Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel zum EU-Gipfel in Brüssel und zum Gipfel der G20-Staaten in Seoul

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Gemeinsam haben wir vor dreieinhalb Wochen den 20. Geburtstag des wiedervereinten Deutschlands gefeiert. Gemeinsam haben wir uns die Kraft der Freiheit in Erinnerung gerufen, die es möglich gemacht hat, dass wir heute mit all unseren Nachbarn in Freundschaft leben. Wir erleben die glücklichste Phase in der deutschen Geschichte. Dafür sind wir unendlich dankbar.

Wir vergessen nie, dass dieses Glück unseres Landes von der Geschichte der Europäischen Union nicht zu trennen ist. In diesem Bewusstsein macht unsere Generation Politik für unser Land und für Europa; denn umgekehrt ist das europäische Einigungswerk ohne deutsche Beteiligung überhaupt nicht vorstellbar. Dessen sollten wir uns nicht nur an Festtagen und Jubiläen bewusst sein, sondern auch im politischen Alltag.

Das heißt konkret: Unser sozialer und wirtschaftlicher Erfolg ist untrennbar mit der europäischen Entwicklung verknüpft. Das macht es notwendig, dass sich alle Mitgliedstaaten gemeinsamen Regeln unterwerfen. Denn das Fehlverhalten Einzelner kann zu Verwerfungen für alle führen; das haben uns die Krisensituation im Frühjahr in Griechenland und die Krise des Euro in erschreckender Weise vor Augen geführt. Diese Krise in Europa war existenziell. Wir haben sie in den Griff bekommen, aber das alleine reicht noch nicht. Ich sage Ihnen deshalb ganz deutlich: Mein Ziel und das Ziel der Bundesregierung insgesamt ist, dass die Währung Europas, der Euro, dauerhaft stabil ist.

Das hat mein Handeln im Frühjahr bestimmt, und das bestimmt unser Handeln heute.

In meiner Regierungserklärung vom 19. Mai habe ich hier gesagt – ich darf das wiederholen –: Wir müssen zweierlei schaffen: die Bewältigung der akuten Krisensituation zum einen und die Vorsorge für die Zukunft zum anderen.

Heute können wir festhalten: Bei der Bewältigung der aktuellen Krise haben wir einen großen Schritt nach vorne gemacht, gerade auch dank der ehrgeizigen Reformen und Sparmaßnahmen, die Griechenland, aber auch andere Länder ergriffen haben.

Wir haben – wie Sie sich erinnern werden – gegen großen Widerstand aus diesem Haus wie auch aus Europa auf Reformen und Sparmaßnahmen bestanden. Heute weiß nun jeder, dass der Kurs der Regierung der einzig richtige war. Auf speziellen Wunsch nehme ich die Linke aus. Ansonsten weiß es ganz Europa. Aber, bitte schön, wenn Sie nicht dabei sein wollen, können wir das ausdrücklich festhalten.

Ich habe damals gefordert: Wir brauchen eine Stabilitätskultur in ganz Europa. Heute kann ich feststellen: Fast alle EU-Länder haben sich unserem energischen Konsolidierungskurs angeschlossen. Dieser Kurs war und ist unumgänglich und muss unter allen Umständen fortgesetzt werden; denn noch – das ist die Wahrheit – ist nicht ausgemacht, dass Europa wirklich dauerhaft gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Noch ist nicht ausgemacht, dass wir tatsächlich Vorsorge für die Zukunft treffen. Noch stehen weitere entscheidende Schritte aus. Wir müssen diese Schritte unternehmen, und zwar nicht irgendwann, wenn Europa das Wasser wieder bis zum Halse steht, sondern jetzt. Dazu bin ich fest entschlossen.

Der Europäische Rat morgen und übermorgen ist von größter Bedeutung. Wir müssen die richtigen Lehren aus der Krise ziehen, verhindern, dass neue Krisen entstehen, und die Wirtschafts- und Währungsunion langfristig auf ein stabiles Fundament stellen. Deutschland und Frankreich haben auf dem Weg zu diesem Ziel in der vergangenen Woche gemeinsam Führung übernommen. Es ist wahr: Eine deutsch-französische Einigung ist nicht alles in Europa. Aber wahr ist auch: Ohne eine deutsch-französische Einigung wird vieles nichts. Das gilt auch in diesem Fall.

Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass sich Deutschland und Frankreich in einigen entscheidenden Punkten einig sind: erstens darüber, dass wir die Stabilitätsregeln in der Währungsunion verschärfen wollen, um rascher auf unverantwortliches Verhalten einzelner Mitgliedstaaten reagieren zu können, und zweitens darüber, dass wir jetzt Vorsorge für mögliche zukünftige Krisensituationen treffen wollen, um die Stabilität der Euro-Zone langfristig zu sichern.

Zum ersten Schwerpunkt, also zur Verschärfung der haushalts- und wirtschaftspolitischen Überwachung in Europa, um künftige Krisensituationen nach Möglichkeit zu verhindern: Dazu wollen wir morgen im Europäischen Rat den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe unter Vorsitz des Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, annehmen. Deutschland hat die Einsetzung dieser Gruppe im März 2010 durchgesetzt; das waren wir gemeinsam. Deutschland hat durch die exzellente Arbeit von Finanzminister Schäuble die Beratungen mit wichtigen Vorschlägen geprägt, und Deutschland hat dafür gesorgt, dass durch die Einigung mit Frankreich der Weg für einen Konsens in der Gruppe insgesamt möglich wurde. Ich sage ganz klar: Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Schon heute ist sicher: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erhält deutlich mehr Biss, um eine stabilitätsgefährdende Politik einzelner Euro-Staaten zu verhindern.

Ich will drei Beispiele dafür nennen: Erstens. Sanktionen werden künftig früher und schneller verhängt. Sie werden viel früher einsetzen als bisher, und zwar präventiv, bei schweren Fehlentwicklungen schon bevor ein Mitgliedstaat die Defizitgrenze von 3 Prozent verletzt. Das gibt es heute überhaupt nicht. Das ist vollkommen neu. Die Sanktionen werden automatisiert, und zwar sowohl bei dem sogenannten präventiven Arm, von dem ich eben gesprochen habe, als auch beim Defizitverfahren selbst. Das heißt, eine Sanktion kommt, wenn der Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit widerspricht. Damit werden die politischen Hürden für Sanktionen deutlich verkleinert. Nichts anderes versteht auch die Europäische Kommission unter automatischen Sanktionen.

Zweitens. Ab jetzt wird der Schuldenstand eine herausragende Rolle spielen. Bislang mussten Mitgliedstaaten nur auf die Defizitgrenze von 3 Prozent achten. Allein wegen eines Schuldenstandes von mehr als 60 Prozent musste niemand ein Verfahren befürchten. Künftig gilt: Ab einem Schuldenstand von über 60 Prozent wird ein Defizitverfahren eingeleitet, wenn der Mitgliedstaat den Schuldenstand nicht hinreichend abbaut. Das ist ein großer Fortschritt; denn die größten Gefahren für die Stabilität der Euro-Zone gehen von exorbitant hohen Schuldenständen einiger Mitgliedstaaten aus. Ein Defizit unter 3 Prozent ist bei schwachem Wachstum leider keine Garantie dafür, dass der Schuldenstand nicht völlig aus dem Ruder läuft. Genau das wird jetzt geändert.

Drittens werden wir – das ist auch der Ausdruck dessen, dass wir in Zukunft als Wirtschaftsregierung im Rat arbeiten – nicht mehr zusehen, wenn Mitgliedstaaten durch falsche Politik ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit untergraben. Hier wird es künftig Sanktionen geben – das ist ein völlig neuer Ansatz –; denn die Krise hat gezeigt: Durch falsche Wirtschaftspolitik können massive Strukturprobleme entstehen.

Meine Damen und Herren, auf diese Maßnahmen haben sich die Finanzminister und die Europäische Kommission in der Van-Rompuy-Arbeitsgruppe einvernehmlich verständigt. Mit ihnen verschärfen wir die Stabilitätsregeln der Wirtschafts- und Währungsunion. Mit ihnen wollen wir verhindern, dass neue Krisen überhaupt entstehen können. Mit ihnen allein sind wir aber immer noch nicht am Ziel; denn auch mit den schärfsten Stabilitätsregeln können wir noch nicht zu 100 Prozent ausschließen, dass es eines Tages wieder zu einem extremen Krisenfall kommt, der die Stabilität der Euro-Zone insgesamt gefährdet.

