Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Handelshochschule Leipzig am 31. August 2019 in Leipzig

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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Michael Kretschmer,
sehr geehrte Frau Lagarde, liebe Christine,
sehr geehrter Herr Professor Stubner,
sehr geehrter Herr Professor Schirmer,
liebe Absolventinnen und Absolventen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
natürlich auch liebe Mitglieder des Gewandhausorchesters,

herzlichen Dank! Das ist ein ganz besonderer Tag. Jeder spürt es in verschiedener Hinsicht. Die Ehrendoktorwürde der renommierten Handelshochschule Leipzig entgegenzunehmen, ist für mich natürlich eine große Freude und Ehre. Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, was mich mehr ehrt: die hohe Auszeichnung an sich oder die lobenden Worte, die Sie für mich gefunden haben, Herr Professor Stubner, und natürlich besonders Du, liebe Christine. Es waren bewegende Worte, für die ich mich ganz herzlich bedanke! Ich darf Ihnen versprechen: ich werde mich jetzt nicht niedersetzen, sondern ich werde daran denken und weiterarbeiten. Denn es gibt noch viel zu tun. Ich wusste nicht, dass dieser Laudatio ein wissenschaftlicher Prozess vorausgegangen ist. Deshalb möchte ich mich auch bei den Gutachtern dafür bedanken, dass sie auf unabhängige Art und Weise den ehrenwerten Senat dieser Hochschule so überzeugen konnten, dass er auch noch zu einer einstimmigen Entscheidung gekommen ist. Wo hat man das heute schon? Das würde man gern öfters haben.

Ich möchte mich natürlich auch dafür bedanken, dass hier passenderweise die Ouvertüre der „Meistersinger“ gespielt wurde. Das gilt ja in vielfacher Hinsicht. Auf der einen Seite: Ja, ich liebe die Musik von Richard Wagner. Es ist vor allem „Tristan und Isolde“, was mich sehr bewegt. Ich glaube, wenn man über das Leben an sich nachdenkt, sollte man sich dem „Ring“ zuwenden. Ich will das ausdrücklich sagen, weil ich es in diesem Jahr auch in Bayreuth gehört habe. Die „Meistersinger“ muss man sich mehr erarbeiten, als man denkt. Man denkt, es geht um Handwerker im Mittelalter. Aber die Sache ist doch etwas komplizierter. Ich will nur sagen: Der Ruf „Verachtet mir die Meister nicht!“ passt nun auch zu dem Anlass, den wir heute hier haben, zur Graduiertenfeier. Für die Absolventinnen und Absolventen, die hier ihren Abschluss gemacht haben, passt das nun ganz besonders. Es ging damals zwar um Handwerksmeister – und Sie haben eine akademische Ausbildung –, nichtsdestotrotz ist der Ruf „Verachtet mir die Meister nicht!“ etwas, das Sie jetzt auch für sich in Anspruch nehmen können. Sie haben ein Recht darauf, anerkannt zu sein. Deshalb möchte ich Ihnen allen sehr herzlich gratulieren und Ihnen alles Gute wünschen! Sie können stolz auf den Abschluss an der Handelshochschule Leipzig sein!

Nun geht es für Sie richtig los. Es werden sich viele Türen in eine spannende Berufswelt öffnen. Durch welche Tür auch immer Sie treten werden, ich wünsche Ihnen, dass Sie sich die Neugier und die Offenheit bewahren, die Sie durch Ihr Studium getragen haben! Denn nur wer sich auf Neues einlässt, kann auch immer wieder neue Chancen für sich entdecken. Sie sind Teil einer Gesellschaft, die sich immer wieder neu entdecken muss. Um im globalen Innovationswettbewerb ein gewichtiges Wort mitzureden, müssen wir wandlungsfähig sein. Wir müssen eine Gesellschaft sein, in der wir uns mit Gegebenem nicht begnügen, sondern über den Tellerrand hinaus blicken. Dazu brauchen wir Sie, die jungen Menschen. Denn Sie sind noch nicht festgelegt, Sie haben neue Ideen. Ich erinnere mich noch ganz genau an die Zeit nach meinem Studium hier in Leipzig und daran, wie frustrierend es auch sein kann, in das Korsett eines beruflichen Alltags eingeschnürt zu werden. Lassen Sie sich nicht zu schnell entmutigen, sondern seien Sie mutig! Die Älteren brauchen das: den Mut und die Kraft der Jugend. Das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben.

