Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung)

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, ich freue mich, heute den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu Gast zu haben. Wir haben eine intensive Diskussion über verschiedene politische Aspekte geführt. Dabei gab es gemeinsame Sichtweisen, aber es gab, wie nicht anders zu erwarten, auch unterschiedliche Sichtweisen.

Wenn ich mit den bilateralen Beziehungen beginne, dann muss ich sagen, dass wir einen exzellenten und stetig wachsenden wirtschaftlichen Austausch haben. Unsere Wertschöpfungsketten gerade auch im Bereich der Automobilindustrie, aber nicht nur da, sind eng verbunden. Wir kommen auf ein Handelsvolumen von etwa 50 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist viel, auch wenn man die Größe Ungarns in Betracht zieht. Ich denke, dass das sehr, sehr gut ist. Ungarn ist ein sehr attraktiver Investitionsplatz, auch durch seine steuerlichen Regelungen. Aber wir haben auch darüber gesprochen, dass wir im Bereich von Technologie und Forschung jetzt gemeinsam arbeiten wollen, gerade was auch die Veränderungen in der Automobilindustrie anbelangt, also autonomes Fahren, aber auch neue Antriebstechnologien; das ist sehr wichtig.

Nächstes Jahr sehen wir mit Blick auf 1989 auf 30 Jahre zurück. 1989 hat in Ungarn etwas stattgefunden, was Deutschland nie vergessen wird: die Öffnung der Grenze zu Österreich. Das war für uns ein prägendes Erlebnis, natürlich verbunden mit der Tatsache, dass damals ein Weg der Freiheit begann, den wir sonst nicht hätten gehen können, wenn es nicht die Solidarność in Polen, wenn es nicht 1968 und 1953 in Ungarn gegeben hätte - und dann eben diese ungarische Geste, die uns viel bedeutet. Wir haben darüber geredet, wie wir das mit den genannten Ländern gemeinsam begehen können.

Wir haben darüber gesprochen, dass wir Handelsbarrieren abbauen wollen, dass wir protektionistische Wege nicht unterstützen, gerade auch im Blick auf die Fragen des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten von Amerika.

Wir haben natürlich auch über die Migrationsfragen gesprochen. Die Sichtweise darauf ist zwischen Deutschland und Ungarn doch sehr unterschiedlich, etwa in den Aspekten, die sozusagen das Innere des Schengen-Raums anbelangen, über die Verantwortlichkeit der Verteilung und anderes. Wir arbeiten im Bereich von Frontex gut zusammen. Wir arbeiten im Bereich der Entwicklungshilfe gut zusammen. Wir, Ungarn und Deutschland, machen gemeinsam Projekte in Nordafrika, um bei der Fluchtursachenbekämpfung zu helfen. Das soll ausgebaut und weitergeführt werden.

Insofern ist, würde ich sagen, die Unterhaltung wichtig gewesen. Leider sieht der Ministerpräsident die Empfehlungen der Venedig-Kommission, was auch in Richtung Rechtsstaatlichkeit geht, nicht so, wie wir es uns vorstellen würden. Aber hierzu gibt es dann ja auch Kontakte zur Europäischen Kommission.

Alles in allem ein wichtiger Besuch, lieber Viktor. Ich denke, auch bei unterschiedlichen Meinungen ist es wichtig, dass man im Austausch bleibt. Gerade auch, was die Verbindungen zwischen den Menschen unserer Länder anbelangt, gibt es ja intensive Kontakte. Wir haben gerade darüber gesprochen: Viele Touristen sind an den Plattensee zurückgekehrt und sehen Ungarn wieder als eine Destination für den Urlaub, und das ist gut. Ich setze sehr auch auf die menschlichen Kontakte zwischen unseren beiden Ländern.

MP Orbán: Auch ich darf Sie recht herzlich willkommen heißen. Guten Tag! Wir haben ein intensives Gespräch hinter uns. Die Tonlage war freundschaftlich. Wir bedanken uns bei Deutschland sehr für die Zusammenarbeit und für die Freundschaft, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu spüren war und die auch jetzt ungebrochen ist.

