Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Jahresversammlung des Verbandes deutscher Unternehmerinnen am 16. Mai 2019 in Berlin

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Sehr geehrte Frau Präsidentin Arbabian-Vogel,
meine Damen und auch vereinzelten Herren,

ich möchte Sie ganz herzlich auch von meiner Seite grüßen und freue mich, wieder einmal zu Gast zu sein – und das zu einem halbrunden Jubiläum. Denn vor 65 Jahren, 1954, wurde der VdU gegründet. Sie haben die Parallelität zu meinem Lebensalter aufgezeigt. Es war vielleicht kein ganz schlechter Jahrgang. Also herzlichen Glückwunsch und alles Gute.

Es ist ja immer wieder zu hören, dass etwas erfunden werden müsste, wenn es das noch nicht gäbe. Und das trifft auf jeden Fall auf Ihren Verband zu. Seit 65 Jahren streitet und wirbt der VdU für mehr weibliches Unternehmertum, mehr Frauen in Führungspositionen und bessere Bedingungen für Frauen in der Wirtschaft. Hinter diesem Einsatz stehen ein Netzwerk und ein breites Bündnis von mehr als 1.800 Unternehmen mit mehr als 500.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 85 Milliarden Euro. Schon diese Zahlen zeigen, welchen Beitrag Sie für die wirtschaftliche Stärke und damit auch für den Wohlstand unseres Landes leisten. Sie zeigen, wie erfolgreich Unternehmerinnen sind.

Spätestens seit vor 100 Jahren die ersten Frauen als Abgeordnete ins Nationalparlament gewählt wurden, dürfte auch dem Letzten klargeworden sein, dass ohne Frauen kein Staat zu machen ist. Ein Staat hat viele Facetten; und dazu gehört eben auch Unternehmertum. Auch Frauen als Unternehmerinnen gehören dazu. Sie sind der Beweis, dass ohne Frauen eben auch keine Wirtschaft zu machen ist, jedenfalls keine dauerhaft erfolgreiche. Ich bin zutiefst überzeugt, dass, wenn wir später auch den 75. Geburtstag und den 85. Geburtstag feiern werden, die Bedeutung von Frauen in der Wirtschaft bis dahin weiter zugenommen haben wird.

Wir haben heute im Deutschen Bundestag an 70 Jahre Grundgesetz gedacht. Wenn man sich überlegt, wie lange Frauen dafür kämpfen mussten, ohne Einwilligung des Mannes überhaupt erwerbstätig zu werden, dann zeigt sich, dass wir auch selbst in der Bundesrepublik Deutschland – vor allen Dingen auch in der alten Bundesrepublik – doch immer wieder mutiger Frauen bedurften, die manche Dinge vorangetrieben haben. Manchmal mussten auch die Gerichte entscheiden, weil die Politik nicht dazu in der Lage war.

Die Zahl der erwerbstätigen Frauen insgesamt ist, vor allem in den letzten Jahren, deutlich gestiegen. Vor allem Sie sind es, die als Unternehmerinnen ganz besondere Akzente in der und für die Wirtschaft setzen. Damit sind Sie wiederum Vorbilder für viele andere. Sie sind gut miteinander vernetzt, auch weit über die Landesgrenzen hinaus. Sie verschaffen sich und Ihren Anliegen weithin Gehör. Ich glaube, man kann deshalb mit Fug und Recht behaupten, dass der VdU die frauenpolitische Stimme in der Wirtschaft ist. Und als solche möchte ich Sie auch beglückwünschen.

Ich bin überzeugt: Diese Stimme braucht es, wenn wir über Zukunftsfragen sprechen, bei denen es ja ganz wesentlich auf Kreativität und Innovation ankommt. Das unterstreichen Sie ja auch mit dem Motto Ihrer Jahresversammlung „Kreativität und Innovation – Zukunftswerkstatt für Unternehmerinnen“. Genau das ist das Fundament, auf dem wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlstand gedeihen können. Wir leben ja in Zeiten – das spürt man ja allerorten –, in denen neue Gedanken gebraucht werden, in denen Innovation gebraucht wird, vor allen Dingen auch der Perspektivwechsel, den Sie eben angesprochen haben. Ich glaube, dazu braucht man die Frauen. Männer schaden nicht, aber alleine und ohne Frauen geht es auch nicht.

