die Aufgaben sind. Das sind im Übrigen auch Aufgaben, die wir schon früher definiert haben. Ich bin Mitglied der Europäischen Volkspartei. Wir haben Jean-Claude Juncker für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert. Die ganze Agenda kann von ihm, aber auch von vielen anderen durchgesetzt werden; daran habe ich gar keinen Zweifel. Trotzdem müssen wir jetzt die notwendigen Konsultationen führen. Das wird mit jedem Einzelnen passieren. Herman Van Rompuy hat von uns den Auftrag bekommen, das sowohl mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu tun als auch unter Berücksichtigung des Briefes der Parlamentspräsidenten des jetzigen Europäischen Parlaments dann mit dem neuen Parlament weiterzuführen und natürlich auch mit Jean-Claude Juncker.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie sprachen von kameradschaftlichen Konsultationen, die Sie mit dem Europäischen Parlament führen wollen. Sie sagten, es führe zu Katastrophen, wenn Verträge nicht eingehalten würden.

BK’in Merkel: „An den Rand einer Katastrophe“ hatte ich gesagt.

Zusatzfrage: Geben Sie uns doch eine Idee, was Sie befürchten, was nicht eingehalten werden könnte, sodass es zu einer solchen Katastrophe käme.

Der zweite Punkt: Unterstützen Sie persönlich Jean-Claude Juncker?

BK’in Merkel: Ich habe es ja eben gesagt. Ich glaube, was Jean-Claude Juncker anbelangt, muss ich nichts hinzufügen.

Zweitens. Ich glaube schon, dass man noch einmal auf den Wortlaut des Lissabonner Vertrags schauen sollte. Da heißt es sinngemäß: Im Lichte des Ausgangs der europäischen Wahl macht der Rat dem Europäischen Parlament einen Vorschlag, und das Europäische Parlament wählt mit Mehrheit. So lautet der Vertrag. Ich habe nur gesagt, dass man ihn einfach noch einmal im Auge behalten und berücksichtigen sollte.

Zusatzfrage: Ist es dann so ähnlich, wie Sie es vor acht Wochen schon einmal gesagt haben, dass nicht zwingend der Wahlsieger sozusagen Kommissionspräsident werden muss?

BK’in Merkel: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass wir seitens des Rates in uns eine Aufgabe verspüren. Diese Aufgabe heißt, einen Vorschlag zu machen, der zum Schluss auch vom Europäischen Parlament akzeptiert werden kann. Beim Lesen des Vertrags finden wir, dass wir diese Aufgabe haben. Ich habe noch keinen gefunden, der mir sagen kann, dass ich sie nicht habe. Das sollte man einfach einmal in Betracht ziehen.

Ich sage noch einmal: Als Mitglied der Europäischen Volkspartei habe ich Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission unterstützt. Das habe ich nach dem Wahltag nicht vergessen; trotzdem bin ich an die europäischen Verträge gebunden.

Frage: Finden Sie, dass es jetzt noch vertretbar ist, den Parlamenten einen Kandidaten vorzuschlagen, der nicht ein Spitzenkandidat war?

BK’in Merkel: Mit dieser Frage haben wir uns heute Abend überhaupt nicht befasst, sondern wir haben Herman Van Rompuy gebeten, mit jedem einzelnen Mitgliedstaat zu sprechen, anschließend mit den gewählten Vertretern des neuen Europäischen Parlaments und auch mit Jean-Claude Juncker zu sprechen es sind Konsultationen über Inhalte und Personen; das gehört für uns zusammen und uns dann beim nächsten Europäischen Rat zu berichten. Bevor ich den Bericht nicht bekommen habe, kann ich Ihre Frage nicht beantworten.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich muss doch noch einmal nachfragen. Sie verweisen immer auf die Vertragslage. Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie sich, wie fast alle anderen Mitglieder des Europäischen Rates, an der Nominierung des Spitzenkandidaten beteiligt. Dies ist ein politisches Versprechen. Sind Sie notfalls bereit, dieses Versprechen zu brechen, indem Sie dann irgendwann einen Dritten vorschlagen? Können Sie sich vorstellen, dass eine Partei mit einem Kanzlerkandidaten in den Bundestagswahlkampf geht und nach der Wahl wie „Kai aus der Kiste“ plötzlich einen anderen hervorzieht?