Ich denke sehr gern an meine Studienjahre in Leipzig zurück, obwohl sie unter einem politischen System stattgefunden haben, das wirklich sehr bedrückend und bedrängend war. Als ich heute in das Opernhaus ging, fiel mir wieder ein, dass ein früher in der DDR wichtiger Mensch, als er aus dieser Oper kam, auf eine Kirche schaute – die Universitätskirche – und beschied: „Diese Kirche muss weg. Wenn ich das nächste Mal in Leipzig sein werde, möchte ich nicht, dass eine Kirche in der Nähe der Universität steht.“ Dass dort heute wieder eine neu erbaute Kirche steht, ist ein unglaubliches Glück. Deshalb ist Leipzig auch in altem und neuem Glanz wieder erstrahlt.

Die Studienzeit war für mich, wie für jeden natürlich, prägend. Ich kam aus ländlichen Gebieten der Uckermark, nördlich von Berlin, aus einem behüteten und tollen Elternhaus. Aber es war beschaulich. Die Erfahrung einer Großstadt war wunderbar. Es waren hier zum Beispiel unglaublich schöne Begegnungen mit dem Thomanerchor und vielem anderen in Leipzig möglich. Es war zwar nicht einfach, sich in die physikalische Materie einzuarbeiten. Aber es hat Spaß gemacht, in eine diskussionsfreudige Forschungslandschaft einzutauchen. In dem Hochhausgebäude, das Sie gegenüber der Oper sehen, das heute dem „MDR“ zugeordnet ist, habe ich meine Praktika machen müssen. Ich bin theoretische Physikerin geworden. Ich hatte nie zwei rechte Hände, aber ich habe es irgendwie geschafft.

Meine Damen und Herren, ich habe mich ganz wesentlich deshalb für das Physik-Studium entschieden, weil die DDR zwar vieles verbiegen konnte, aber die Naturwissenschaften nicht. Die Erdanziehungskraft galt auch bei uns. Insofern war man auf sicherem Terrain mit Ausnahme der vielen Marxismus-Kurse, die man belegen musste. Aber das ist ein anderes Kapitel. Das Interessante damals für mich war die Erfahrung: man wollte einerseits Forscher, die möglichst auch in westlichen Journalen publizieren konnten, die erfolgreich waren. Das heißt also, während unserer Berufstätigkeit sollten wir alle frei denken. Wenn wir dann die Universität oder die Akademie der Wissenschaften verließen, dann sollten wir aber plötzlich aufhören zu denken, dem Staat dankbar sein und uns nicht mehr über Freiheit und Demokratie Gedanken machen. Beides ging hinreichend schlecht zusammen, aber schließlich hatte es sich überlebt. Der repressive Staat war zum Scheitern verurteilt. Es war vor 30 Jahren natürlich eine besondere Zeit. Ich komme noch einmal darauf zurück.

Aber zu sozialistischen Zeiten waren in Leipzig auch jenseits des wissenschaftlichen Betriebs viele darauf bedacht, sich ein paar Freiräume zum Denken zu bewahren. Es war immer ein Hauch von Freiheit in dieser Stadt zu spüren. Das hatte vielleicht auch mit der Handels- und Messetradition zu tun. Leipzig war schon immer ein Ort, an dem sich viele Menschen – auch aus der alten Bundesrepublik oder aus anderen westlichen Ländern – begegnet sind, Geschäfte gemacht haben, ins Gespräch gekommen sind. Aus dem damaligen Hauch von Freiheit ist ein frischer Wind geworden. Heute zählt Leipzig zu den dynamischsten Großstädten in Europa. Leipzig macht als sogenannte Schwarmstadt von sich reden. Junge Leute wollen hierher. Und das Bevölkerungswachstum hier spricht eine deutliche Sprache. Leipzig ist eine Stadt der Möglichkeiten. Die Unternehmenslandschaft hat sich seit 1990 grundlegend erneuert. Die Wirtschaftskraft der Region Leipzig erreicht heute – ich sage das aus gegebenem Anlass, weil Christine Lagarde als französische Bürgerin bei uns ist – fast das Niveau der Region Rhône-Alpes. Das ist immerhin die wirtschaftlich zweitstärkste Region Frankreichs. Das heißt, die Region Leipzig kann auf das Erreichte wirklich stolz sein.

