Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 9. ordentlichen Mitgliederversammlung der Türkisch-Deutschen IHK

Sehr geehrter Freiherr von Leoprechting,
sehr geehrter Herr Königs,
sehr geehrter Herr Botschafter,
sehr geehrter Herr Schweitzer,
sehr geehrte Frau Senatorin, liebe Frau Yzer,
meine Damen und Herren,

es ist mir eine große Freude, heute bei der Mitgliederversammlung der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer zu Gast zu sein, denn sie hat es seit ihrer Gründung in weniger als zehn Jahren geschafft, sich als wichtiger Mittler zwischen der deutschen und der türkischen Wirtschaft zu etablieren. Sie berät Unternehmen umfassend zu Geschäftsmöglichkeiten im jeweiligen Land, in Deutschland und in der Türkei. Sie unterstützt Unternehmen aus beiden Ländern beim Eintritt in neue Märkte. Sie hilft auch dabei, interkulturelle Barrieren erfolgreich zu meistern. So hat die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer gemeinsam mit der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul viel dazu beigetragen, dass sich die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen in den vergangenen Jahren gut entwickelt haben. – Ein guter Satz für den Sprachunterricht; er ist so richtig, wie er auch nicht ganz einfach auszusprechen ist.

Nach dem Krisenjahr 2009 ist unser Handelsvolumen stetig angewachsen. Es beläuft sich inzwischen auf 32 Milliarden Euro. Damit macht der deutsch-türkische Handel rund ein Viertel der Handelsbeziehungen der Türkei mit der gesamten EU aus. Das freut uns, aber wir sind ja auch die größte Volkswirtschaft in Europa. Es zeigt gleichzeitig, dass auch andere Handel und Wandel treiben und dass wir uns daher immer um gute Bedingungen bemühen müssen.

In diesem Zusammenhang nehme ich Ihre Bemerkungen zu den Visa-Fragen, die hier ja unisono gemacht wurden, sehr wohl auf. Ich werde nochmals mit dem Bundesinnenminister darüber sprechen, ob wir insbesondere im Bereich der Wirtschaftskontakte etwas unternehmen können. Sie haben – Herr Botschafter; ich glaube, Sie waren es – ja zwei Wege aufgezeigt; auch durch eine verlängerte Visagültigkeit könnte manches erreicht werden. Ein Vorankommen in dieser Sache werde ich prüfen lassen.

Die Investitionen türkischer Unternehmen in Deutschland haben inzwischen einen Bestand von 500 Millionen Euro erreicht. Das kann noch steigen; und ich denke, es wird in der Zukunft auch steigen. Ich sage Ihnen nochmals, was ich schon an verschiedenen Stellen gesagt habe: Das Engagement türkischer Unternehmen in Deutschland ist ausdrücklich gewünscht; wir freuen uns darüber und wir versprechen Ihnen faire Rahmenbedingungen.

Deutschland ist der wichtigste ausländische Investor in der Türkei. Der Investitionsbestand von über sieben Milliarden Euro spricht dabei für sich. Es freut mich, dass deutsche Unternehmen mit ihren Investitionen und ebenso mit der Lieferung moderner Maschinen, Anlagen und Ausrüstungen erheblich zur guten Wirtschaftsentwicklung in der Türkei beigetragen haben. Wer das Land besucht, spürt ja auch, welche Dynamik in der Entwicklung der wirtschaftlichen Gegebenheiten dort zu verzeichnen ist.

An den zunehmenden Investitionen auch deutscher Unternehmen in der Türkei zeigt sich auch, dass sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahren ständig verbessert haben. Die zahlreichen Wirtschaftsreformen in der Türkei verdienen daher ausdrücklich Anerkennung und Unterstützung. Wir verbinden dies zugleich mit der Hoffnung, dass die Türkei den Weg der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Öffnung und Liberalisierung auch weitergehen wird. Denn es ist unsere langjährige, aus der Philosophie der Sozialen Marktwirtschaft gewonnene Überzeugung, dass Unternehmen und Unternehmer sich dann am besten entfalten können, wenn sie möglichst freiheitliche Rahmenbedingungen finden. Offene Märkte, hohes Maß an Rechtssicherheit und verlässliche Rahmenbedingungen sind wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit unserer Unternehmen.