Unser Land gehört ja heute noch – ich hoffe, dass das auch so bleibt; aber wir müssen darum kämpfen – zu den führenden Wirtschaftsnationen der Welt, weil wir immer wieder in der Lage sind, Produkte zu entwickeln, die zuvor noch niemand anzubieten hatte. Diese Fähigkeit und auch dieses Selbstverständnis werden in den nächsten Jahren mehr denn je gebraucht werden, denn die Welt schläft nicht.

Wir haben erlebt, dass immer wieder Frauen mit Erfindungen ganz wesentlich dazu beigetragen haben. Manchmal haben Frauen selbst mit den einfachsten Mitteln gezeigt, wie man große Markterfolge erzielt. Die erste Tasse Kaffee beim Frühstück erinnert uns schon daran. Melitta Bentz war der Kaffeesatz in ihrer Tasse nicht recht. Also hat sie den ersten Kaffeefilter erfunden – mit einem Topf, den sie mit Hammer und Nagel durchlöcherte, und einem Löschblatt, das sie darauflegte. Sie meldete ihre Erfindung 1908 zum Patent an und ließ sich mit einem Eigenkapital von 73 Pfennigen ins Handelsregister eintragen. So nahm mit ganz einfachen Mitteln eine außergewöhnliche Unternehmensgeschichte ihren Lauf. Unternehmerische Weitsicht bewies etwa auch Marga Faulstich mit der Entwicklung von Brillengläsern und anderen optischen Gläsern. Rund 40 Patente sind mit dem Namen der ersten weiblichen Führungskraft bei Schott-Glas verbunden.

Über solche spannenden Lebens- und Berufswege könnte man eine ganze Vorlesungsreihe halten. Und man müsste sie immer wieder erweitern. Denn auch heute tragen viele Unternehmerinnen mit kleinen und großen Erfindungen zu unserem Wohlstand bei. Wenn man hier in diesen Saal kommt, dann sieht man ja schon, dass Frauen auch ganz praktisch veranlagt sind, ihre Produkte gleich anderen Frauen zeigen und damit zur Weiterverbreitung beitragen.

Wir wissen und Sie spüren es: Unsere Zeit ist geprägt von einem rasanten technologischen Wandel, der vor allem durch Digitalisierung und mehr und mehr durch Künstliche Intelligenz vorangetrieben wird. Um die Chancen, die damit einhergehen, nutzen zu können, müssen möglichst überall leistungsstarke Breitband- und Mobilfunknetze verfügbar sein. Ihre Präsidentin hat schon den rhetorischen Trick angewandt, zu sagen, worüber sie alles nicht sprechen möchte. Aber ich kann ihr sagen: Wir kommen beim Ausbau gigabitfähiger Netze voran. Aber die Zeit drängt; wir müssen uns sputen. Es reicht nicht mehr aus, jeden Haushalt mit dem Breitbandnetz zu verbinden, sondern es gibt auch die Erwartung von Landwirten, von Forstwirten und von allen, die auf der Landstraße telefonieren wollen, dass man halt nicht nur zu Hause eine vernünftige Anbindung an das Internet hat, sondern überall.

Deshalb müssen wir mehr privatwirtschaftlichen Ausbau haben und dafür die richtigen Anreize setzen – und dort, wo der Markt den Netzausbau alleine nicht schafft, eben auch als Staat unterstützend tätig werden. Das ist eine neue Herangehensweise. Stromversorgung, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung und anderes werden vom Staat als sogenannte Daseinsvorsorge organisiert. Wir sind jetzt zum ersten Mal dabei, mit marktwirtschaftlichen Mitteln, wenn auch mit staatlicher Unterstützung, zu versuchen, flächendeckend eine neue Daseinsvorsorge zu schaffen. Da müssen wir natürlich auch in der Politik dazulernen.

Heute ist jede Branche auf eine leistungsfähige digitale Infrastruktur angewiesen; und das gilt ganz besonders für die Start-up-Szene. Für Frauen in Start-ups war 2018 ein gutes Jahr, in dem sich vier Prozent mehr Frauen selbständig machten als im Jahr davor. Bei Männern hingegen waren es fünf Prozent weniger. Wir haben es also nicht zuletzt Frauen zu verdanken, dass sich die Gründungstätigkeit hierzulande nach eher verhaltenen Jahren wieder stabilisiert hat. Die Berliner Start-up-Szene zum Beispiel steht besonders gut da. Mit rund 40.000 Gründungen im Jahr ist unsere Hauptstadt auch die Gründermetropole. Hier vernetzt sich die internationale Digital-Community in den Bereichen FinTech und Internet of Things. Hier werden innovative Geschäftsmodelle für global agierende Unternehmen und den Mittelstand entwickelt. Um die Zusammenarbeit zu stärken, gibt es bei uns die Digital Hub Initiative. Mit ihr wollen wir regionale Kooperationen von Wissenschaft, Start-ups, Mittelstand und Großunternehmen unterstützen.