30 Jahre sind eine lange Zeit. Auch wir freuen uns, dass es einen Augenblick gab, an dem Deutsche und Ungarn im Interesse ganz Europas, im Interesse einer guten und wichtigen Sache ein Bündnis geschlossen, wir die Teilung Europas beendet und die Wiedervereinigung des Kontinents in die Wege geleitet haben. Es freut uns sehr, dass wir gemeinsame Events haben werden, um uns daran zu erinnern und das heraufzubeschwören.

Was die Wirtschaft anbelangt, so ist sicherlich auch hier in Deutschland bekannt, dass wir eine auf Arbeit basierende Wirtschaft bauen. Das Ziel besteht in der Erreichung der Vollbeschäftigung. Die deutsch-ungarische wirtschaftliche Zusammenarbeit leistet diesbezüglich einen großen Beitrag. Die Investitions- und Handelszahlen der beiden Länder sind phantastisch. Wir haben also die Frage gestellt, was wir tun können, um das fortzusetzen. Wir sehen es so, dass in den Bereichen von Innovation und Technologie eine engere Zusammenarbeit gestaltet werden muss. Wir sind auch übereingekommen, dass in beiden Ländern eine kleine Arbeitsgruppe errichtet wird, in der in den Bereichen von Innovation und Technologie in Zusammenarbeit Vorschläge unterbreitet werden.

Wir haben das Thema der Verteidigung berührt. Ungarn ist unter den Ersten, die eine gemeinsame europäische Armee und eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik vorgeschlagen haben. Wir sind diesbezüglich auch jetzt engagiert. Wir möchten auch eine europäische Rüstungsindustrie sehen. Die Modernisierung der ungarischen Armee stellen wir uns auf dieser europäischen Grundlage vor. Wir möchten diesbezüglich auch mit der Bundesrepublik zusammenarbeiten, worum ich Frau Bundeskanzlerin auch ausdrücklich gebeten habe.

Im Nahen Osten und in Nordafrika gibt es eine Entwicklungszusammenarbeit. Wir unterstützen gemeinsam Gemeinschaften in Not. Wir haben auch beschlossen, diese Zusammenarbeit fortzusetzen.

Ich habe Frau Bundeskanzlerin darüber informiert, dass es ein einziges Land in der nicht deutschsprachigen Welt gibt, in dem ein Kind nach der Geburt vom Kindergarten bis zur Universität auf Deutsch lernen kann, und dieses Land ist Ungarn. Es gibt 400 Grund- und Mittelschulen, die eine Nationalitätenbeschulung bieten. Wir haben 215 Kindergärten. Die einzige deutschsprachige Universität außerhalb des deutschsprachigen Raumes ist in Budapest tätig. Wir schätzen den Beitrag der in Ungarn lebenden deutschen Minderheit zu den Erfolgen Ungarns also sehr. Wir geben ihnen auch alles, was sie benötigen. Ich habe darum gebeten, die Gelegenheit zu nutzen, dass wir in Budapest eine deutschsprachige Universität haben. Von der Größenordnung her sollten wir die Maße wechseln und die Bedeutung und das Gewicht erhöhen. Auch darüber werden wir künftig sprechen.

Natürlich war auch von Migration die Rede. Ich kann Ihnen davon berichten, dass klar geworden ist, was wir auch bislang gewusst haben, dass Frau Bundeskanzlerin und ich, Deutschland und Ungarn, die Welt anders, aus einem anderen Blickwinkel sehen. Da wir einen anderen Blickwinkel haben, sehen wir es auch anders. Dennoch streben wir eine enge Zusammenarbeit an. Die Meinungsunterschiede können uns also nicht daran hindern, nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu suchen. Ich bin bereit, auch auf diesem Gebiet mit Frau Bundeskanzlerin zusammenzuarbeiten.

Ich habe Frau Bundeskanzlerin versichert, dass die ungarische Südgrenze geschützt ist. Migranten kommen darüber weder nach Ungarn noch nach Österreich oder Deutschland. Diese Grenze wird von uns auch künftig geschützt werden.