Ich betone das auch deshalb, weil ich noch große Potenziale in den Wirtschaftsbeziehungen unserer Länder sehe. Diese Potenziale müssen wir erschließen und nutzen. Dies gilt natürlich nicht zuletzt mit Blick auf leistungsfähige Infrastrukturen. Sie untermauern nicht nur die Attraktivität der Türkei für ausländische Investitionen, sondern sie sind auch gleichermaßen wichtig für die internationale Wettbewerbsfähigkeit türkischer Unternehmen. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass die Türkei sehr ehrgeizige Infrastrukturprojekte verfolgt. Natürlich sind auch deutsche Unternehmen daran interessiert, sich dabei mit ihrem Fachwissen und ihrer großen internationalen Erfahrung einzubringen.

Was für den Bereich der Infrastruktur gilt, gilt auch für den Bereich des Energiesektors. Auch hier wollen wir noch enger zusammenarbeiten. Ich denke, das deutsch-türkische Energieforum bietet hierfür eine exzellente Grundlage, denn dort werden maßgebliche Akteure aus Wirtschaft und Politik zusammengeführt. Deutsche Unternehmen der Energiebranche – wie E.ON, STEAG, RWE und EWE – haben sich bereits erheblich für den Ausbau der türkischen Energieversorgung engagiert. Daran lässt sich weiter anknüpfen. Denn mit weiteren wirtschaftlichen Fortschritten gewinnt eine ausreichende und verlässliche Energieversorgung auch für die Türkei erheblich an Bedeutung.

Angesichts des rasch wachsenden Energieverbrauchs wird sicherlich auch das Thema Energieeffizienz immer wichtiger. Auch in diesem Bereich zeichnen sich deutsche Unternehmen durch herausragende technologische Kompetenz aus. Das gilt genauso mit Blick auf erneuerbare Energien. – Der Botschafter wird sicherlich übermitteln, welchen Boom diese hierzulande erleben. – Für die Nutzung erneuerbarer Energien finden sich auch in der Türkei hervorragende Voraussetzungen, was sowohl Windenergie als auch Sonnenenergie und Wasserkraft anbelangt. Insofern bietet sich ein breites Betätigungsfeld. Wir wollen also eine enge Zusammenarbeit im Rahmen einer Energiepartnerschaft. Ich glaube, diese lohnt sich für beide Seiten.

Unsere guten Wirtschaftsbeziehungen kommen sicherlich nicht von ungefähr. Diese guten Wirtschaftsbeziehungen sind insbesondere den rund drei Millionen türkischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland zu verdanken, denn sie schlagen Brücken zwischen unseren Ländern und Kulturen. Dieser Prozess wird sich noch verstärken, denn es ist auch festzustellen, dass gut ausgebildete, junge türkischstämmige Migranten beziehungsweise inzwischen Deutsche auch wieder in der Türkei wirtschaftliche Tätigkeiten suchen. Solche Brücken brauchen wir, denn wir wissen: Vertrauensvolle persönliche Beziehungen sind für Wirtschaftsbeziehungen von allergrößter Bedeutung – gerade auch im mittelständischen Bereich. Insofern sind das gute Erfahrungen.

92.000 türkische Unternehmer sind in Deutschland aktiv. Sie haben hier schon rund 400.000 Arbeitsplätze geschaffen und erwirtschaften einen Jahresumsatz von 40 Milliarden Euro. Das ist also ein richtig gewichtiger Beitrag zu unserem wirtschaftlichen Erfolg hier in Deutschland. Jedem einzelnen der Unternehmer ein herzliches Dankeschön dafür. Wir ermuntern Sie: Wachsen Sie, gedeihen Sie und geben Sie Menschen Arbeitsplätze.