Wenn ich eine zweite Frage stellen darf: Ich würde gerne wissen, welche Verhandlungsvollmacht Herr Van Rompuy eigentlich hat. Welche Prokura hat er? Darf er zum Beispiel personale Angebote an die Sozialisten oder an die Liberalen im Europäischen Parlament machen?

BK’in Merkel: Er hat einen Konsultationsauftrag, um das ganz klarzumachen. Ich glaube, Herr Krause, dass es noch nie in der Geschichte eine Situation gab, in der es irgendwie eine Notwendigkeit gab, wegen eines parteipolitischen Versprechens einen Vertrag zu brechen.

Zuruf: (akustisch unverständlich; ohne Mikrofon)

BK’in Merkel: Ich war mit meiner Antwort noch gar nicht zu Ende.

Ich wollte lediglich sagen: Die Parteien haben Vorschläge gemacht. Ich habe hier schon zweimal gesagt ich sage es gerne ein drittes Mal , dass ich zugestimmt habe, dass Jean-Claude Juncker der Kandidat der Europäischen Volkspartei ist. Wenn wir einmal die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland betrachten, hat es schon Situationen gegeben, wo zum Beispiel Menschen zu Kanzlern gewählt wurden, die nicht Vertreter der Mehrheitsfraktionen waren, weil sie andere Mehrheiten gefunden haben. Dann kann man fragen: Wird es das im Europäischen Parlament geben? Das ist eher unwahrscheinlich.

Es gibt aber die zweite Ebene, dass der Rat das gibt es in Deutschland zum Beispiel bei der Wahl eines Kanzlers nicht , eine qualifizierte Mehrheit finden muss, um einen Vorschlag zu machen, den zum Schluss auch das Parlament akzeptieren muss.

Ich verstehe nicht, wie man zwei Tage nach der Wahl einfach erklären kann, dass es da überhaupt keine Diskussionen mehr gibt. Man muss doch einmal die Verträge nehmen, wie sie sind. Dass die politischen Parteien ihre Willenskundgebungen abgegeben haben und dass ich Mitglied der Europäischen Volkspartei bin und damit eine Willenskundgebung für Jean-Claude Juncker abgegeben habe, ist das eine. Das andere ist, dass wir Kollegen haben, die überhaupt keiner Partei verbunden sind, weder der EVP noch den Sozialisten. Die müssen doch jetzt nicht eine Willenskundgebung abgeben. Wir entscheiden zum Beispiel über Prozeduren und, wie heute Abend, über Mandate, und zwar einstimmig und nicht mit einer Mehrheit.

Das heißt, es ist doch ganz normal, dass wir jetzt erst einmal unserem Präsidenten einstimmig ein Mandat geben, mit den Parlamentsfraktionen zu konsultieren ich würde sagen, vorzugsweise mit den gewählten Vertretern des neuen Parlaments; es ist in Deutschland ja auch eher normal, dass man nicht mit dem alten, sondern mit dem neuen Bundestag spricht und dass er sich zweitens mit den Mitgliedstaaten konsultiert. Die sitzen in Koalitionsregierungen. Es gibt Koalitionsregierungen, in denen Teile der EVP, Teile der Sozialisten und Teile vertreten sind, die überhaupt keiner der Parteifamilien angehören. Dass man am Tag zwei einen Druck entfaltet schwarz oder weiß, Ja oder Nein , entspricht doch nicht den Verträgen.

Um das auch noch einmal klar zu sagen: Mein Ziel ist, dass wir vor der Sommerpause Klarheit über die europäischen Personalien haben. Dass daran mehr hängt, hat man doch heute auch schon überall gehört. Es ist doch nicht nur die Frage „Wer ist der Spitzenkandidat?“, sondern diejenigen, mit denen wir zusammenarbeiten nach Maßgabe der Realitäten mit der sozialistischen Fraktion , haben auch ihre Vorstellungen. Es muss doch einer konsultieren.