Ich habe mich bei Frau Bundeskanzlerin für die Zusammenarbeit bedankt, für das, was ich beim letzten EU-Gipfel wahrgenommen habe. Wir bedanken uns auch sehr dafür, dass die beiden für Ungarn wichtigen Angelegenheiten, Migration und Grenzschutz, auf Rang eins gebracht wurden und dass es zur Hotspot-Errichtung außerhalb von Europa ein gesamteuropäisches Einvernehmen gab, das ohne Frau Bundeskanzlerin nicht hätte zustande kommen können. Das waren alte Bestrebungen Ungarns. Wir freuen uns, dass sich das realisiert hat.

Ich bedanke mich bei Frau Bundeskanzlerin für das heutige Gespräch.

Frage: Guten Tag! Meine Frage geht an Frau Bundeskanzlerin und an Herrn Ministerpräsidenten. Entlang welcher Punkte stellen Sie sich die Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung im Hinblick auf die beiden Länder vor? Ich würde gern die Frage stellen, ob Sie die Möglichkeit einer Aufstellung einer gemeinsamen europäischen Armee ein bisschen detaillieren können? Bis wann kann das konkretisiert werden? - Vielen Dank.

BK’in Merkel: Erst einmal freue ich mich, dass Ungarn, das seine Armee jetzt erneuert, gerade was Ausrüstung und militärisches Material anbelangt, durchaus auf deutsche oder europäische Partnerschaft setzt. Das freut uns erst einmal.

Zweitens haben wir jetzt ja die strukturierte gemeinsame Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union. Wir als Deutsche wollen uns dabei auch einbringen. Wir sind auch dabei, wenn es um eine europäische Interventionsinitiative geht. Wir müssen nur immer beachten, dass wir eine Parlamentsmitbestimmung haben. Wir haben eine Parlamentsarmee. Aber das Parlament, der Deutsche Bundestag, ist durchaus bereit, sehr zügig und verlässlich zu agieren, sodass wir mehr europäische strategische gemeinsame Kultur entwickeln.

Ich würde nicht sofort von einer gemeinsamen Armee sprechen; das steht jetzt nicht auf der Tagesordnung. Aber eine gemeinsame strategische Struktur und ein Ende dessen, was Europa zurzeit auszeichnet, dass die Amerikaner keine 50 Waffensysteme haben, aber wir in Europa 178 und damit natürlich für jedes Gerät eine andere Ausbildung und eine andere Wartung. Wir müssen unsere Plattformen vereinfachen. Dann wird davon ein viel besseres europäisches gemeinschaftliches Signal ausgehen, das im Übrigen nicht gegen die Nato gerichtet sein soll, sondern sie ergänzen und für die Nato auch einfacher zu handhaben sein wird, als wenn wir alle mit unseren Eigenheiten dorthin kommen. Das ist meine Sichtweise, und dabei arbeiten Deutschland und Ungarn eng zusammen.

MP Orbán: Eine gemeinsame europäische Armee - das ist eine philosophische Frage, in die ich jetzt nicht tiefer einsteigen will, obwohl Ungarn das unterstützt. Es geht um zwei konkrete Dinge, über die ich sprechen kann.

Zum einen gibt es ein Nato-Divisionskommando Mitteleuropa in Mitteleuropa noch nicht. Es gibt so etwas im Norden und im Süden. Wir möchten mit deutschem Mentorat ein Nato-Divisionskommando auf dem Gebiet von Ungarn errichten. Wir führen Gespräche mit mehreren Ländern. Das kann künftig Wirklichkeit werden.

Zum anderen geht es um die Zusammenarbeit im Rüstungsbereich. Dabei geht es darum, dass Ungarn eine moderne ungarische Armee aufbauen muss. In der Nato gibt es die Entscheidung, dass die dafür verwendeten Ressourcen in jedem Land erhöht werden. Das tut auch Ungarn. Wir haben diesbezüglich Rahmenverträge mit wesentlichen deutschen Unternehmen unterzeichnet. Diese Beschaffungen sind bereits in Gang gesetzt worden. Bis 2024 wird die Zusammenarbeit zwischen der deutschen Rüstungsindustrie und Ungarn kontinuierlich sein.

Frage: Herr Ministerpräsident, ist Ungarn bereit, Flüchtlinge aus den geplanten Transitzentren zurückzunehmen?