Es macht sich also bezahlt, dass die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer vielen türkischstämmigen Unternehmern tagtäglich mit Rat und Tat hilfreich zur Seite steht. Dafür bin ich sehr dankbar, denn es ist mir durchaus bewusst, dass Unternehmer und Unternehmensgründer mit Migrationshintergrund oft mit besonderen Problemen zu kämpfen haben. Wir haben auch beim diesjährigen Integrationsgipfel darüber gesprochen, was wir tun können, um in unserem Land die Erfolgschancen von Gründern und Unternehmern aus dem Ausland zu verbessern.

Hierbei gibt es noch viel zu tun. Das hat mit verschiedenen Dingen zu tun. Das beginnt bei der Berufsausbildung. Bis jetzt schließt nur etwa ein Drittel der jungen Menschen mit ausländischen Wurzeln eine Berufsausbildung erfolgreich ab. Diese Menschen sind also gemessen an ihrem Anteil an der Bevölkerung unterrepräsentiert. Bei Jugendlichen aus deutschen Familien hingegen sind es immerhin zwei Drittel. Das heißt, wir brauchen eine Annäherung. Ich glaube, dass die jungen Menschen aus anderen Ländern – in unserem Fall jetzt türkischstämmige Jugendliche – die gleichen Fähigkeiten und Fertigkeiten haben.

Es gibt also eine Vielzahl von Barrieren, die überwunden werden müssen. Deshalb möchte ich allen Betrieben – deutschen und türkischen – sowie der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer für ihre diesbezüglichen Anstrengungen danken und sie zugleich ermuntern, sich weiterhin für die Berufsausbildung in Betrieben einzusetzen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn es ist ein unschätzbares Erlebnis für junge Leute, wenn sie im Betrieb lernen, wie man erwerbstätig ist. Jedem, der sich dafür engagiert, gilt mein herzlicher Dank.

Meine Damen und Herren, wir haben auf dem Integrationsgipfel auch über die Erfahrung gesprochen, dass das Gewähren von Krediten für türkischstämmige Unternehmer eher schwierig ist. Ich persönlich habe einmal einen Ausbildungskurs – es waren Ausbildungsberufe im Finanzbereich – in einer betrieblichen Ausbildungsstätte besucht und musste dabei erfahren, dass, wenn man bestimmte Nachnamen hat, die in Deutschland nicht so leicht auszusprechen sind, die Gefahr, dass man als Auszubildender nicht genommen wird, doch größer ist, und dass dann aber, wenn ein Praktikum angeboten wird, die Unternehmen sehr viel offener für eine Fortsetzung der Berufsausbildung im betrieblichen Bereich sind, nachdem sie den Praktikanten kennengelernt haben. Die Eintrittsbarriere ist jedenfalls erst einmal höher. Ich glaube, indem wir das einfach auch aussprechen, werden wir solche Probleme auch besser überwinden können.

Wir wissen: Angesichts der demografischen Entwicklung ist für uns die Sicherung des Fachkräftenachwuchses ganz wichtig. Wir werden in Deutschland nicht nur im Durchschnitt älter, wir werden nicht nur insgesamt weniger, sondern wir werden auch mehr junge Menschen mit Migrationshintergrund haben. Deshalb ist die Frage der Ausbildung junger türkischstämmiger Leute nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber diesen jungen Leuten, sondern auch eine Frage der Zukunftsfähigkeit Deutschlands. So begreifen wir das; und so wollen wir auch unsere Dinge weiterentwickeln.

So vielfältig und zahlreich die Wirtschaftsbeziehungen auch sind – das Fundament, auf dem die Partnerschaft unserer beiden Länder aufbaut, reicht weit über diese hinaus. Wir pflegen einen intensiven politischen, wissenschaftlichen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Austausch. Wir haben einen offenen und vertrauensvollen Dialog über Landesgrenzen hinweg. Ich glaube, gerade in Zeiten der Globalisierung ist das sehr wichtig. Wir arbeiten gemeinsam in der G20. Meine Beziehungen mit dem Ministerpräsidenten Erdoğan sind so, dass wir über viele Probleme sprechen können. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber wir haben ein Verhältnis, in dem wir den Dialog pflegen können. Das ist wichtig.

