Rede von Bundeskanzlerin Merkel vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 20. April 2021 (Videokonferenz)

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Rik Daems,
Frau Generalsekretärin,
Herr Gerichtspräsident,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor 70 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland Vollmitglied im Europarat. Diese Mitgliedschaft war ein wichtiger Schritt, um international wieder Verantwortung übernehmen zu können. Nur wenige Jahre nach dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg und begangenen Zivilisationsbruch der Shoa wurde Deutschland die Hand zur Versöhnung gereicht. Das war wahrlich ein großer Vertrauensvorschuss. Der Europarat war die erste zwischenstaatliche Organisation Europas und die erste internationale Organisation, die Deutschland wieder in die Gemeinschaft der Völker aufnahm.

Der entbehrungsreiche Alltag in der Nachkriegszeit ließ viele Menschen einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Umso bemerkenswerter war die Weitsicht von Staatslenkern, die schon damals ein Zukunftsbild eines geeinten Europas entwarfen ‑ so wie Winston Churchill, der 1946 in Zürich sagte: „Wäre jemals ein geeintes Europa imstande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen die drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaß.“

Mit der Gründung des Europarats nahm diese Vision mehr Gestalt an. Damit verband sich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ‑ ein Versprechen, in Frieden, Freiheit und Wohlstand zusammenleben zu können; ein Versprechen aber, das für die Völker Mittel- und Osteuropas erst Jahrzehnte später nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eingelöst werden konnte. In der Gründung und im Wirken des Europarats kommt zum Ausdruck, was unser Selbstverständnis als Europäerinnen und Europäer ausmacht ‑ welche Werte unsere Gesellschaften prägen und zusammenhalten und welche grundlegenden Erwartungen wir gegenüber den Mitgliedstaaten haben. Der Europarat sieht sich seit jeher dazu verpflichtet, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stärken.

Die Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahre 1950 spiegelt ein neues Verständnis vom Menschen und von der Rolle des Staates wider. Bürger sind keine Objekte ihres Staates, sondern haben umfassende Rechte und Freiheiten. Der Staat muss diese Rechte respektieren und schützen. Daher sollte der Europarat Alarm schlagen, wenn sie in einem Mitgliedstaat gefährdet sind.

Der Europarat ging damals noch einen Schritt weiter: Bürgerinnen und Bürgern soll es möglich sein, ihren eigenen Staat auf Einhaltung ihrer Rechte und Freiheiten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verklagen. Das war revolutionär ‑ und das ist eine Errungenschaft, auf die wir auch heute stolz sein können. Von Lissabon bis Wladiwostok ist dieser Gerichtshof die letzte Instanz für Opfer von Grundrechtsverletzungen.

Wenn wir heute zurückblicken, können wir sagen: Viele Hoffnungen der Nachkriegszeit auf eine bessere Zukunft haben sich erfüllt. Europa ist heute der Kontinent mit den weltweit höchsten Menschenrechtsstandards. Das europäische Modell demokratischer Sozialstaaten und Marktwirtschaften bürgt für eine Lebensqualität, um die uns weltweit nicht wenige beneiden ‑ denken wir nur an Bildung, medizinische Versorgung und politische Stabilität. Genau das haben wir auch der Existenz und der Arbeit des Europarats zu verdanken.

Ein Blick an Europas Außengrenzen und in den Osten Europas zeigt uns jedoch, dass auch heute Frieden und Sicherheit sowie Stabilität und Wohlstand alles andere als selbstverständlich sind. Die Lage in Belarus, im Osten der Ukraine und auf der Krim, in Transnistrien, Südossetien, Abchasien, Bergkarabach oder natürlich auch in Syrien und Libyen ist teils mehr als nur besorgniserregend. Überall dort sehen wir, dass Menschenrechte und Grundrechte, nicht zuletzt die Meinungs- und Pressefreiheit, unter Druck geraten und ausgehebelt werden.

Wenn wir zulassen oder einfach darüber hinwegsehen würden, wie Grundwerte und Grundrechte, die die Kernstücke der Verfassungen demokratischer Staaten sind, missachtet werden, dann würden wir in Kauf nehmen, dass auch das europäische Projekt selbst infrage gestellt würde. Denn wie ernst wir die Menschenrechtslage in anderen Ländern nehmen, wirft immer auch ein Bild darauf, wie ernst wir die Bewahrung der Wertegrundlagen in unseren eigenen Ländern nehmen.