Noch eine zweite Frage, zur Reihenfolge: Warum warten Sie Gespräche zwischen Deutschland und Österreich ab, wollen dann mit Österreich sprechen und erst danach mit Deutschland, wenn es um ein Abkommen geht? Können Sie das erklären?

Die gleichen Fragen an die Kanzlerin: Wäre Deutschland bereit, Migranten nach Ungarn zurückzuschicken trotz den Stopp-Soros-Gesetzen, mit denen ja Menschen, die Migranten helfen wollen, möglicherweise als kriminell eingestuft werden?

Wie beurteilen Sie die Reihenfolge der Gespräche, bis es zu einem Abkommen mit Ungarn kommen könnte?

BK’in Merkel: Was mich anbelangt, kann ich dazu Folgendes sagen: Aus Ungarn kommen sehr, sehr wenige Flüchtlinge, die in Ungarn registriert sind. Wir haben heute sehr ausführlich darüber gesprochen. Ungarn hat die Einstellung, dass sie zwar in Ungarn registriert sind, aber nicht aus Ungarn als Ankunftspunkt im Schengen-Raum kommen, sondern dass das nicht registrierte Flüchtlinge aus anderen Ländern sind, vorrangig aus Griechenland. Deshalb fühlt sich Ungarn für die Bearbeitung der Asylverfahren dieser Flüchtlinge auch gar nicht verantwortlich. Nichtsdestoweniger haben wir gesagt, wir können sprechen. Ungarn - das kann aber, denke ich, der Ministerpräsident selber besser sagen - sagt: Das Nachbarland ist erst einmal Österreich. Dort kommen auch solche Flüchtlinge an. Erst dann kommt Deutschland. - Deshalb möchte man erst mit Österreich und dann mit Deutschland sprechen. Aber insgesamt haben wir das Problem, dass sich Ungarn gar nicht für zuständig im Sinne der Dublin-Verordnung hält, auch wenn es die Registrierung vornimmt.

MP Orbán: Der Standpunkt von Ungarn in Sachen Migration ist seit Jahren unverändert. Diese Meinung pflegen wir auch ehrlich und offen zu sagen. Manchmal sind das Sätze, die streng klingen, aber über ernste Sachen lohnt es sich nur ernst zu reden. Wir sagen das auch immer den Deutschen so, weil wir Freunden Ehrlichkeit und offene Formulierungen schulden, wenn es darum geht, was wir über Migration denken.

Ungarn hat einen Zaun an den Südgrenzen gebaut, um die Kontrolle über das eigene Staatsgebiet wiederzuerlangen. Es ist unmöglich, dass irgendjemand die Einhaltung von Gesetzen umgeht und Ungarn betreten kann. Das haben wir verhindert, und Deutsche können sich dessen sicher sein, dass wir als eine Art Grenzkapitäne nicht nur Ungarn, sondern zugleich auch Deutschland schützen. Dadurch, dass wir niemanden Ungarn betreten lassen, nehmen wir Deutschland eine immense Last von den Schultern.

Die Diskussion, die sich dabei entfaltet, ist rechtlicher Natur. Es ist nämlich so, dass Ungarn nicht der erste Zutrittspunkt ist, wenn es darum geht, EU-Gebiet zu betreten. Der Ersteintrittspunkt ist Griechenland; nach Ungarn kann man nur, wenn man in Griechenland oder in Bulgarien - und die große Masse kommt durch Griechenland - bereits EU-Gebiet betreten hat. Dort kommt es jedoch häufig vor, dass sie nicht registriert werden. Das strategische Ziel Ungarn besteht darin, Europa zu beschützen, auch damit der durch Schengen geschützte Binnenmarkt ungestört funktionieren kann. Es geht also nicht nur um Sicherheit, sondern es geht auch darum, dass der durch Schengen geschützte Binnenmarkt funktionieren muss. Es wäre eigentlich nicht unsere Aufgabe, diejenigen zu registrieren, die an der ungarischen Grenze ankommen, denn sie kommen aus Griechenland. Dort ist das aber unterlassen worden, und wir registrieren sie dann. Wir erkennen aber nicht an, dass Ungarn der erste Punkt wäre, an dem sie EU-Gebiet betreten. Deshalb denken wir, dass die Menschen von Deutschland aus nach Griechenland zurückverbracht werden müssen, und nicht nach Ungarn. Das wird ein langwieriger Rechtsstreit, und wir stehen bereit, das zu diskutieren.