Die Handelshochschule Leipzig trägt kräftig zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Sie steht nicht nur für exzellente Ausbildung, sondern ist auch ein bundesweiter Leuchtturm im Hinblick auf Unternehmensgründungen aus der Hochschule heraus. Deshalb ist der Ruf dieser Hochschule auch so gut. Sie zieht Studierende aus Deutschland, Europa und der ganzen Welt an. Über ein Drittel der Absolventinnen und Absolventen kommt aus dem Ausland. Ich habe eine Bitte: Entweder Sie bleiben hier und helfen uns, dass wir noch stärker werden, oder Sie bleiben Botschafter Deutschlands, Sachsens, Leipzigs, wenn Sie nach Hause gehen. Wir nehmen Sie immer wieder gern als Gast bei uns auf und sagen: Lassen Sie Ihr Studium hier ein völkerverbindendes Zeichen sein!

Die HHL ist ein wunderbares Beispiel für Weltoffenheit in Deutschland. Nach den USA, Großbritannien und Australien zählt Deutschland weltweit zu den beliebtesten Ländern für einen Studienaufenthalt. Wir haben natürlich eine Sprachbarriere. Aber unter den nicht-englischsprachigen Gastländern rangieren wir ganz oben auf der Liste. Daran haben viele Anteil. Die Handelshochschule Leipzig gehört zweifellos dazu. Ich möchte allen Lehrkräften an dieser Hochschule ganz herzlich dafür danken!

Exemplarisch möchte ich hier noch einmal das „Leipziger Führungsmodell“ erwähnen, das hier entwickelt wurde und auf ein erweitertes Führungsverständnis abstellt. Es begnügt sich eben gerade nicht mit einer verengten Sichtweise zum Beispiel auf den Shareholder Value. Ich glaube, es ist von einem nicht zu unterschätzenden Wert, dass Sie sich ausdrücklich dies zum Markenzeichen gemacht haben. Denn seien wir ehrlich: Die Soziale Marktwirtschaft, wie sie Deutschland großgemacht hat, wie sie das Wirtschaftswunder in der alten Bundesrepublik möglich gemacht hat, steht angesichts der globalen Gegebenheiten unter Druck. Sie muss neu definiert werden. Ihre Prinzipien sind richtig. Aber ihre Gegebenheiten müssen neu ausgearbeitet werden.

Dabei ist es sehr wichtig, dass in Ihrem Führungsmodell etwas eine Konstante ist, das uns in den letzten Jahrzehnten stark gemacht hat: Es muss das Menschenbild, das Bild der Würde des einzelnen Menschen, erhalten bleiben, wenn man als Führungskraft tätig sein will. Dass Sie auf Führungspersönlichkeiten abstellen, die, um sich in einem Umfeld zurechtzufinden, das sich ja rasch verändert, eine Art inneren Kompass haben müssen, der auf übergeordneten Werten beruht, das ist von nicht zu unterschätzendem Wert. Ich möchte Ihnen dafür danken!

Werteorientierte Führung bedeutet nicht, ohne Rücksicht auf andere sich selbst gesteckte Ziele und Eigeninteressen zu verfolgen, sondern ein größeres Ganzes in den Blick zu nehmen, nämlich das Wohl des Unternehmens, der Mitarbeiter, der Kunden und der Gesellschaft, und zwar – wenn ich das hinzufügen darf – nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern über eine längere Strecke hinweg. Wir alle müssen nachhaltig denken. Wir alle müssen daran denken, dass sich etwas immer über eine längere Zeit entwickelt. Deshalb ist es so wichtig und richtig, dass Unternehmerinnen und Unternehmer – Führungskräfte – auch heute über ihren Betrieb und die Belegschaft hinaus Verantwortung tragen. Sie stehen nicht selten im Licht der Öffentlichkeit; und das wird Ihnen auch passieren. Sie sollten sich deshalb immer bewusst sein, dass das eigene Verhalten das Bild von vielen Menschen mitprägen kann, das sie sich vom Unternehmertum und von der Sozialen Marktwirtschaft machen.