Zusatzfrage: Ich habe immer noch nicht verstanden, wieso es einen Bruch der Verträge wäre, wenn Sie und Ihre Kollegen sich an Ihr politisches Versprechen halten würden.

BK’in Merkel: Ich habe doch nicht gesagt, dass das ein Bruch der Verträge ist. Ich habe nur gesagt, dass der Rat unterschiedliche Stimmen hat und wir einstimmig über das Prozedere entscheiden. Deshalb haben wir heute Abend Herman Van Rompuy ein Konsultationsmandat gegeben. Außerdem gibt es nicht nur die Personalentscheidung des Kommissionspräsidenten, sondern, wie man heute auch gehört hat, viele andere Personalentscheidungen plus für uns als Rat einstimmig 28; wichtig! eine programmatische Entscheidung. Wir haben gebeten, dass programmatische Entscheidungen plus Personalentscheidungen von unserem Präsidenten, der ja extra hauptamtlich gewählt wurde, um die Stimme von uns 28 zu sein, mit dem Parlament durchgeführt werden. Ich kann nicht finden, dass das ein Bruch der Abmachungen der Institutionen untereinander ist.

Zuruf: (akustisch unverständlich; ohne Mikrofon)

BK’in Merkel: Nein! Herr Krause, ich glaube, dass wir jetzt wirklich miteinander sorgsam umgehen sollten. Ich habe gesagt: Wenn man aus den Entscheidungen einer Parteienfamilien einen Automatismus ableiten würde, wäre das aus meiner Sicht eine Möglichkeit, dass man sich nicht konsequent an die Verträge hält. Ich sage: Wir haben heute als Rat unserem Präsidenten ein Mandat im Lichte des Briefes der Präsidenten des Europäischen Parlaments gegeben, Konsultationen mit uns als Mitgliedstaaten plus mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments unter Berücksichtigung deren Meinung durchzuführen, dass Jean-Claude Juncker der Gewinner aus der Wahl ist, was im Übrigen im Rat keiner infrage gestellt hat. So. Daran sollte man sich halten und an nichts weiter.

Frage: Habe ich das richtig verstanden könnten sie das noch einmal ein bisschen erläutern , dass Sie heute gar nicht über Personen und Namen gesprochen haben? Falls doch, können Sie uns eine Vorstellung davon geben, in welche Richtung diese Diskussion gelaufen ist?

Die zweite Frage: Sie hatten selber erwähnt, dass der Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit gefasst wird. Wie wichtig wäre es aus Ihrer Sicht, dass man vielleicht sogar einen Konsens herstellen kann? Ich denke zum Beispiel an die britische Position. Herr Cameron ist ja der Meinung, dass weder Herr Juncker noch Herr Schulz geeignete Kandidaten sind. Sollte man versuchen, einen Konsens hinzubekommen oder muss man am Ende womöglich die Briten überstimmen?

BK’in Merkel: Das kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Ich glaube, dass man dazu die Konsultationen sowohl von Herman Van Rompuy als auch unsere bilateralen Konsultationen abwarten muss. Es ist ja ein Unterschied, ob ein Land einen Einwand hat oder ob mehrere Länder einen Einwand haben, ob man eine knappe Mehrheit hat oder nicht. Ich habe heute Abend im Rat gesagt, dass für mich die Arbeitsfähigkeit des Rates auch in Zukunft eine wichtige Kategorie ist. Wir sind die bestellten nationalen Repräsentanten unserer Länder. Wir müssen dafür sorgen, dass wir in diesem Rat wirklich gut miteinander zusammenarbeiten können. Wenn ich mir die letzten fünf Jahre vor Augen führe, welche schwierigen Entscheidungen wir zum Beispiel um den Euro treffen mussten und wie auch Nicht-Euro-Mitglieder zum Teil an diesen Beratungen teilgenommen haben, dann kann ich nur sagen: Die Arbeitsfähigkeit ist etwas Wichtiges. Trotzdem ist auch die Mehrheitsbildung bei der europäischen Wahl etwas Wichtiges.