Aber wir können mehr erreichen. Wir wissen, dass es an Kapitalangeboten mangelt; und wir nehmen das, was Sie sagen, sehr ernst, nämlich dass Frauen immer noch schwerer an Kapital herankommen. Es ist sicherlich eine gute Nachricht, dass sich der Venture-Capital-Markt gut entwickelt hat. Bundesweit flossen 2018 insgesamt 4,6 Milliarden Euro allein in junge Technologiefirmen. Aber wir brauchen viel mehr Investoren am deutschen Venture-Capital-Markt, damit Ideen und Geschäftsmodelle, die bei uns entwickelt werden, auch bei uns mit Erfolg umgesetzt werden können.

Wir brauchen die richtigen steuerlichen Rahmenbedingungen. Der Bundeswirtschaftsminister hat hierzu jüngst Vorschläge gemacht, über die wir nun diskutieren. Wir haben auch schon einige Verbesserungen erreicht. Das ist mit Blick auf das europäische Recht zum Teil gar nicht so einfach. Wir werden auch mit großer Wahrscheinlichkeit – ich bin einmal ganz vorsichtig – nächste Woche im Kabinett einen Gesetzentwurf zur steuerlichen Forschungsförderung beschließen. Dabei wird es darum gehen, dass es finanzielle Zulagen von bis zu 500.000 Euro pro Unternehmen und Jahr gibt, wenn man sich in der Forschung engagiert.

All das ist wichtig, aber bei Ihnen geht es natürlich auch um die Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Deshalb sage ich ausdrücklich: Das ist wichtig für Unternehmerinnen und alle, die ihre Frau im Beruf stehen. Wir wollen, dass Frauen in gleichem Umfang teilhaben. Das Ziel kann nicht sein, irgendwo bei 20 oder 30 Prozent stehenzubleiben, sondern wir müssen in allen Bereichen Parität haben, wenn wir wirklich von Gleichberechtigung sprechen wollen. Daher gibt es uns natürlich zu denken, dass das Weltwirtschaftsforum unser Land bei der Geschlechtergerechtigkeit nur auf den weltweit 14. Platz gesetzt hat. Wir sind bei Innovationen im letzten Jahr auf dem ersten Platz gewesen und sind bei der Geschlechtergerechtigkeit auf dem 14. Platz – das kann uns nicht zufriedenstellen. Wir brauchen also mehr Ehrgeiz für Chancengerechtigkeit; und das gilt überall – in Unternehmen, in Universitäten, in der Politik, in der Kultur, in den Medien. Parität muss die Aufgabe und die Vorstellung sein.

Doch wir haben nach wie vor zu wenige Frauen in Führungspositionen. Wir wissen, wie wichtig die Rollenmodelle und die Vorbilder sind; Sie haben davon auch gesprochen. Das gilt für die Privatwirtschaft ähnlich wie für den öffentlichen Dienst. Wir haben uns für das Jahr 2025 vorgenommen, im öffentlichen Dienst des Bundes bei der Parität angelangt zu sein. Ich darf sagen, dass ich nach etwas mehr als 13 Jahren im Bundeskanzleramt heute sagen kann, dass die B9-Stellen bei uns im Kanzleramt paritätisch verteilt sind. Es gibt sogar drei weibliche Staatsministerinnen und einen männlichen Staatsminister. Dafür gibt es einen männlichen Kanzleramtsminister, aber auch eine weibliche Kanzlerin. Wir sind also wirklich vorangekommen. Als ich Bundeskanzlerin wurde, sah das noch ganz anders aus.

Laut AllBright-Bericht finden sich unter den deutschen Aufsichtsräten und Vorstandsvorsitzenden am häufigsten die Namen Michael und Thomas. Es gibt mehr Aufsichtsratsvorsitzende, die Michael heißen, als weibliche Aufsichtsratsvorsitzende insgesamt. Das muss sich ändern, meine Damen und Herren. Diese Ansicht ist im Übrigen nicht neu. Denn schon Ihre erste Präsidentin, Käte Ahlmann, vertrat diese Ansicht und brachte sie 1958 mit eingängigen Worten zum Ausdruck: „Ob mir ein Mann seinen Sitz in der Straßenbahn anbietet, ist mir egal. Er soll mir einen Sitz in seinem Aufsichtsrat anbieten.“ Das war vor 61 Jahren. Dennoch gelang es erst in den letzten Jahren mit einem ganzen Paket von Maßnahmen, diesen äußerst unbefriedigenden Zustand wenigstens etwas aufzubrechen.

