"Konflikte verhindern, bevor sie entstehen"

Im Wortlaut: Müller "Konflikte verhindern, bevor sie entstehen"

"Entwicklungspolitik hat eine große Bedeutung für globale Sicherheit", sagte Entwicklungsminister Müller in einem Interview. "Dazu gehören Kriegs- und Konfliktverhinderung, wirtschaftliche Entwicklung, Bekämpfung von Armut, Hunger und soziale Ungerechtigkeit, Schutz der Ressourcen unseres Planeten."

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Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Fordert mehr Geld für die Entwicklungshilfe: Bundesminister Müller.

Foto: Bundesregierung/Kugler

Das Interview im Wortlaut:

Die Welt: Herr Müller, vor einem Jahr hat der Bundespräsident, abgestimmt mit den Ministern für Äußeres und Verteidigung, auf der Münchner Sicherheitskonferenz mehr deutsches Engagement bei der Bewältigung internationaler Konflikte gefordert. Sie waren nicht vor Ort. Was sagt das über die Bedeutung der Entwicklungspolitik in dieser Bundesregierung?

Gerd Müller: Ich erfahre große Wertschätzung und Unterstützung in dieser Regierung, von der Kanzlerin bis zum Finanzminister. Und in diesem Jahr werde ich auch in München vor Ort sein. Das zeigt: Entwicklungspolitik hat eine große Bedeutung für globale Sicherheit. Dazu gehören Kriegs- und Konfliktverhinderung, wirtschaftliche Entwicklung, Bekämpfung von Armut, Hunger und sozialer Ungerechtigkeit, Schutz der Ressourcen unseres Planeten. Es ist die Aufgabe von Entwicklungspolitik, Antworten auf diese zentralen Herausforderungen der globalen Welt zu geben - und bewaffnete Konflikte damit schon zu verhindern, bevor sie entstehen. Gelingen kann das nur mit einem vernetzten Ansatz von Verteidigungs-, Außen- und Entwicklungspolitik.

Die Welt: Von diesem vernetzten Ansatz wird seit zehn Jahren geredet. Aber es genügt ein Blick in den Bundeshaushalt, um festzustellen: Ihr Ressort spielt in der Praxis eine untergeordnete Rolle. Braucht es ein neues Primat der Entwicklungspolitik gegenüber dem finanziell besser ausgestatteten Militär?

Müller: Ich stehe nicht in Konkurrenz, jeder hat seinen eigenen Auftrag. Aber richtig ist in der Tat: Es gibt ein grobes Missverhältnis in der Frage der finanziellen Möglichkeiten, die wir haben. Das ist nicht nur in Deutschland so. Weltweit investieren wir jährlich 1750 Milliarden US-Dollar in Rüstung, in Militär. Aber nur 130 Milliarden in Entwicklungspolitik, Friedensarbeit und Krisenprävention. Da fordere ich mehr Ausgewogenheit, mehr Gleichgewicht.

Die Welt: In Deutschland diskutieren wir derzeit eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets ...

Müller: Es ist überall der Ruf nach höheren Verteidigungs- und Rüstungsausgaben zu hören. Stattdessen brauchen wir eine stärkere Gesamtsicht der Prozesse, ein Mehr an Friedensarbeit, Kriegsverhütung und Staatsaufbau. Prävention also. Nehmen Sie das Beispiel Afghanistan: Der Einsatz hat allein die Amerikaner 700 Milliarden US-Dollar gekostet, international über 1000 Milliarden. Auch der Einsatz der Bundeswehr hat ein Vielfaches dessen gekostet, was wir in Entwicklung investiert haben.

Die Welt: Sie haben immerhin 400 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Reicht das nicht?