Frage: Frau Merkel, was denken Sie, wie können Deutschland und die vier Visegrád-Vier in Zukunft zusammenarbeiten, zum Beispiel was wirtschaftliche Aspekte betrifft?

BK’in Merkel: Ich will vielleicht noch einmal auf die vorige Frage zurückkommen: Ich glaube, es ist richtig und wichtig, dass Ungarn als Schengen-Außenland die Kontrolle der Außengrenze übernimmt. Das habe ich immer gesagt, und diese Außengrenze muss auch geschützt werden. Sie ist auf dem Wasser weitaus schwieriger zu schützen, als wir das an Land tun können, aber Ungarn ist eben mit Blick auf die serbische Grenze ein Außengrenzstaat. Das Problem, das ich sehe, und der Punkt, in dem der Unterschied ist, ist, dass wir immer daran denken müssen und nicht vergessen dürfen, dass es um Menschen geht. Es geht um Menschen, die zu uns kommen, und das hat etwas zu tun mit Europas Grundaussage, und die heißt: Humanität.

Das heißt, wir machen Außengrenzschutz, aber nicht mit dem Ziel, dass wir uns einfach abschotten und nur noch von Abschottung und sozusagen einer Art Festung sprechen. Meine tiefe Überzeugung ist vielmehr, dass es richtig ist, gegen die Schlepper und Schleuser vorzugehen, weil die natürlich Menschen in Not bringen, weil die Menschen erst einmal durch die Sahara bringen; sie bringen die Menschen im Mittelmeer in Gefahr, sie nehmen denen viel Geld ab. Das ist alles unsäglich, darauf kann man nicht aufbauen. Ich glaube aber - und ich glaube, da liegt der Unterschied -, dass die Seele von Europa Humanität ist, und wenn wir diese Seele erhalten wollen, wenn Europa mit seinen Werten in der Welt eine Rolle spielen will, dann kann sich Europa nicht einfach abkoppeln von der Not und von dem Leiden. Das heißt zum einen Entwicklungshilfe, das muss zum anderen aber auch heißen: legale Kontingente oder aber Studienplätze oder aber Fachkräfte, die wir brauchen und die auch mit unseren Interessen zusammengehen. Das sollte eine neue Partnerschaft mit Afrika sein.

Das ist vielleicht der Unterschied, den wir haben, wo der Ministerpräsident sagt: Das ist nicht meine Sicht. Ich glaube aber, dass das sehr viel mit Europa und seinen Werten zu tun hat.

Zurück zu dem, was wir mit den Visegrád-Staaten machen können. Natürlich müssen wir auch kontroverse Fragen miteinander diskutieren können; denn wir gehören in eine Europäische Union. Immerhin haben wir es jetzt geschafft, gemeinsam einen Beschluss für Migration zustande zu bringen. Da mussten wir von Italien, das viele ankommende Migranten hat, bis hin zu der Sichtweise der Visegrád-Staaten ziemlich weite Wege gehen, und es ist trotzdem gelungen. Wir können aber eben auch im wirtschaftlichen Bereich, im Forschungsbereich zusammenarbeiten, und ich habe ja ein Feld genannt: die großen Umbrüche im Digitalen, die künstliche Intelligenz, das autonome Fahren, die Frage von alternativen Antrieben. Das ist mit Ungarn gut zu machen, das ist mit der Slowakei gut zu machen, die Zulieferer sind, das ist mit Polen gut zu machen, das habe ich in Prag diskutiert. Hier könnten wir sehr viel tun.

Ich will ausdrücklich sagen: Was die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit anbelangt, sind die Mittel, die Europa zur Unterstützung von Ungarn und anderen einsetzt, sehr gut angelegt. Wenn man sich die Wachstumsraten von Ungarn anguckt, dann sieht man, dass die bei vier Prozent oder sogar darüber liegen, wenn man sich die Arbeitslosenraten anguckt, dann sieht man, dass es gibt keine Jugendarbeitslosigkeit. Das heißt, hier sind diese Länder wirklich auf einem sehr guten Niveau, und deshalb können wir da zum Teil sogar etwas lernen, wenn es um Wettbewerbsfähigkeit geht. Was die Einfachheit eines Steuersystems anbelangt, ist Ungarn uns natürlich weit voraus. Insofern sind das Dinge, über die wir uns schon sehr gut austauschen können.