Deshalb haben wir während der deutschen Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union im vergangenen Jahr gerade auch der Rechtsstaatlichkeit Priorität eingeräumt. Das gilt auch für unseren derzeitigen Vorsitz im Ministerkomitee des Europarats. Rechtsstaatlichkeit ist unabdingbare Grundlage für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat und seine Institutionen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen darauf vertrauen können, dass der Staat das von seiner Volksvertretung gesetzte Recht verwirklicht und sich dabei der Kontrolle unabhängiger Richterinnen und Richter unterwirft. Genau dieses Vertrauen ist wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende und damit stabile Demokratie. Wir alle aber wissen, dass Vertrauen flüchtig ist. Tagtäglich muss es von den Repräsentanten des Staates neu erarbeitet und verdient werden.

Nur mit hinreichend Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger lassen sich auch Krisen wie die Coronavirus-Pandemie bewältigen. Hier haben wir es aber in mehrfacher Hinsicht mit einer gewaltigen Herausforderung zu tun - für das Gesundheitswesen und die Forschung wie auch für die Wirtschaft und das soziale Miteinander. Die Pandemie ist ohne Zweifel auch eine Bewährungsprobe für unsere Demokratien. Eingriffe in die Freiheitsrechte des Einzelnen, um die Pandemie bekämpfen zu können, müssen strengen Voraussetzungen genügen und bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Sie müssen jeweils zeitlich befristet, erforderlich, geeignet und verhältnismäßig sein.

Rechtstaatlichkeit schafft nicht nur in der eigenen Gesellschaft eines Staates Vertrauen für ein gutes Miteinander. Auch die internationale Zusammenarbeit, wenn sie dem Wohle aller Beteiligten dienen soll, kann nur auf Basis einer regelbasierten Ordnung funktionieren - also durch gemeinsam vereinbarte Regeln, die auch gemeinsam eingehalten werden. Eine dementsprechend verlässliche Ordnung ist Grundlage für friedliche und auch wirtschaftlich ertragreiche Beziehungen zwischen Staaten. Denn Unternehmen und Investoren brauchen Rechtssicherheit, um vernünftig planen und kalkulieren können. Wenn sie wirtschaftliche Risiken eingehen, müssen sie sich auch darauf verlassen können, dass es ihnen offensteht, sich im Falle eines Falles gegen eine etwaige Vertrags- oder Rechtsverletzung vor unabhängigen Gerichten zu wehren. Wer also Rechtssicherheit fördert und stärkt, fördert zugleich Wohlstand.

Neben dem Eintreten für Rechtsstaatlichkeit leistet der Europarat auch durch den Kampf gegen Korruption einen ganz wesentlichen Beitrag für mehr internationale Verlässlichkeit. Eine regelbasierte Ordnung ist zudem wesentliche Voraussetzung für ein friedliches Miteinander. Es widerspricht unseren gemeinsamen Grundwerten, wenn die Souveränität und Integrität von Staaten infrage gestellt und missachtet werden, wie wir das auf der Krim oder in Bergkarabach erleben. Der Europarat kann hierbei eine entscheidende Rolle spielen, aber eben nur dann, wenn alle Institutionen des Europarats eng zusammenarbeiten.

Daher kann ich Sie, Herr Präsident Daems, nur darin ermutigen, sich weiter konsequent für eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit einzusetzen - zwischen den Regierungen und Parlamentariern der Mitgliedstaaten ebenso wie zwischen der Parlamentarischen Versammlung und dem Ministerkomitee. Ein gutes Zeichen dieser Zusammenarbeit ist der neue gemeinsame Mechanismus, mit dem der Europarat auf Verstöße gegen seine Grundprinzipien im Dialog und auf angemessene Weise reagieren kann.