Dieses Bild hat gelitten, insbesondere während der internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise vor rund zehn Jahren. Das Vertrauen ist noch nicht wieder voll hergestellt. Deshalb wird es Ihre Generation sein, die beweisen muss, ob es wieder zu solchen Entwicklungen kommt oder ob es gelingen kann, dass man zu einer Sozialen Marktwirtschaft in umfassendem Sinne kommt. Deshalb liegt vor Ihnen – weit mehr als die vielleicht kommende Management- oder Unternehmensfunktion – die Aufgabe, Menschen wirklich auch gesellschaftlich positiv zu beeinflussen.

Inwieweit die gesellschaftliche Vorbildrolle als Unternehmer ausgefüllt wird, hat also eine immense gesamtgesellschaftliche und politische Dimension. Dazu gehört zweierlei: dass die Gesellschaft den Unternehmer und die Unternehmerin anerkennt, den Führungskräften etwas zutraut; und es gehört genauso dazu, dass auch sie die gesamtgesellschaftliche Verantwortung spüren. Deshalb ist Führung nicht als Selbstzweck zu verstehen, sondern als Mittel zum Zweck, der auch anderen und nicht allein dem Führungspersonal dient.

Führung in diesem Sinne setzt die Fähigkeit voraus, verschiedene Überzeugungen und Interessen wahrzunehmen, aufzugreifen und dann auch immer einen Raum zu finden, in dem Ausgleich und Kompromissfindung möglich sind. Das heißt, Führung kann nur dann gut ausgeübt werden, wenn Sie immer wieder auch neugierig auf die Meinung anderer sind. Ich sage ausdrücklich: Sie sollten neugierig auf die Meinung aller in einem Unternehmen sein, die zum Wohle des Unternehmens beitragen, und nicht nur derer, die im Senat oder in der Führung sitzen.

Der Raum für Kompromissfindung ist heute oft nicht mehr leicht zu finden. Man muss ihn sich häufig erst erarbeiten, weil die Ambiguität, wie man heute so schön sagt, nicht allzu sehr geschätzt wird. Man möchte sozusagen glasklare Positionen. Aber da wir nun alle unterschiedlich vom Herrgott geschaffen wurden und unterschiedliche Persönlichkeiten sind, wachen wir ja morgens nicht mit der gleichen Meinung und Überzeugung auf. Deshalb muss es immer wieder gelingen, die vielen verschiedenen Meinungen in einem Raum der Kompromisse zusammenzuführen. Deshalb würde ich neben das Wort „Verachtet mir die Meister nicht!“ von Richard Wagner das Wort setzen: Verachtet mir den Kompromiss nicht! Ohne Kompromiss kann die Gesellschaft nicht zusammenhalten. Im Übrigen ordnet sich die dienende Funktion von Führung in unser humanistisches Weltbild ein, das auf dem Respekt gegenüber dem Mitmenschen beruht. Das ist sozusagen eine europäische Tradition – wir können sagen, seit der Französischen Revolution 1789 –, die etwas im Menschenbild total verändert hat, die uns einzigartig macht. Dies im 21. Jahrhundert weiterzuentwickeln, das wird Ihre Aufgabe sein.

In diesem Zusammenhang berührt es mich natürlich sehr, aber spornt mich auch an, dass mir gerade für das Führungsverständnis die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Das ist etwas, das mich auch immer wieder dazu veranlassen wird, nach Räumen der Kompromisse zu suchen. Deshalb möchte ich Sie bitten: Bleiben Sie auch weiterhin dabei – jedenfalls würde ich mir das als Ihre Ehrendoktorin wünschen; ich habe ja jetzt auch Möglichkeiten, mich hier zu äußern – und unterstützen Sie dieses Führungsverständnis! Ich glaube, das eben skizzierte Führungsverständnis lässt sich auf alle Lebens- und Arbeitsbereiche übertragen – ob im Unternehmen oder in der Gesellschaft.

Das habe ich Ihnen, glaube ich, noch gar nicht gesagt: Alle Universitäten oder Hochschulen, die mir einen Ehrendoktor verliehen haben, werden noch von mir hören, wenn ich nicht mehr Bundeskanzlerin bin. Ich komme wieder. Dann verlasse ich Sie nicht wie heute gleich wieder, sondern hoffe, auch etwas länger zu bleiben.