MP Orbán: Ich möchte nur eine Ziffer unterstreichen: Die vier Visegrád-Länder haben mit Deutschland ein Handelsvolumen, das um 50 Prozent höher liegt als das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Frankreich, und das Handelsvolumen zwischen Italien und Deutschland liegt nur bei einem Drittel des Handelsvolumens zwischen Deutschland mit den Visegrád-Staaten. Das zeigt, dass sich vor unseren Augen eine neue Realität entfaltet, und die vier Visegrád-Staaten sind dabei ein wichtiger Player. Ich bin der Überzeugung, dass hinsichtlich der europäischen Entwicklung, der europäischen Lokomotive die Zusammenarbeit irgendwo zwischen Deutschland und den vier Visegrád-Staaten liegen muss; das ist die wichtigste Zusammenarbeit.

Ich möchte auch noch einmal auf die Frage des Humanitären zurückkommen. Die Frau Bundeskanzlerin hat das Dilemma exakt skizziert, und die Frage ist: Wie können wir human helfen? Das beantworten wir abweichend. Wir denken, dass man human hilft, indem kein „pull factor“ zum Tragen kommt. Das heißt, wenn die Unterstützung der Migranten durch die Europäer die Schlussfolgerung in Asien und Afrika zur Folge hat, dass man kommen kann, dann wird man kommen. Wenn wir also human sind, dann müssen wir ohne „pull factor“ human sein, und dafür kennen wir eine einzige Lösung: Die Grenzen schließen und die Hilfe dorthin verbringen, und diejenigen nicht reinlassen, die das Übel mitbringen; wir wollen keine Probleme importieren. Das ist die unterschiedliche Betrachtungsweise zwischen uns, aber dieser wesentliche Meinungsunterschied hindert uns nicht daran, zu versuchen, auch in dieser sehr schweren und komplizierten Frage eine Zusammenarbeit zu versuchen.

Frage: Herr Ministerpräsident, die deutsche Bundesregierung hat sich beim Thema Asyl substanziell in Ihre Richtung bewegt. Wird Ungarn beim Thema Solidarität jetzt einen Schritt in Richtung Deutschland gehen?

Frau Bundeskanzlerin, gestehen Sie mit dem Asylkompromiss letztlich ein, dass Herr Orbán im Jahr 2015 zumindest formal recht hatte?

Sie haben das Thema Handel angesprochen: Der CDU-Wirtschaftsrat hat sich jetzt auch für eine Null-Zoll-Option auf Autos zwischen der EU und den USA ausgesprochen. Würden Sie das als Lösung des transatlantischen Zollstreits ebenfalls mittragen?

MP Orbán: In handelspolitischen Fragen ja. Am heutigen Tage habe ich mich davon überzeugt, dass zwischen der Bundesregierung und der ungarischen Regierung völliger Einklang in handelspolitischen Fragen besteht. Wir sind beide interessiert an einer Politik der niedrigstmöglichen Zölle, denn wir glauben, wettbewerbsfähig genug zu sein, um auch bei niedrigen Zöllen mit unseren Wirtschaften bestehen zu können.

BK’in Merkel: Was die Fragen der Migration anbelangt, so sehe ich das Jahr 2015 als eine humanitäre Ausnahmesituation. Ich habe oft darüber gesprochen, dass wir miteinander versäumt haben, uns um die Flüchtlingslager in Syrien zu kümmern und uns um die vielen Flüchtlinge in der Türkei zu kümmern. Wir stimmen ja beide überein, wenn es darum geht, dass wir unsere Außengrenzen schützen müssen und dass wir nicht auf illegale Migration setzen können, die durch Schlepper und Schleuser organisiert sind. Das muss um jeden Preis verhindert werden. Deshalb haben wir das das EU-Türkei-Abkommen abgeschlossen, um dann zu sagen - und da kommt jetzt der Unterschied -: Aber wir nehmen auch Flüchtlinge aus der Türkei, die dann auch nach Deutschland oder in andere europäische Länder kommen können; denn wir glauben, dass die Türkei mit uns kein Abkommen hätte, wenn wir dies nicht mit aufgenommen hätten - einerseits Versorgung der Flüchtlinge in Heimatnähe, aber eben auch bestimmte Gruppen bei uns.