Heute gibt es immerhin 30 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten der 100 größten börsennotierten Unternehmen. Aber in den Vorständen dieser Unternehmen sieht es für Frauen immer noch deprimierend schlecht aus; denn da sind Frauen nur mit 8,5 Prozent vertreten – und das, obwohl sich die Unternehmen eine Zielgröße für den Vorstand setzen müssen. Sie glauben gar nicht, wie viele Unternehmen uns einfach schreiben: „Zielgröße: null Steigerung.“ Das grenzt schon an Verweigerungshaltung, muss ich sagen.

Ich will an dieser Stelle auch noch einmal offen sagen: Es wird ja oft darüber geschimpft, dass wir so vieles an staatlicher Regulierung machen. Aber was wollen Sie nach der zehnten Selbstverpflichtung, nach dem 15. Mahnen, nach dem 16. Gut-Zureden tun, wenn sich einfach nichts ändert und wenn man in den Aufsichtsräten jetzt sieht, dass es mit etwas Druck doch geht? Wenn es die Politik des leeren Stuhls gibt, wenn man sagt „Dann könnt ihr eben den frei gewordenen Stuhl gar nicht mehr besetzen, weil das sonst rechtlich nicht mehr okay ist“, dann geht es plötzlich. In unserer Gesellschaft muss es normal werden, dass man einfach danach schaut, wie man potenziell gute Frauen finden kann. Sie finden sich, wenn man nur will; das ist die Erfahrung. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht alles und jedes regulieren müssen, sondern dass sich das von alleine entwickelt. Bitte lassen Sie uns das gemeinsam tun. Ansonsten muss man eben noch härter darangehen. Wir werden in Zukunft zum Beispiel darangehen müssen – ich habe mir das alles nicht gewünscht, als ich mich vor fast 30 Jahren über die Deutsche Einheit gefreut habe; damals habe ich mir nicht vorstellen können, wie mühselig der Teil der Umsetzung des deutschen Grundgesetzes, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, ist –, wenn uns Unternehmen einfach wieder die Zielgröße Null mitteilen, das in irgendeiner Weise zu sanktionieren. Dann bitte ich auch um Verständnis dafür.

Der öffentliche Dienst versucht – ich habe es schon gesagt –, mit gutem Beispiel voranzugehen. 2025 wollen wir Parität erreichen. Aber es geht natürlich auch um eine Unternehmens- und Arbeitskultur mit echter Chancengleichheit. Es geht darum, dass Frauen nicht als Zählkandidatinnen auf den Shortlists für verantwortungsvolle Positionen auftauchen, sondern dass sie wirklich gleichberechtigt teilhaben können, dass sie in Meetings zu Wort kommen und dass sie gleich bezahlt werden wie ihre männlichen Kollegen.

Um das alles zu erreichen, ist das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie essenziell für unsere Gesellschaft. Das betrifft berufstätige Mütter und Väter gleichermaßen. Das Rollenverständnis wird sich für beide Geschlechter ändern müssen. Es ändert sich ja – das muss man ja auch sehen – bei jüngeren Männern. Das müssen wir vorantreiben; und deshalb ist Frauenpolitik, weiß Gott, nicht nur eine Politik, die sich an Frauen wendet, sondern Frauenpolitik ist eine Gesellschaftspolitik, die sich an alle wendet.

Es geht etwa auch darum, Führung in Teilzeit zu ermöglichen. Hierfür gibt es interessante Modelle. Wir probieren sie jetzt auch im Kanzleramt aus. Es zeigt sich, dass auch das möglich ist. Man muss also, wie gesagt, kreativ denken, innovativ denken. Wir haben in den letzten Jahren wirklich viel getan, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familien zu verbessern. Das Elterngeld ist eingeführt worden. Das Elterngeld mit den Vätermonaten hat dazu geführt, dass Unternehmen nicht mehr genau wissen, wer die Elternzeit nimmt. Das bringt natürlich Veränderungen mit sich. Wir haben den Rechtsanspruch für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren festgeschrieben und werden noch daran arbeiten, den Rechtsanspruch auch für eine Grundschulbetreuung festzuschreiben.