Ich muss noch einmal auf die 70 Jahre unseres Grundgesetzes zurückkommen. In Artikel 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das heißt eben auch, der Staat ist für die Menschen da. Unsere Verfassung erteilt mit ihren Freiheitsrechten zugleich eine Absage an die Allzuständigkeit von Politik und Staat. Das bringt – darüber diskutieren wir zurzeit auch sehr viel – den einzelnen Bürger in eine Verantwortung. Daran erinnert uns das 70. Jahr des Grundgesetzes, aber eben auch das 30. Jahr des Mauerfalls. Leipzig war die Stadt, wo die Montagsdemonstrationen stattfanden. Es waren mutige Frauen und Männer, die ein starkes Zeichen gegen staatliche Willkür und Bevormundung setzten – und damit letztlich die Mauer zu Fall brachten.

Wenn wir uns an den Mauerfall erinnern, dann sollten wir auch daran denken, was danach kam – an die vielen Veränderungen und vor allem die Leistungen in den letzten drei Jahrzehnten. Das Ende der DDR – viele, die jünger sind, können das ja nur noch nachlesen – bedeutete für viele Menschen eine Zäsur in ihrer Biografie. In meiner Biografie war es die Zäsur, als Wissenschaftlerin an der Akademie der Wissenschaften der DDR mich in die Abenteuer der Politik zu begeben. Für viele war es aber auch eine Zäsur, die ihnen nicht solche Möglichkeiten eröffnet hat. Ich sage oft: In der DDR haben elf Prozent der Menschen in der Landwirtschaft gearbeitet, ab dem Tag der Wirtschafts- und Währungsunion konnten es nur noch 1,5 Prozent sein. Das heißt, ein großer Teil der Bevölkerung stand vor völlig neuen Situationen; und nicht jedem konnte es gelingen, wieder einen Anknüpfungspunkt zu finden. Die Chancen hingen auch sehr stark vom Lebensalter ab. Viele hätten sich in den Wandel gern mehr eingebracht. Auch darüber müssen wir weiter sprechen. Denn es geht um Biografien, in denen auch Dinge passiert sind, die sich Menschen anders gewünscht hätten.

Sich in einem völlig veränderten Lebensumfeld neu zu orientieren, fiel gewiss nicht jedem leicht. Wenn Sie in einem Staat leben, der für Sie scheinbar alles regelt, auch wenn er ökonomisch immer schwächer wird, dann ist es natürlich gar nicht so einfach, plötzlich in eine freiheitliche Situation zu kommen und genau zu wissen, was die Kinder lernen sollen, wie man was nun machen muss, welche Versicherungen man abschließen soll. Das heißt, Freiheit war auch eine Aufgabe, in ihr zu leben. Deshalb finde ich nach wie vor, dass wir zwischen Ost und West – bei allem, was wir geschafft haben – uns über Biografien und Leistungen noch besser austauschen müssen, um wirklich Verständnis füreinander zu gewinnen. Da bin ich dabei: Wir sollten uns mit der Vergangenheit beschäftigen.

Das eigentlich Spannende ist – ob nun in Sachsen, in Thüringen oder in Mecklenburg-Vorpommern, wo ich herkomme, ob in Bayern, in Rheinland-Pfalz oder sonst wo –: unser Leben sollte eigentlich auf die Zukunft ausgerichtet sein. Wir sollten uns an der Frage orientieren: Was wird aus unseren Kindern und aus unseren Enkeln in einer Welt, die sich massiv verändert? Die Welt fragt nicht jeden Tag, welche Ungerechtigkeiten vielleicht im Zuge der Deutschen Einheit passiert sind, sondern schaut auf Deutschland und sagt: Ihr habt es doch gut gemacht; so wie ihr wollen wir es auch gut machen. Das ist die Aufgabe, vor der wir auch jetzt stehen. Sie haben jetzt die Aufgabe, dies in Ihr weiteres Leben einzubringen.

Ich weiß, dass heute ein Feiertag ist. Ich bin vielleicht ein bisschen streng, wenn ich Ihnen sage, was Sie in Zukunft erwartet. Aber es gibt dieses schöne Wort: „There is no free lunch in this world.“ Das habe ich oft erlebt; und jetzt erleben Sie es auch. Also: keine Absolventenfeier ohne Aufträge.

Ich sage Ihnen nochmals herzlichen Glückwunsch! Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute auf Ihrer weiteren Lebensbahn! Der Universität sage ich ganz herzlichen Dank! Seien Sie weiter so gute Lehrkräfte! Danke dafür, dass ich nun auch mit dieser Hochschule verbunden bin!