Müller: Das ist eine komplette Unterbewertung. Wenn man Konflikte analysiert, dann sind die Quellen doch immer die gleichen: Unterdrückung, Ungerechtigkeit. Ausbeutung, Intoleranz. Das muss seinen Niederschlag in der praktischen Politik finden. Anders gesagt: Wenn wir Diplomatie, Militär und Entwicklung nicht besser ausbalancieren, dann werden wir die Erfolge solcher Militäreinsätze immer wieder gefährden.

Die Welt: Nur ist ohne Sicherheit oft keine Entwicklung möglich. Werden Ihre Mitarbeiter ohne die Hilfe der Soldaten ihre Arbeit in Afghanistan noch machen können?

Müller: Entwicklungsexperten waren vor jedem Militär dort, nämlich schon bei der afghanischen Staatsgründung 1919, und sie genießen hohes Ansehen. Sie werden auch nach dem Militäreinsatz dort arbeiten.

Die Welt: Dennoch warnen Sie davor, dass die Soldaten wie geplant zoi6 komplett abziehen. Warum?

Müller: Grundsätzlich richtet sich Entwicklungsarbeit nicht an einem Militäreinsatz aus. Aber wenn das Militär einmal da ist, ist ein rascher Abzug, wie ihn die USA für Afghanistan angekündigt haben, risikoreich. Wer interveniert, übernimmt Verantwortung. Nehmen Sie das Beispiel Libyen: Da wurden Bomben reingeworfen, der Diktator Gaddafi wurde gestürzt, aber der Prozess der Entwaffnung der Milizen nicht weitergeführt. Die Folge war, dass sich die Tuareg Waffen besorgt haben und nach Mali gezogen sind - wo wir nun den nächsten Konflikt bekämpfen müssen. Und unsere Beobachter in Libyen sagen unmissverständlich: Es wird am Tag X zu einer neuen Explosion der Krise kommen, wenn wir nicht reagieren.

Die Welt: Im Nordirak unterstützt die Bundesregierung die Kurden mit Waffenlieferungen. Ist das in Ihrem Sinn?

Müller: Grundsätzlich gilt: Die Welt braucht nicht mehr Waffen, ich glaube nicht, dass Waffen mehr Frieden schaffen.

Die Welt: Was in Ihrer Partei, der CSU, nicht alle so sehen. Die Rüstungsindustrie bietet viele Arbeitsplätze in Bayern.

Müller: Unser Konzept kann nicht sein, wirtschaftliche Strukturen bei uns durch mehr Waffenlieferungen zu stabilisieren. Wir haben strenge Exportrichtlinien, denen fühle ich mich verpflichtet - keine Waffen in Krisen- und Spannungsgebiete. Im Nordirak ist die Lage aber eine andere.

Die Welt: Inwiefern?

Müller: Wir müssen den Peschmerga dankbar sein, sie kämpfen dort auch für uns. Ich habe in Erbil mit vergewaltigten Jesidinnen gesprochen, die von Peschmerga aus den Händen des Islamischen Staats befreit wurden. Im Nordirak geht es um Hilfe zur Notwehr, um grundlegende Menschenrechte. Aber genauso wichtig ist es mir, das Leben der Menschen hinter der Front zu retten, die Flüchtlinge in den Camps über den Winter zu bringen und langfristig in den Aufbau staatlicher Strukturen zu investieren: in Krankenhäuser, Schulen, in Zukunft eben.

Die Welt: Bekommen Sie dafür ausreichend Geld?

Müller: Ich freue mich, dass mein Vorstoß, von der Europäischen Union eine Sondermilliarde für ein Wiederaufbau- und Stabilisierungsprogramm für Syrien und den Irak zu verlangen, aufgegriffen wurde. Die EU-Kommission hat jetzt ein umfangreiches Hilfspaket angekündigt, das kann aber nur der Einstieg sein für weitere Programme, in einen Marshallplan für Syrien und den Irak. Und ich bin auch dem deutschen Handwerk sehr dankbar. Die Betriebe wollen dafür sorgen, dass Deutschland Handwerker in den Nordirak schickt. Sie werden in die Flüchtlingscamps gehen, um junge Menschen dort auszubilden. Irgendwann wird der Krieg zu Ende sein, dann müssen die Städte aufgebaut werden, dann braucht man Maurer, Zimmerleute, Installateure. Das Handwerk hat dieses Angebot gemacht, und es soll auch für die nach Deutschland geflüchteten Syrer gelten ...