Zu Ihrer ersten Frage: Es ist natürlich heute Abend gesagt worden das habe ich ja jetzt auch schon mehrfach gesagt , dass die EVP gewonnen hat das ist unbestritten einvernehmlich erklärt , dass der Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei Jean-Claude Juncker ist und dass er nicht der Spitzenkandidat für irgendwas war, sondern für das Amt des Kommissionspräsidenten. Das ist von allen, die sich überhaupt zu einem Namen geäußert haben, auch so gesehen worden. Trotzdem ist von einigen auch darauf hingewiesen worden, dass man die Kombination mit dem Programm sieht, dass man die Kombination mit den Konstellationen anderer Personalien sieht. Da sind wenige andere Namen gefallen. Es sind zwei Bemerkungen gefallen, dass natürlich die Sozialisten einen Spitzenkandidaten hatten Martin Schulz und dass die Frage der Genderkonformität oder des Geschlechterausgleichs eine Rolle spielen könnte.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, mehrere Ihrer Kollegen haben beim Hereinkommen gesagt, dass dieses Wahlergebnis ein Signal des Aufbruchs zur Erneuerung Europas sein muss. Frau Grybauskaité hat gesagt, die Wähler hätten sich eindeutig für einen Wandel oder eine Erneuerung Europas ausgesprochen. Sehen Sie das genauso? Wenn ja, in welche Richtung müsste diese Erneuerung Europas in den nächsten Jahren gehen? Sie haben ja selbst gesagt, wie wichtig diese nächsten fünf Jahre werden.

BK’in Merkel: Weil ich es schon selbst gesagt habe, kann ich das jetzt wiederholen. Ich glaube, dass sich in Deutschland die Mehrzahl der Wähler gemessen an anderen Ländern sehr eindeutig für Europa ausgesprochen hat, aber dass die Wählerinnen und Wähler in Deutschland erwarten, dass wir ihre Probleme lösen. Dazu gehören Arbeitsplätze, dazu gehört Wettbewerbsfähigkeit, dazu gehört ein Stück von Vertrauen in Europa und seine Regelungen. Ich habe heute Abend noch einmal darauf hingewiesen, dass sich in den nächsten fünf Jahren die Frage stellen wird, wie wichtig wir sind. Wir können zum Beispiel sehr viele Fragen über Google stellen; das ist im Sinne des Kartellrechts auch wichtig. Aber eigentlich wollen die Bürgerinnen und Bürger, dass wir ein eigenes Google haben. Sie wollen, dass wir ein eigenes Apple haben, sie wollen, dass wir ein eigenes Microsoft, ein eigenes IBM haben. Sie fragen uns: Was habt ihr denn? Damit müssten wir uns einmal befassen.

Bei Airbus und Boeing haben wir gesehen, dass wir, wenn es einen Wettbewerb zwischen einem europäischen Anbieter und einem amerikanischen Anbieter gibt, eigentlich eine sehr gute Situation haben, in der wir auch die Standards mitbestimmen können. Ich glaube, dass es geht darum geht, ob die Europäische Union ein aktiver Posten in der Weltwirtschaft sein kann.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, es gibt ja in Berlin eine Große Koalition. Auf europäischer Ebene wird auch eine Große Koalition angestrebt. Keiner hat ohne den anderen eine Mehrheit. Ist es nicht auch eine charmante Idee, dass Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident und Martin Schulz der Stellvertreter sein könnte?

BK’in Merkel: Jedem sind jetzt alle Möglichkeiten der Konstellation erlaubt. Es ist, glaube ich, klar, dass, wenn man weiß, dass man die Sozialisten braucht, auch ein größeres Personaltableau gebraucht wird, als heute nur den Kommissionspräsidenten zu bestimmen. Das ist ja auch einer der Gründe, warum man einen längeren Prozess braucht und heute Abend nicht fertig ist. Wie genau das gemacht wird es gibt verschiedene Positionen, die zu betrachten sind , werden wir besprechen. Darüber ist heute Abend überhaupt nicht geredet worden. Ich habe im Fernsehen vernommen, was da so geredet wird. Aber ich soll Ihnen ja berichten, worüber bei uns geredet wurde und nicht darüber, was ich im Fernsehen gehört habe.