Ich will von meiner Seite aus auch nochmals sagen: Gerade für ein Land wie die Türkei ist die Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft außerordentlich notwendig. Das sollte nicht als bedrohlich empfunden werden, sondern es sollte als Bereicherung empfunden werden. Wir haben in Deutschland auch langjährige Erfahrungen mit sehr kontroversen Debatten. Wir sind im Grunde als Land immer stärker geworden, wenn wir diese Debatten geführt haben. Deshalb will ich nicht verhehlen, dass ich über manche Bilder aus der Türkei, die wir in jüngster Zeit gesehen haben, erschrocken war. Ich hoffe, dass in der Frage, wie man die Probleme lösen kann – und man muss sie lösen –, der Dialog wieder die Oberhand gewinnt. Sie können davon ausgehen, dass die aktuellen Entwicklungen in der Türkei bei uns auch deshalb genau verfolgt werden, weil wir so viele Bindungen haben. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir hierzu auch unsere Meinung sagen.

In diesem Zusammenhang will ich auch ein Wort zu den Beitrittsgesprächen sagen, was die Mitgliedschaft in der EU anbelangt: Der Grundsatz „Pacta sunt servanda“ gilt; allerdings können wir auch nicht ignorieren, was passiert. Die Gespräche über die Öffnung des nächsten Kapitels laufen. Aber meine herzliche Bitte ist: Wir müssen insbesondere in der Frage des Ankara-Protokolls vorankommen, denn das ist eigentlich die bislang dauerhafteste Barriere. Die anderen Probleme kann man sicherlich miteinander bereden. Wie gesagt, die Außenminister sind noch in den Gesprächen. Wir halten uns an den Grundsatz „Pacta sunt servanda“, aber wir erwarten auch Fortschritte in den genannten Bereichen. Wir sollten die Zeit, in der diese Gespräche stattfinden, vor allen Dingen auch dazu nutzen, die Beziehungen zu intensivieren. Da sind eben die Wirtschaftsbeziehungen ein ganz, ganz wichtiger Pfeiler.

Deshalb möchte ich abschließend denen danken, die das Ganze gestalten. Ich möchte allen, die heute neu gewählt wurden, herzlichen Glückwunsch sagen – insbesondere Herrn Königs, der in die Fußstapfen von Herrn Leoprechting tritt. Sie, Herr Leoprechting, haben selbst recht bescheiden darüber gesprochen: Sie haben die ersten Jahre dieser Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer gestaltet. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön, denn Sie haben damit auch ein Stück weit diese Institution gestärkt. Insofern ist einer der Gründe, aus denen ich heute hier bin, auch einfach der, Ihnen danke zu sagen. Herrn Königs wünsche ich eine glückliche Hand.

Ich freue mich, dass wir diese Veranstaltung hier in den Räumlichkeiten des Hauses der Deutschen Wirtschaft abhalten, denn wir wollen natürlich, dass sich gerade auch die türkischstämmigen Unternehmer, die in Deutschland ihr Unternehmen haben, in den deutschen Verbänden und Institutionen eingliedern und sich zuhause fühlen. Deshalb auch ein herzliches Dankeschön an Eric Schweitzer als Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags dafür, dass er hier ganz selbstverständlich mit dabei ist.

Ihnen allen weiter guten Mut. Scheuen Sie sich nicht, durchaus auch einmal kontroverse Gespräche zu führen. Scheuen Sie sich auch nicht, Ihre Anliegen immer wieder bei uns anzubringen, so wie Sie es heute mit den Visa-Fragen getan haben. Manchmal gehen unsere Erwartungen und Vorstellungen ein wenig auseinander – das kann passieren –, aber Ihr Ratschlag ist immer wichtig. Ich wünsche gutes Gelingen in den nächsten Jahren. Herzlichen Dank.