Eine regelbasierte internationale Ordnung ist auch notwendig angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit, die kein Land allein bewältigen kann. Das gilt mit Blick auf die Coronavirus-Pandemie, den Klimaschutz oder auch die rasanten Entwicklungen im Cyberraum mit all ihren Chancen, aber auch Risiken. Die Sicherheit der Nutzer kann nur grenzübergreifend gewährleistet werden. Damit ist auch der Europarat gefragt, wenn es um den Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel bei der Anwendung künstlicher Intelligenz geht - einem Schwerpunkt unseres Vorsitzes im Ministerkomitee. Auch in der Parlamentarischen Versammlung widmen Sie sich genau diesem Thema. Das begrüße ich sehr, denn auch in der digitalen Welt haben stets der Mensch und seine Würde im Mittelpunkt zu stehen.

Menschenrechte können nur in einer rechtsstaatlichen Ordnung umfassend geschützt werden, in der auch die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz respektiert werden. Umso mehr muss es uns mit Sorge erfüllen, wenn heute sogar in manchen EU-Mitgliedstaaten die Gewaltenteilung infrage gestellt und Gerichte in ihrer Unabhängigkeit eingeschränkt werden.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht den mehr als 800 Millionen Menschen in Europa offen, wenn sie ihre Rechte - obwohl diese in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgt sind - im jeweiligen nationalen Rechtssystem verletzt sehen. Aber leider werden Urteile dieses Gerichtshofs immer wieder schleppend, nur teilweise oder eben gar nicht umgesetzt. Gerade in Fällen, in denen Menschen zu Unrecht in Haft sitzen, ist die Umsetzung der Urteile, also die Freilassung der Inhaftierten, besonders dringlich und geboten. Unsere Verpflichtungen im Europarat zum Schutz der Menschenrechte stehen nicht zur Disposition. Deshalb kann es auch keinen Vorrang des nationalen Rechts vor den Pflichten aus der Konvention geben. Auch die Venedig-Kommission des Europarats hat dies in ihren Gutachten sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.

Es ist wichtig, dass der Europarat und die Europäische Union in Fragen fundamentaler Werte und Grundrechte wirksam zusammenarbeiten. Daher freut es mich, dass die Verhandlungen über den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wieder aufgenommen wurden und nun vorangetrieben werden. Ein Beitritt würde eine Lücke im europäischen Menschenrechtsschutzsystem schließen, was, so meine ich, in unser aller Interesse liegt.

Im Mai jährt sich die Erstunterzeichnung der Istanbul-Konvention zum zehnten Mal. Diese Konvention setzt international einmalige Maßstäbe zum Schutz von Frauen gegen Gewalt, vor allem auch gegen häusliche Gewalt. Daher bedauere ich zutiefst, dass die Türkei aus dieser Konvention ausgetreten ist. Ich hätte mir gewünscht, dass sie Mitglied bleibt. Genauso wünsche ich mir, dass die Mitgliedstaaten gerade auch innerhalb der Europäischen Union, die die Konvention noch nicht ratifiziert haben, dies nachholen.

Frauenrechte sind Menschenrechte. Gewalt gegen Frauen darf nicht ignoriert werden. Sie ist ein Verbrechen; und als solches muss Gewalt gegen Frauen benannt und geahndet werden - erst recht, da es sich zeigt, dass Gewalt gegen Frauen in diesen Krisenzeiten noch zugenommen hat. Daher möchte ich Sie bitten, in Ihren Ländern für diese Konvention und deren konsequente Umsetzung zu werben.

Meine Damen und Herren, vor 70 Jahren verglich Bundeskanzler Adenauer den Europarat mit einem europäischen Gewissen. Seit damals haben sich die Zeiten und mit ihnen die Herausforderungen geändert, nicht aber die Grundwerte, auf denen Europa aufbaut und die die europäische Identität ausmachen.

Sie alle tragen politische Verantwortung. Sie alle sind heute Teil des europäischen Gewissens. Ich kann Sie nur ermuntern: Bleiben Sie wachsam und engagiert, um Europas Grundwerte mit Leben zu erfüllen, um Menschenrechtsverstößen Aufmerksamkeit und Menschenrechten Geltung zu verleihen.

Ich danke Ihnen sehr und freue mich jetzt auf Ihre Fragen. Sicherlich kann ich nicht alle ‑ mehr als 70 ‑ beantworten, aber wir haben noch etwas Zeit, in der ich möglichst viele beantworten möchte. Herzlichen Dank.