Rückständige Geschlechterklischees engen im Übrigen auch die Handlungsspielräume von Männern unnötig ein. Es gibt auch immer wieder Situationen, in denen Väter auf wenig Verständnis stoßen, wenn sie zum Beispiel Elternzeit nehmen wollen. Das ist genauso diskriminierend, wie es im umgekehrten Falle bei Frauen ist. Gleichstellung ist also eine Frage, die Frauen und Männer gemeinsam betrifft und die wir auch nur gemeinsam lösen können – sei es bei der Personalauswahl im Unternehmen oder bei der Aufteilung der Hausarbeit und der Kinderbetreuung.

Meine Damen und Herren, wir brauchen natürlich auch flexible Öffnungszeiten, wenn es um Kinderbetreuung geht. Seitens des Bundes haben wir die Kommunen in der letzten Legislaturperiode mit über sechs Milliarden Euro unterstützt. Wir haben jetzt das sogenannte Gute-Kita-Gesetz verabschiedet. Ich muss Ihnen sagen, dass ich persönlich sehr skeptisch bin, wenn manche Länder voll auf die komplette Beitragsfreiheit setzen, aber gleichzeitig keine flexiblen Öffnungszeiten, einen schlechten Betreuungsschlüssel und schlechte Integrationsmöglichkeiten haben. Ich denke, hier sollte man einen Weg finden, der bezahlbare Gebühren mit einer guten Qualität der Betreuung verbindet. Denn inzwischen wissen wir ja, dass die ersten Lebensjahre für die Bildungschancen von Kindern besonders wichtig sind. Jahrelang aber hat man gesagt, der Ernst des Lebens beginne mit der Schule. Das ist eine sehr deutsche Betrachtungsweise. Inzwischen hat man akzeptiert, dass Bildung auch vorher stattfindet und dass Schule auch Spaß machen kann. Beides hilft gerade auch Mädchen, sich später besser zurechtzufinden.

Chancengleichheit haben wir also dann erreicht, wenn es eines Tages völlig normal und ganz selbstverständlich ist, dass der Vater die Elternzeit nimmt und die Vorstandsvorsitzende eine Frau ist. Dafür haben wir noch eine ganze Menge zu tun.

Meine Damen und Herren, weil wir uns so gern als Land der Chancen begreifen wollen, müssen wir Rollenklischees überwinden und einfach sagen: Jeder hat seine Chancen. Jeder und jede soll seinen Weg finden – auch was das Thema MINT-Fächer anbelangt. Doch noch immer trauen sich viel zu wenige junge Frauen zu, Berufe mit MINT-Qualifikationen anzusteuern. Wir haben in der MINT-Förderung viel unternommen. Aber wir sehen auch, dass wir solche Erfolge, wie sie zu wünschen wären, bis jetzt noch nicht erreicht haben. Jedes Jahr löse ich beim Girls’ Day eine Preisfrage an Schülerinnen auf, die aus verschiedenen Berliner Schulen zu uns ins Bundeskanzleramt kommen. Bei diesen Fragen geht es zum Beispiel darum, wie viele junge Frauen das Ingenieurstudium begonnen haben oder Softwareprogrammiererinnen oder etwas Ähnliches werden. Immer liegt die Zahl deutlich unter 30 Prozent. Das kann uns nicht zufriedenstellen.

Ich bin auch durchaus sehr gespannt auf Hinweise, die Sie geben wollen. Ich persönlich würde aufgrund der Erfahrung aus meinem eigenen Leben, aus meinem eigenen Physikstudium sagen, dass getrennte Unterrichtung oder zumindest getrennte Praxisseminare von Mädchen und Jungen kein Fehler sein müssen, weil deren Herangehensweise oft etwas unterschiedlich ist. In meinem Physikstudium haben die männlichen Beteiligten erst einmal eine Okkupation aller Geräte vorgenommen, um dann in einer Serie von Fehlern zu versinken und eigentlich auch nicht schneller fertig zu sein als ich, die ich mich erst einmal ruhig vor ein Gerät gesetzt habe, falls noch eines frei war, lange nachgedacht und irgendwann etwas getan habe. Das hat auch gedauert, war aber nicht stärker oder schwächer fehlerbehaftet. Vielleicht gibt es eben doch unterschiedliche Herangehensweisen.