Zuruf: (akustisch unverständlich; ohne Mikrofon)

BK’in Merkel: Wenn wir mit den Sozialisten Verhandlungen führen, und wir haben mehrere Positionen zu besetzen, die sich ziemlich weit erstrecken werden. Man kann ja die formale Variante nehmen und sagen: Der Rat schlägt im Lichte des Ergebnisses der Europawahl einen Kommissionspräsidenten vor. Punkt. Dann sagt man: Keine einzige Gruppe wird alleine eine Idee haben. Also muss man überlegen, mit wem man zusammenarbeiten muss. Dann wollen wir über Inhalte gehen. Es wird wieder die Frage der Personalien geben. Zum Schluss wird ein ziemliches breites Personaltableau auf dem Tisch liegen und man wird überlegen müssen: Wie kann man den Sozialisten entgegenkommen? Wie können wir uns entgegenkommen? Muss man noch anderen entgegenkommen? Das kann ich heute nicht sagen.

Martin Schulz war der Spitzenkandidat der Sozialisten; das ist mir bekannt. Aber er hat erst einmal nicht gewonnen. Er wollte Kommissionspräsident werden und er hat nicht gewonnen. Er hat mir nicht gesagt „Wenn ich nicht gewinne, dann habe ich die und die Erwartung“, sondern wir haben erst einmal gesagt: Wer gewinnt, bekommt den Kommissionspräsidenten. Jetzt müssen wir weitersehen. Ich schließe nichts aus, ich schließe nichts ein. Zwei Tage nach Wahl soll jetzt alles gelöst sein. Ich glaube, das geht ein bisschen zu weit. Wir müssen jetzt erst einmal über Inhalte sprechen.

Frage: Können Sie noch einmal kurz sagen, was genau zu diesem Personaltableau, das Sie jetzt schon mehrmals erwähnt haben, zählen soll? Welche Posten werden sozusagen zum Ausgleich gebracht oder stehen zur Verfügung?

BK’in Merkel: Dafür brauchen wir Herman Van Rompuy. Ich kann ja nicht nur nach den Fernsehnachrichten gehen. Da höre ich, dass Herr Schulz ein Amt bekommen soll. Es kann ja auch sein, dass es der Parlamentspräsident, der Ratspräsident ist. Ich kenne Menschen, die wollen die Eurogruppe noch bedenken. Das weiß ich heute nicht.

Zuruf: Das weiß Herr Van Rompuy heute auch noch nicht?

BK’in Merkel: Er muss konsultieren. Vor der Wahl haben wir nur über den Kommissionspräsidenten gesprochen und über nichts anderes. Das werden Sie bestätigen.

Zuruf: (akustisch unverständlich; ohne Mikrofon)

BK’in Merkel: Ich sage es ja nur. Ich höre ja immer aufmerksam hin. Ich bin doch gar nicht abgeneigt. Ich sage ja nur: Wir müssen reden.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, teilen Sie die Meinung von Herrn Schäuble, dass eine faschistische Partei die Wahlen in Frankreich gewonnen hat?

BK’in Merkel: Der Front National hat in Frankreich die Wahlen gewonnen. Er hat eine Programmatik, die weit entfernt von meiner ist.

Frage: Wie viele Sorgen machen Sie sich, Frau Bundeskanzlerin, angesichts des Sieges des Front National? Wie viele Sorgen machen Sie sich, was den Zustand Frankreichs angeht? Das ist ja immerhin einer der wichtigsten Partner im europäischen Integrationsprozess.

Sie haben von einem Mandat gesprochen, dass der neue Präsident der Kommission haben soll. Es gibt natürlich viele Meinungsverschiedenheiten, was zum Beispiel für Wachstum nötig ist. Herr Cameron und Herr Hollande haben sehr unterschiedliche Meinungen darüber, wie Wachstum erzielt werden kann. Was sollte Europa machen, um als Antwort auf das Wahlergebnis zu reagieren?