Wenn das so ist, dann müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen. In diesem Fall kann es nur eine Konsequenz geben, was mich zu meinem zweiten Schwerpunkt führt: Wir müssen heute Vorsorge zur Bewältigung künftiger Krisensituationen treffen. Dazu brauchen wir – das ist die Überzeugung der Bundesregierung sowie der Koalitionsfraktionen – einen neuen, robusten Krisenbewältigungsrahmen für Notfälle. Nur so können wir die Stabilität der Euro-Zone dauerhaft sichern.

Das kann nicht irgendein Krisenbewältigungsrahmen sein. Ein neues Wort alleine hilft da wenig. Vielmehr muss der neue Krisenbewältigungsrahmen rechtlich unangreifbar sein, das heißt ohne Wenn und Aber, klipp und klar: Gelingen wird das nur mit einer Änderung der europäischen Verträge. Diese Änderung benötigen wir. Wir sind bereits so weit, dass sich Deutschland und Frankreich darin einig sind. Das hätten viele, wenn nicht fast alle von Ihnen noch vor einem halben Jahr für unmöglich gehalten. Wir sind aber so weit. Deutschland und Frankreich sind hierüber einer Meinung. Damit haben wir einen ersten, großen Schritt geschafft. Diesem müssen wir jetzt natürlich den zweiten folgen lassen. Dabei handelt es sich um eine Einigung in ganz Europa über die Notwendigkeit von Vertragsänderungen. Ich mache mir gar keine Illusionen. Das durchzusetzen, wird schwer genug. Deshalb wird es aber noch lange nicht weniger notwendig, und zwar im Sinne des Wortes „not-wendig“.

Warum? Die Antwort liegt auf der Hand. Wir müssen das jetzt anpacken, weil der derzeitige Rettungsschirm, der aus einer unerwarteten Notsituation entstanden ist, nur ein provisorischer ist. Er läuft 2013 aus. Das haben wir auch genau so gewollt und beschlossen. Eine einfache Verlängerung kann und wird es mit Deutschland nicht geben, weil der Rettungsschirm nicht als langfristiges Instrument taugt, weil er Märkten und Mitgliedstaaten falsche Signale sendet und weil er eine gefährliche Erwartungshaltung fördert. Er fördert die Erwartungshaltung, dass Deutschland und andere Mitgliedstaaten und damit auch die Steuerzahler dieser Länder im Krisenfall schon irgendwie einspringen und das Risiko der Anleger übernehmen können.

Das war für die Abwendung der akuten Krise in diesem Jahr unvermeidbar. Mit wirklicher Vorsorgepolitik hat das aber wenig bis gar nichts zu tun. Deshalb müssen wir das ändern. Der jetzige Rettungsschirm darf nicht der Referenzfall für die Zukunft sein. Stattdessen brauchen wir einen Mechanismus, bei dem in einem transparenten, nachvollziehbaren Verfahren auch private Gläubiger beteiligt werden. Diese Forderung ist nicht neu. Wir haben sie bereits im Mai in diesem Hohen Hause gemeinsam erhoben. Damals stand Deutschland in Europa damit noch weitgehend allein. Nach dem Treffen von Deauville unterstützt nun auch Frankreich unser Anliegen.


Lassen Sie mich an dieser Stelle eines ganz klar sagen, damit es hier keine Missverständnisse gibt: Auch künftig kann das Ergreifen geeigneter koordinierter bilateraler Maßnahmen nur Ultima Ratio sein, also letztes Mittel, mit dem die Mitgliedstaaten die Finanzstabilität im Euro-Raum insgesamt sichern. Frankreich und Deutschland fordern noch eine weitere Maßnahme, und zwar im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion die Stimmrechte des betroffenen Mitgliedstaates aussetzen zu können. Auch das ginge nicht ohne eine Änderung der Verträge. Ich weiß, dass eine Aussetzung der Stimmrechte bei vielen unserer europäischen Partner aufgrund der damit verbundenen Kompetenzänderung auf Widerstand stößt. Ich nehme das sehr ernst. Aber ich ergänze: Wer das ablehnt, muss überzeugend darlegen können, dass er bei einer schwerwiegenden Verletzung der Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion nicht allein auf das Prinzip Hoffnung setzt, also darauf, dass sich die Einsicht zur Besserung schon irgendwie durchsetzen wird. Das wäre grob fahrlässig; wir würden uns nur in die Tasche lügen. Das zu vermeiden, sollte unser gemeinsames Ziel sein.