Wir müssen jedenfalls junge Mädchen und Frauen für MINT-Fächer begeistern. Denn in den nächsten Jahren wird die Wertschöpfung im Zuge der Digitalisierung noch stärker in diesen Fächern stattfinden. Wenn Frauen am Wohlstand teilhaben wollen, wenn sie bei den Einkommen gleichziehen wollen, dann wird das ganz ohne MINT-Fächer nicht gutgehen. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass wir nicht nachlassen dürfen, für MINT-Fächer zu werben. Das zeigt etwa auch der Blick auf die Technologie-Start-ups. Denn hier erfolgen nur 15 Prozent der Gründungen durch Frauen. Ich habe erst über die Steigerungsrate gesprochen – sie ist erfreulich –, aber zwischen 15 Prozent und 50 Prozent gibt es noch einen ziemlich langen Weg zu gehen.

Im Global Gender Gap Report 2018 werden 20 Länder miteinander verglichen, die sich in Fähigkeiten im Bereich der Künstlichen Intelligenz besonders hervortun. Deutschland belegt in dieser Liste den respektablen dritten Platz. Aber im Vergleich der weiblichen KI-Fachkräfte belegen wir von 20 Ländern nur den drittletzten Platz. Es zeigt sich also, dass bei uns noch irgendetwas anders sein muss als woanders. Mit einem Frauenanteil von 16 Prozent liegen wir deutlich unter dem Durchschnitt von 21 Prozent, der für sich betrachtet auch eher beschämend ist.

Deshalb haben wir schon während der deutschen G20-Präsidentschaft vor zwei Jahren auf dem W20-Dialogforum – Sie haben es erwähnt –, das der VdU damals gemeinsam mit dem Deutschen Frauenrat veranstaltet hat, gefordert, dass wir die digitalen Fertigkeiten von Frauen und Mädchen fördern müssen. Das Engagement und die Erfahrungen des Verbandes deutscher Unternehmerinnen und des Deutschen Frauenrates in der W20 sind von großem Wert. Als Women20 sind Sie in Tokyo Ende März wieder zusammengekommen. Ich danke allen im VdU, die mit ihren Partnerverbänden die Empfehlungen für den G20-Gipfel in Osaka erarbeitet haben. Wir freuen uns, dass Japan als diesjähriger Ausrichter des G20-Gipfels das Frauenthema aufgenommen hat. Denn gerade in Gesellschaften – das gilt für Japan wie auch für Deutschland – mit einem demografischen Problem, mit demografischen Herausforderungen wie einem abnehmenden Fachkräftepotenzial ist es so unendlich wichtig, die Potenziale von Frauen wirklich zu erschließen.

Deshalb danke ich Ihnen, weil Ihr Wissen, Ihre Erfahrungen und Ihre Kompetenzen gefragt sind. Jede Einzelne von Ihnen ist auf diese oder jene Weise Vorbild für viele, viele andere. Als erfahrene Unternehmerinnen können Sie auch voneinander lernen, aber Sie können vor allen Dingen auch Impulse in die Gesellschaft geben. Ich glaube, liebe Frau Arbabian-Vogel, dass Sie und alle Ihre Mitstreiterinnen das auch mit Verve tun. Auf Ihrem Verbandstag können Sie Kraft schöpfen, aber die eigentliche Schlacht findet draußen statt. Bitte lassen Sie uns auch an Ihren Erfahrungen teilhaben. Wir können ja auch aus den Beispielen, in denen manches noch nicht so gelingt, lernen, dass es besser gelingt.

Ich glaube, dass sich in den nächsten Jahren die Chancen verbessern werden, weil wir, wie gesagt, Fachkräfte, Kreativität und Bereitschaft zu neuen Wegen brauchen. Weil Frauen doch immer bereit sein müssen, gerade auch durch viele Arbeit, die in der Familie stattfindet, nicht immer nur in vorgefahrenen Wegen zu arbeiten, sondern spontan und auf die Realität reagierend Lösungen zu finden, setze ich viel Vertrauen in Sie – nicht im Gegeneinander zu Männern, aber durch klares Abstecken der eigenen Positionen und auch durch klares Markieren dessen, was im 21. Jahrhundert nicht mehr geht.

Deshalb herzliche Glückwünsche und viel Kraft. Lassen Sie sich nicht in die stille Ecke verbannen. Aber das tun Sie eh nicht. Verbreiten Sie guten Mut und Optimismus nach draußen. Dann werden ich und die ganze Bundesregierung an Ihrer Seite stehen.

Herzlichen Dank und alles Gute.