Die Welt: ... die hier nicht überall auf ein derart herzliches Willkommen stoßen. Oder wie erklären Sie sich die Demonstrationen gegen eine "Islamisierung des Abendlandes"?

Müller: Ich sehe keinen gesellschaftlichen Widerstand gegen die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge, die traumatisiert aus größtem Elend zu uns kommen, die arbeiten und Deutsch lernen wollen. Im Gegenteil: Es gibt viel Hilfe, auch viel ehrenamtliches Engagement. Widerstand gibt es gegen Flüchtlinge, wenn nicht eindeutig ist, dass sie Opfer von Verfolgung sind. Deshalb war es ja so wichtig, dass wir beispielsweise die Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer definiert haben. Die Syrer allerdings treffen hier auf andere Widerstände.

Die Welt: Nämlich?

Müller: Unsere Bürokratie. Die Leute können keinen Führerschein machen, sie müssen auf Deutschkurse warten, Familien sind getrennt, Wohnungs- und Arbeitssuche werden erschwert. Wir stöhnen hier, dass wir derzeit 70.000 Flüchtlinge aus Syrien haben. Ein kleines Land wie Libanon hat 1,2 Millionen Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Da gibt es einen ganzen anderen Problemdruck.

Die Welt: Wo liegt also das Problem bei uns?

Müller: Wir haben politisch dafür gesorgt, dass Bürgerkriegsflüchtlinge sofort eine Arbeitserlaubnis haben. Die Verfahren laufen regional aber sehr unterschiedlich. Am besten klappt es dort, wo Bürgermeister und Landräte die Dinge einfach mutig entscheiden. Und leider muss man auch sagen: Deutschland tut schon viel, andere in Europa weniger. Das gilt für die Standards der Unterbringung ebenso wie für die Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Staaten. Einer versteckt sich da hinter dem anderen.

Die Welt: Wie ist das zu ändern?

Müller: Das Thema schreit danach, auf einem europäischen Sonderrat behandelt und gelöst zu werden. Es gibt ja nicht nur Syrien und den Irak. Allein in Libyen warten 600.000 Menschen mit dem Ziel einer Überfahrt nach Europa, wenn wir die Flüchtlingsströme aus Eritrea sehen oder die Lage der Binnenflüchtlinge in der Ukraine, dann brauchen wir endlich eine Strategie für Wiederaufbau- und Wirtschaftsförderungsprogramme in ganz neuer Dimension. Es reicht nicht, die Zäune um Europa einfach höher zu ziehen. Ich erwarte zügig Vorschläge von der neuen Kommission und ihrem Chef Jean-Claude Juncker.

Die Welt: Haben Sie selbst welche?

Müller: Wir haben Förderprogramme in der EU, die zum Teil vor 25 Jahren konzipiert wurden. Es werden nach wir vor Gelder bewilligt, um grenzüberschreitende Wanderwege zwischen Österreich und Bayern zu finanzieren. Ich gönne jedem diese EU-Gelder. Aber die Welt ist heute eine andere. Wir müssen die europäischen Töpfe neu justieren, zugeschnitten auf die neuen Herausforderungen. Und die heißen Nah- und Mittelost, Mittelmeer, Nordafrika, aber auch die Ukraine - alles in unserer europäischen Nachbarschaft. In diesen Regionen müssen wir investieren, wenn wir die Migrationsströme auch nur ansatzweise in den Griff bekommen wollen.

Das Gespräch führten Claudia Ehrenstein und Thorsten Jungholt für Die Welt .