Fassen wir zusammen: Ich werde morgen und übermorgen auf dem Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs darauf drängen, dass Präsident Van Rompuy einen präzisen Auftrag des Europäischen Rates erhält, auf dessen Basis er in enger Abstimmung mit den Mitgliedern des Europäischen Rates Vorschläge für die erforderlichen, eng begrenzten Vertragsänderungen und konkrete Optionen für einen auf Dauer angelegten robusten Krisenbewältigungsrahmen entwickeln und spätestens bis zum März 2011 dem Europäischen Rat vorlegen kann. Ich sage für die Bundesregierung und unser Land unmissverständlich: Für mich sind die Zustimmung zum Bericht der Van-Rompuy-Arbeitsgruppe und ein präziser Auftrag an Herman Van Rompuy nicht voneinander zu trennen. Sie sind ein Paket.

Wir alle wissen: Die Lösung muss bis zum Sommer 2013 rechtlich gültig sein. Das heißt, für die Bewältigung künftiger Krisen sind wir nur dann gewappnet, wenn das der Fall ist. Deshalb sage ich: Obwohl das noch lange hin zu sein scheint, ist nicht viel Zeit, um das alles umzusetzen. Sie alle wissen: Ich war diejenige, die während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 zusammen mit dem damaligen Außenminister Steinmeier den Lissabon -Vertrag auf den Weg gebracht hat. Heute bin ich diejenige, die zusammen mit unserem Außenminister Guido Westerwelle entschieden dafür eintritt, dem schwierigen Weg einer Vertragsänderung nicht auszuweichen, sondern ihn mutig und entschlossen zu gehen.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Europas den Nachweis erbringen, dass sie aus der Krise die richtigen und notwendigen Lehren gezogen haben.

Nur weil sich viele vor dem natürlich beschwerlichen Weg der Vertragsänderung fürchten, ist das noch lange kein Argument gegen diesen Weg. Ich bin überzeugt: Nur auf diesem Weg erreichen wir eine zweifelsfreie demokratische Legitimation für einen auf Dauer angelegten Krisenbewältigungsrahmen. Das ist das Ziel der Bundesregierung.

Ich stehe dafür ein, dass Deutschland eine führende Rolle dabei spielt, die gute Zukunft der Europäischen Union zu sichern. Wir werden dafür nicht immer sofort Beifall bekommen – das haben wir im Frühjahr erlebt –, aber am Ende kommt es nicht auf den schnellen Beifall an, sondern darauf, eine Mehrheit für unsere richtigen Vorschläge zu gewinnen, von deren Bedeutung für eine gute Zukunft Europas wir überzeugt sind. Daran arbeiten wir, und dafür bitte ich um Unterstützung.

Der Europäische Rat morgen und übermorgen wird sich auch mit dem kommenden G-20-Gipfel am 11. und 12. November dieses Jahres in Seoul befassen. Die Errichtung einer stabilen Finanzmarktarchitektur wird eines der zentralen Themen des G-20-Gipfels sein. Hier darf ich einen Satz wiederholen, den ich im März 2009 inmitten der um sich greifenden Krise im Vorfeld des G-20-Gipfels in London gesagt habe: … Kooperation statt Abschottung. Das ist der einzige Weg, wieder zu Wachstum und zu Beschäftigung zu kommen.

Dieser Satz hat nichts von seiner Aktualität verloren. Ich wiederhole ihn ganz bewusst mit Blick auf Begriffe wie Währungskrieg, Abwertungswettlauf und Handelsprotektionismus, die derzeit in der internationalen Diskussion leider immer wieder zu hören sind.

Eine Debatte mit solchen Begriffen ist falsch. Sie ist nicht nur politisch kurzsichtig; eine Debatte mit solchen Begriffen blendet zudem die erzielten enormen Erfolge bei der Krisenbekämpfung aus. Der Schlüssel dafür war eine in dieser Intensität und Dichte niemals zuvor erreichte internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die einzig erfolgversprechende Strategie für eine endgültige Überwindung der Krise sowie für dauerhaftes Wachstum und mehr Beschäftigung in der Welt ist die konsequente Fortsetzung dieses Weges.