Wenn es um afrikanische Länder geht - wir können ja niemals auf die Illegalität setzen, das können ja Regierungen nicht miteinander machen -, wenn es um Ghana, Nigeria oder andere Länder geht, dann geht es darum, ihnen zu helfen - da sind wir wieder einer Meinung -, aber ich glaube, es geht auch darum, dass diese Hilfe einschließt, dass wir ihnen zum Beispiel Studienplätze bei uns anbieten oder dass wir Arbeitsmöglichkeiten für eine bestimmte Zeit anbieten. Ich glaube, da liegt der Unterschied, und ich glaube, wir kommen in einem afrikanischen Land doch nur dann zu diesen Hotspots - wie Viktor Orbán das genannt hat -, wenn wir mit dem Land auch sprechen und das Land auch für sich sagen kann, was es will. Die Afrikanische Union hat jetzt ein Migrationskonzept erarbeitet; das ist neu. Es wird eine Migrationskoordinierungsstelle in Marokko geben, die auch Ansprechpartner seitens der Afrikanischen Union für die Europäische Union sein soll. Das sind Bewegungen aufeinander zu. Die haben aber gleich gesagt: Wenn es keinerlei legale Möglichkeiten gibt, auch nach Europa zu kommen, dann wird die Zusammenarbeit mit Afrika schwer sein. Deshalb müssen wir diesen Punkt im Auge behalten. Wir können aber nicht auf Schlepper und Schleuser setzen, da sind wir uns wiederum einig.

Zum Handel: Da sind wir uns auch einig. Es ist nur so, dass wir eine europäische Einigung haben müssen, wenn wir Zölle zum Beispiel im Autobereich verhandeln wollen, also eine gemeinsame europäische Position. Ob es die gibt - daran wird noch gearbeitet. Die Zollverhandlungen zur Senkung von Zöllen - wozu ich bereit wäre - bedeuten dann, dass wir das nicht nur mit den Vereinigten Staaten von Amerika machen können, sondern das wir das dann mit allen Ländern, mit denen wir sozusagen Automobilhandel haben, machen müssen, weil das ansonsten nicht WTO-konform wäre. Man kann entweder nur über eine ganze Breite von Zöllen für 90 Prozent der Waren verhandeln, oder man kann einzelne Warengruppen herausnehmen; dann muss man aber die Gleichbehandlung aller Handelspartner auf der Welt sicherstellen. Aber das könnte durchaus eine Option sein, die ich mir vorstellen kann. Jean-Claude Juncker wird ja nach Washington fahren. Wir haben hier eine total übereinstimmende Position.

MP Orbán: Wenn Sie gestatten, möchte ich einen Satz über Solidarität sagen; denn das schmerzt uns Ungarn, und wir empfinden es als unfair, dass man uns in Deutschland oft Mangel an Solidarität vorwirft. Ich möchte Ihnen nur die Tatsache mitteilen, dass in Ungarn 24 Stunden täglich 8000 Bewaffnete an der Grenze stehen und die Grenze beschützen, über die die Migranten, wenn sie durchkommen, nach Deutschland kommen. Auch wenn es die Türkei-Vereinbarung gibt: Wenn nicht bewaffnete ungarische Personen die Grenze schützen würden, dann würden täglich 4000 bis 5000 Migranten nach Deutschland kommen. Davor schützen wir Sie, das ist Solidarität - ich denke, eine ernstzunehmende Solidarität.

BK’in Merkel: Jetzt der abschließende Satz zu diesem Thema: Der Außengrenzschutz, den Ungarn leistet, ist anerkannt; das ist überhaupt keine Frage. Die Unterschiede zwischen uns beiden liegen in einem anderen Feld.