BK’in Merkel: Erstens. Frankreich ist definitorisch für die Europäische Union und auch für die Eurozone. Das heißt, wir haben als Deutsche das äußerste Interesse daran, dass Frankreich einen erfolgreichen Weg geht. Ich werde alles, was in meiner Macht steht, tun, damit Frankreich Wachstum und Beschäftigung wieder schaffen kann, denn ansonsten wird die Eurozone auf Dauer nicht stabilisiert sein.

Zweitens. Sie haben recht, dass wir uns alle 28 oder auch die Mitglieder der Eurozone darauf einigen können, dass wir Wachstum brauchen. Aber darüber, wie Wachstum geschaffen wird, gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Ich glaube trotzdem, dass wir zu einer guten Kombination von Strukturmaßnahmen im Arbeitsrecht oder in anderen Bereichen kommen können, dass wir zu einer Solidität der Finanzen und trotzdem zu einer Investitionsfreundlichkeit von Zukunftsinvestitionen kommen können. Das heißt also, es geht im Grunde um Nuancen in einem unbestrittenen Bündel von Maßnahmen, wie wir es auch in den Vereinigten Staaten von Amerika sehen. Es geht um die Wichtung der einzelnen Teile. Über diese Wichtung gibt es sicherlich zum Teil sehr harte Diskussionen unter uns. Aber ich bin ich ganz optimistisch, dass wir, wenn wir uns fragen, was das Programm für die nächsten fünf Jahre ist, zu einer gemeinsamen Haltung kommen.

Es gibt ganz unbestrittene Sachen. Wir sind ja immer in diesen alten Fragen des Arbeitsrechts, des Steuerrechts, vielleicht der Genehmigungen gefangen. Aber es gibt ja heute ganz neue Herausforderungen: Wie können wir unserer digitalen Wirtschaft Möglichkeiten eröffnen? Wie können wir unseren Breitbandausbau voranbringen? Wie muss man das fördern? Welche Wettbewerbsbedingungen braucht man für große Anbieter? All diese Fragen sind eigentlich völlig neu. Da kann man, glaube ich, schneller gemeinsame Positionen finden.

Frage: Ich habe zwei kurze Fragen zur Ukraine, Frau Bundeskanzlerin. Die gestrigen Angriffe auf den Flughafen Donezk zeigen eine Eskalation. Es gibt keine Garantie, dass Putin nicht mehr seinen Einfluss auf die Ostukraine ausüben wird. Warum haben Sie analysiert, dass es zurzeit keine Notwendigkeit für weitere Eskalationen gibt? Ist das das Ende der Krise in der Ukraine?

BK’in Merkel: Die zweite Frage kann ich ganz klar mit einem „Nein“ beantworten. Es gibt natürlich nach wie wir vor eine schwierige Situation. Es gibt ein positives Signal, nämlich die Wahl eines Präsidenten. Wir haben große Aufgaben vor uns: Verfassungsprozess, Parlamentswahlen und Befriedung der Situation in Donezk und Lugansk.

Die Frage, die wir beantworten müssen, ist: Ist Russland Schuld an der Entwicklung bezüglich der Separatisten - Ja oder Nein? Sicherlich hat Russland dazu beigetragen, dass sich die Separatisten überhaupt so entwickeln konnten. Aber ob Russland heute noch Einfluss auf alle Separatisten hat, weiß ich nicht. Insofern müssen wir möglichst mit Russland zu einem Weg kommen, in dem Russland zum Beispiel die Grenze zwischen Russland und der Ukraine besser schützt, dass kein Nachschub für die Separatisten kommen kann. Dadurch würde dann klar werden, dass Russland auch der Meinung ist: Die Separatisten mit ihren gewalttätigen Methoden haben keine Chance, sich dort weiter auszubreiten. Danke schön!

STS Seibert: Ich danke Ihnen!