Tatsache ist: Die G 20 hat sich mit der Finanzmarktkrise zum wichtigsten globalen Forum für wirtschaftspolitische Fragen entwickelt. Ohne die entschlossene Umsetzung der dort gemeinsam vereinbarten Maßnahmen hätte sich die Weltwirtschaft nicht so schnell von dem schärfsten wirtschaftlichen Einbruch in Friedenszeiten seit 80 Jahren erholt. Ohne das Drängen der G 20 wäre es auch nicht möglich gewesen, als Lehre aus der Krise eine so umfassende Reformagenda für die internationale Finanzarchitektur aufzustellen, wie wir es getan haben, und diese dann auch schrittweise abzuarbeiten. Ohne Zweifel sehen wir schon heute: Europa hat deutliche Fortschritte gemacht, zum Beispiel bei der Aufsicht über Manager von Hedgefonds und bei Beteiligungsgesellschaften; was die Beteiligungsgesellschaften angeht, hat der Rat vorige Woche einen Durchbruch erzielt und den Weg für eine rasche Einigung mit dem Europäischen Parlament freigemacht. Weitere Beispiele sind die Stärkung der Finanzaufsicht in Europa, eine bessere Kontrolle der Ratingagenturen und neue Vergütungsregeln, die Anreize für risikobewusstes Verhalten setzen. Damit hat Europa zu unserem gemeinsamen Ziel, dass alle Finanzmärkte, alle Finanzmarktakteure und alle Finanzinstrumente einer angemessenen Aufsicht und Regulierung unterworfen werden, einen beachtlichen Beitrag geleistet.

Aber das reicht noch nicht. Jetzt geht es darum, die Arbeiten an einem stabilen neuen Rahmenwerk entschlossen fortzuführen, und zwar auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Die Regierungen dürfen in der Zukunft nicht mehr gezwungen sein, mit Ad-hoc-Rettungsmaßnahmen für private Verluste systemisch relevanter Banken vollumfänglich einzustehen. Deshalb muss die Fähigkeit der Banken verbessert werden, solche Verluste selbst zu tragen. Dafür brauchen wir eine Stärkung der Kapitalanforderungen für Banken. Hierzu hat der Baseler Ausschuss quantitativ und qualitativ höhere Kapitalstandards beschlossen – ein ganz wichtiger Schritt. Wir müssen auch global abgestimmte Regeln aufstellen, damit wir systemisch relevante Finanzinstitute in Krisenfällen grenzüberschreitend restrukturieren oder abwickeln können, und zwar finanzmarktschonend und möglichst ohne Belastung der Steuerzahler.

Deutschland wird sich bei dem bevorstehenden G-20-Treffen in Seoul dafür einsetzen, dass wir bei diesem wichtigen Thema vorankommen. Für Deutschland hat die Bundesregierung bereits ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben zur Restrukturierung bzw. Abwicklung von Banken auf den Weg gebracht. Dieser Gesetzentwurf ist in den parlamentarischen Beratungen und hat international Vorbildcharakter. Die Europäische Kommission hat für Anfang 2011 Rechtsetzungsvorschläge angekündigt. Ich sage es ganz unumwunden: Was die Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten der Krise betrifft, hätte sich die Bundesregierung mehr vorstellen können. Wir hätten uns vorstellen können, dass es G-20-weit zu einer einheitlichen Lösung kommt. Dazu ist leider kein Konsens erzielt worden. Das ändert aber nichts daran, dass wir an unserem Ziel festhalten. Es darf kein Weg daran vorbeiführen, dass sich der Finanzsektor an den Kosten der Krise beteiligt. Er muss Vorsorge für eventuelle künftige Krisen treffen.

Deshalb unterstützt die Bundesregierung weiterhin die Einführung einer Finanztransaktionsteuer, zumindest, wenn sie global nicht umsetzbar ist, auf europäischer Ebene; so ist das.

Meine Damen und Herren, auch Sie können nicht ignorieren, dass es dafür bei der G 20 keine Mehrheiten gab. Eckpfeiler einer neuen globalen Finanzarchitektur ist ein starker Internationaler Währungsfonds. Wir haben daher auf den vorangegangenen G-20-Gipfeln beschlossen, die Rolle des IWF bei der Krisenprävention und bei der Krisenbekämpfung zu stärken.

