Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Ausstellung „Survivors“ am 21. Januar 2020 in Essen

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Sehr geehrter, lieber Herr Fürst,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Armin Laschet,
Herr Oberbürgermeister,
Herr Schoeller,
Herr Diekmann,
alle Gäste schließe ich in meinen Gruß ein!

Als Erstes möchte ich Sie bitten, Herrn Shalev, der heute sicherlich gern hier bei uns gewesen wäre und der uns so bewegende Worte hat zukommen lassen, meine und unsere herzlichen Genesungswünsche auszurichten.

Ihnen, lieber Herr Fürst, danke ich natürlich für Ihre Worte, aber ebenso für diese auch symbolhafte Reise – der Parlamentarische Staatssekretär aus dem Verteidigungsministerium Peter Tauber ist ebenfalls hier – mit einem Flugzeug der Luftwaffe mit Ihnen und Ihrer Familie. Es bedeutet uns unendlich viel, dass Sie diese Reise auf sich genommen haben. Danke schön dafür.

Sie haben den Holocaust nur knapp überlebt. Als das Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 endlich befreit wurde, waren Sie, wie Sie selbst geschrieben hatten, „fast schon auf der anderen Seite“. Hinter Ihnen lagen qualvolle Zeiten in vier Konzentrationslagern. Sie waren noch ein Kind, gerade einmal zwölf Jahre alt.

Ich empfinde tiefe Scham angesichts des Leids, das Ihnen und so vielen anderen Menschen durch den von Deutschland begangenen Holocaust zugefügt wurde. Sechs Millionen Juden – Frauen, Männer, Kinder – wurden gedemütigt, ausgegrenzt, systematisch verfolgt und ermordet. Die Shoa brach mit der Zivilisation, sie brach mit sämtlichen menschlichen Werten. Wir, die wir später geboren wurden, stehen vor diesen Verbrechen und sind fassungslos. Warum konnten Menschen anderen Menschen solche Gräuel antun? Wie konnte es dazu kommen, dass Menschen anderen Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit das Recht auf Leben abgesprochen haben?

Im Dezember letzten Jahres habe ich die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht. Auch die dort verübten Verbrechen lassen einen eigentlich nur verstummen. Niemand kann das Leid wirklich ermessen außer den Menschen, die in diese Hölle gestoßen wurden. Und Sie, lieber Herr Fürst, gehören dazu. Wenn wir Zeitzeugen hören, wenn wir ihre Erinnerungen lesen, dann bekommen wir zumindest eine Ahnung dessen, was sie durchgestanden haben, wie grausam all die vielen Lebenswege durchkreuzt wurden, und damit einen Eindruck davon, was die Shoa bedeutete.

Nur dann, wenn wir uns auch wirklich der leidvollen Schicksale bewusst sind, können wir, glaube ich, der Opfer würdevoll gedenken – der Menschen, deren Leben ausgelöscht wurde, der Menschen, die zwar überlebt haben, aber ihrer Familien, ihrer Freunde, ihrer Heimat, ihrer Jugend, ihrer Träume beraubt wurden, der Menschen, die das Grauen und den Verlust für den Rest ihres Lebens mit sich tragen und weitertragen, die von Angst und Alpträumen nicht mehr losgelassen wurden und werden. All dieser Menschen gedenken wir um ihrer selbst willen und um aus ihren Lebensgeschichten Lehren für uns alle zu ziehen.

75 Jahre nach dem Ende des Zivilisationsbruchs der Shoa begegnen wir mit dieser Ausstellung 75 Überlebenden mit ihren individuellen Schicksalen. Die hier ausgestellten Porträts – ich habe mir einige schon gestern in der Presse angeschaut – haben eine Intensität, die sehr nahegeht. Wir werden das auch nachher noch erleben. Die Porträtierten schauen uns direkt in die Augen. Sie sprechen durch ihre Blicke direkt zu uns. Wie ist das Weiterleben mit Wunden, die immer bleiben, überhaupt möglich? Wie schaffen es Überlebende, Zeugnis von dem abzulegen, was ihnen widerfahren ist? Wieviel Kraft mag es kosten, sich dem Erlebten immer und immer wieder zu stellen? Und wieviel Kraft mag es erst kosten, die Größe zu besitzen, Vergebung und Versöhnung möglich zu machen?

Lieber Herr Fürst, Sie haben einmal berichtet, dass Sie sehr lange gebraucht hätten, um über das Erlebte zu sprechen. Nun halten Sie Vorträge in vielen Ländern. Sie haben Ihre Erinnerungen aufgeschrieben und veröffentlicht. Sie sind Vorsitzender des Beirats KZ Buchenwald der betreffenden Gedenkstättenstiftung. Sie haben von einer – ich zitiere – „heiligen Pflicht“ gesprochen, die Erinnerung an die Shoa zu bewahren. Ich bin Ihnen wie auch jedem und jeder Einzelnen der Porträtierten und allen Überlebenden, die die Kraft aufbringen, die Erinnerung weiterzutragen, unendlich dankbar.

Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel war überzeugt – ich zitiere ihn –: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst zum Zeugen werden.“ Ja, jeder Vortrag, den wir hören, jede Erinnerung, die wir lesen, jedes Foto, das wir sehen, jede Gedenkstätte, die wir besuchen, macht uns unsere Verantwortung bewusst, die Erinnerung an das von Deutschland begangene Menschheitsverbrechen der Shoa wachzuhalten. Das schulden wir jedem einzelnen Opfer. Das schulden wir uns allen. Und wir schulden das auch zukünftigen Generationen.

So ist auch jedes Porträt hier eine Mahnung an uns, für Menschlichkeit einzutreten – eine Mahnung, im Alltag eben nicht zu schweigen und wegzuschauen, wenn jemand angegriffen, gedemütigt und in seiner Würde verletzt wird. Die Menschenwürde zu achten und zu schützen – das ist die vornehmste Pflicht des Staates und unser aller Verantwortung. Wir haben leider Gründe, uns diese Verantwortung heute wieder deutlich ins Gedächtnis zu rufen; und zwar wahrlich nicht erst seit dem Anschlag in Halle. Wir erleben Rassismus und Antisemitismus, Hass und Gewalt in unserem Land. Rassismus und Antisemitismus sind nicht nur ein widerwärtiger Angriff auf einzelne Bürger, sondern eben auch ein Angriff auf die grundlegenden Werte, die unsere Gesellschaft tragen und die unsere Gesellschaft zusammenhalten.

Die Bundesregierung weiß um ihre Pflicht, unsere freiheitliche Demokratie gegen Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus und alle anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu verteidigen. Wir haben deshalb im Oktober letzten Jahres wieder eine Vielzahl von Maßnahmen verabschiedet, um besser sicherzustellen, dass Rechtsextremismus und Hasskriminalität keine Chance haben. Vor allem aber bin ich den vielen Menschen in unserem Land dankbar, die sich im Alltag mit vielen kleinen und großen Gesten und Taten um ein friedliches und respektvolles Miteinander verdient machen.

In dieser Ausstellung ist unter anderem ein Porträt von Eliezer Lev-Zion zu sehen, der 1927 in Berlin geboren wurde. Zu seinem Foto schreibt er: „Ich möchte, dass sich die nächste Generation daran erinnert, was wir ertragen haben. Ich war ein jüdisches Kind, das in eine schöne Welt der Kultur und der Kunst hinein geboren wurde; eines von vielen solcher Kinder, die in blühende jüdische Gemeinden in Europa geboren wurden. Diese Gemeinden wurden völlig zerstört und sechs Millionen Juden wurden verfolgt und ermordet. Wir dürfen nie vergessen!“

Nichts kann die Ermordeten zurückbringen. Doch wir erleben, dass in Deutschland neues jüdisches Leben aufgeblüht ist. Das grenzt an ein Wunder, für das ich zutiefst dankbar bin. Es zeugt von einem großen und alles andere als selbstverständlichen Vertrauen, wenn jüdische Familien in Deutschland ihre Zukunft sehen und aufbauen. Dieses Vertrauen müssen wir pflegen. – Ich weiß, dass es für jüdische Familien in den letzten Jahren schwieriger geworden ist, dieses Vertrauen aufzubringen.

Gleiches gilt für unsere Beziehungen zu Israel. Deutschland und Israel arbeiten auf verschiedensten Feldern eng zusammen – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Unsere beiden Länder einen freundschaftliche Bande zwischen vielen Israelis und vielen Deutschen.

Ausdruck dessen ist auch diese Ausstellung, die in Zusammenarbeit von Yad Vashem und der Stiftung für Kunst und Kultur entstanden ist. Der Fotograf Martin Schoeller hat 75 Überlebende des Holocaust in Israel besucht und mit ihren Porträts ein wirklich beeindruckendes Gesamtwerk geschaffen. Wer sich das Making-of davon anschaut, der sieht auch, dass es durchaus ein sehr intensives Vorhaben war – mit jeder Persönlichkeit in ganz einzigartiger Weise. So setzt diese Ausstellung ein ganz besonderes Zeichen so kurz vor dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, dem 27. Januar, an dem in jedem Jahr weltweit der Opfer der Shoa gedacht wird.

Aber auch über Gedenktage hinaus bleiben unsere Gedanken bei den Opfern und Überlebenden mit ihrer Last des Erlebten. Wir können und müssen die Erinnerung wachhalten. Denn Erinnerung macht uns auch die Verantwortung bewusst, die uns allen zukommt und der sich niemand entziehen kann: die Verantwortung, eine menschliche Zukunft zu gestalten.

Deshalb hoffe und wünsche ich, dass sich viele Besucherinnen und Besucher – der Ministerpräsident hat es gesagt: gerade auch junge Menschen – von dieser Ausstellung ansprechen und dazu bewegen lassen, im täglichen Leben etwas für das zu tun, was unsere Gesellschaft auszeichnen soll, nämlich dass sie eine menschliche ist.

Herzlichen Dank dafür, dass ich dabei sein darf.