Die G-20-Finanzminister haben am letzten Wochenende in Korea das Feld dafür bereitet, dass wir unsere Reformziele in Seoul erreichen können. Im IWF werden sich die veränderten Verhältnisse in der Weltwirtschaft künftig stärker als heute widerspiegeln. Dynamische Schwellenländer werden durch einen höheren Quotenanteil und mehr Sitze im Exekutivdirektorium stärker repräsentiert sein. Dieser Erfolg ist insbesondere den Europäern zu verdanken, die ihren Einfluss zugunsten einer gerechteren Gesamtordnung im IWF etwas zurückgenommen haben. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Wirtschaftsminister Rainer Brüderle für seine hervorragende Verhandlungsführung in Südkorea danken, als er Finanzminister Schäuble vertreten hat, über dessen Hiersein ich mich heute besonders freue, genauso wie über das von Herrn Steinmeier.

Meine Damen und Herren, neben der Weiterführung der Reformen auf den Finanzmärkten wird die weltweite Stärkung der Wachstumskräfte der zweite Schwerpunkt der Diskussionen in Seoul sein. Was können wir gemeinsam für ein nachhaltiges, starkes und ausgewogenes Wachstum tun? Zunächst einmal müssen wir verstehen, dass quantitative Ziele in Bezug auf die Leistungsbilanz keine Lösung sein können. Leistungsbilanzsalden sind Ausdruck von Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften und kommen durch Marktprozesse zustande, und in diese darf an dieser Stelle nicht künstlich eingegriffen werden.

Zur Erreichung eines starken, nachhaltigen und ausgewogenen Wachstums ist es daher vielmehr erforderlich, die strukturellen Ursachen, die gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten zugrunde liegen, in den Blick zu nehmen und Wettbewerbsnachteile dauerhaft zurückzuführen. Wenn wir diesbezüglich auf Deutschland schauen, dann wird klar, dass unser Land seiner internationalen Verantwortung als führende Wirtschaftsnation gerecht wird. Wir haben zwei Konjunkturpakete im Umfang von zusammen rund 80 Milliarden Euro aufgelegt, und wir haben weitere Maßnahmen ergriffen, um die Nachfrage zu stärken. Damit haben wir den Abschwung in Deutschland gestoppt.

Im Übrigen sind durch unsere Maßnahmen gegen die Krise unsere Exporte in der Krise wesentlich stärker gesunken als die Importe. Deutschland hat damit einen substanziellen Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft geleistet, und dies werden wir auch weiterhin tun.

Inzwischen sind wir dabei, die Krise schneller als andere Länder zu überwinden. Die aktuellen Zahlen und Daten sind beeindruckend. Mit einem Wachstum von 3,4 Prozent in diesem und voraussichtlich 1,8 Prozent im nächsten Jahr gehört Deutschland zu den Wachstumsmotoren in Europa. Ich füge hinzu: Bei den Arbeitsplätzen zeigt sich das noch deutlicher; denn wir können damit rechnen, dass wir bald weniger als 3 Millionen Arbeitslose haben. Dies ist in einer solchen Situation ein Riesenerfolg.

Auch die Investitionstätigkeit ist mittlerweile wieder spürbar angestiegen. Wir können heute sagen: Es war richtig, die Krise auch unter Inkaufnahme einer massiven Verschuldung zu stoppen. Diesen Weg – daran werden Sie sich erinnern – ist die Bundesregierung gegangen. Da sich das als richtig erwiesen hat, wird es sich jetzt auch als richtig erweisen, dass wir nun gegen die Verschuldung vorgehen, und zwar genau jetzt, nicht früher, aber eben auch nicht später. Bei einer Wachstumsrate von über 3 Prozent in diesem Jahr ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, mit der Konsolidierung zu beginnen.

Die zeitlich befristeten Maßnahmen im Rahmen der Konjunkturpakete werden wie geplant zum Jahresende auslaufen. Eine wachstums- und beschäftigungsorientierte Haushaltskonsolidierung ist eingeleitet. Dies liegt genau auf der Linie, auf die sich die Staats- und Regierungschefs der G 20 im vergangenen Juni in Toronto verständigt haben. Auch die Belebung des internationalen Handels spielt bei der Erholung der Weltwirtschaft eine zentrale Rolle, und deshalb werden wir alles daransetzen – ich werde das auch in Seoul wieder auf die Tagesordnung bringen –, dass die Doha-Verhandlungen endlich mit einem vernünftigen Ergebnis abgeschlossen werden können; denn sie könnten zu einem wirklichen Wachstumsimpuls für einen freien Welthandel führen.

Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich eine internationale Diskussion über angemessene Wechselkurse zwischen den weltweit bedeutendsten Währungen sachlich und in kooperativem Geist führen. Ich sage allerdings: Der globale Aufschwung würde infrage gestellt, wenn wir verstärkte Verzerrungen der Wechselkurse in Kauf nehmen würden.

Ich bin überzeugt, Wechselkurse sollten mittelfristig die fundamentalen Daten einer Volkswirtschaft widerspiegeln. Eine Politik, die auf Wechselkursverzerrungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit abzielt, muss vermieden werden.

Denn bei einem Abwertungswettlauf verlieren am Ende alle. Die schlimmen Erfahrungen in der Folge der Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts sollten uns allen eindringliche Mahnung sein, die Fehler von damals nicht zu wiederholen. Wir haben in dieser Krise vieles richtig gemacht; aber wenn wir jetzt auf dem Weg raus aus der Krise Fehler von damals wiederholen würden, wäre das sehr schwierig und könnte wirklich ganz falsche Effekte hervorrufen. Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die zukünftige Schlagkraft der G 20 auch von der Fähigkeit abhängt, eine Agenda für die nächsten Jahre zu entwickeln und den kooperativen Ansatz, wie er zur Bekämpfung in der Krisenzeit sichtbar geworden ist, auf andere Themen zu übertragen. Deutschland wird hier Frankreich in seiner kommenden G-20-Präsidentschaft entschieden unterstützen. Wir unterstützen auch den Vorschlag der koreanischen Präsidentschaft, die Entwicklungspolitik in der Agenda der G 20 zu verankern: zum einen, weil wir als entwickelte Industrieländer unsere humanitäre Gesamtverantwortung kennen, aber zum anderen auch, weil sich die G 20 bewusst ist, dass die internationale Staatengemeinschaft ihre Ziele nur erreichen kann, wenn es nachhaltige Fortschritte in den Entwicklungsländern selbst gibt.

Meine Damen und Herren, auf der Tagesordnung des Europäischen Rates wird fünf Wochen vor dem Beginn der UN-Klimakonferenz in Cancún selbstverständlich auch der internationale Klimaschutz stehen. Auch wenn er hier heute – wie auch in Brüssel und Seoul – wahrscheinlich nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen wird, so hat Klimaschutz nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Im Gegenteil, Deutschland steht unmissverständlich zum Ziel eines neuen umfassenden Klimaübereinkommens unter dem Dach der Vereinten Nationen.

Es ist leider wahr: Cancún wird noch nicht den entscheidenden Durchbruch und das umfassende Klimaschutzabkommen bringen. Aber wahr ist auch: Gerade dieser Konferenz zwölf Monate nach Kopenhagen kommt dahin gehend eine Bedeutung zu, dass gezeigt werden kann, dass wichtige Fortschritte beim Aufbau der internationalen Klimaschutzarchitektur und bei der Umsetzung konkreter Klimaschutzmaßnahmen möglich sind.

In diesem Sinne wird sich die Europäische Union für ein möglichst umfassendes und ehrgeiziges Ergebnis in Cancún einsetzen. Deutschland unterstützt das nach Kräften.

Meine Damen und Herren, die politischen Prioritäten, die die Bundesregierung mit Blick auf den Europäischen Rat und den G-20-Prozess verfolgt, sind ehrgeizig. Sie umzusetzen, erfordert unseren ganzen Einsatz. Rückschläge kann auch niemand ausschließen. Aber wenn wir mutig vorangehen, dann hat das für Europa immer Fortschritte gebracht. Und so wird es auch dieses Mal sein, wo sich so viele vor einer Änderung der europäischen Verträge scheuen. Doch nichts muss so bleiben, wie es ist. Das galt schon immer, und Veränderungen zum Besseren sind immer möglich, auch wenn der Weg steinig und mühsam ist. Mit dieser Haltung werde ich in Brüssel und Seoul dafür werben, dass Europa und die G 20 die Weichen richtig stellen. Und so werden wir einen wichtigen Beitrag für die Zukunft unseres Kontinents und der G 20 leisten.

Herzlichen Dank.