Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel, Bundeswirtschaftsminister Brüderle und Bundesumweltminister Röttgen zur Nutzung der Kernenergie in Deutschland

Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel, Bundeswirtschaftsminister Brüderle und Bundesumweltminister Röttgen zur Nutzung der Kernenergie in Deutschland

in Berlin

  • Mitschrift Pressekonferenz
  • Dienstag, 22. März 2011

BK'IN MERKEL: Meine Damen und Herren, wir haben uns noch einmal mit den Ministerpräsidenten derjenigen Länder getroffen, die Kernkraftwerke betreiben, haben für die Diskussion des Themas „Wie erreichen wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien schneller bzw. möglichst schnell?“ aber auch eine Einladung an alle Ministerpräsidenten vorbereitet. Ich werde ‑ auch im Namen der in der Bundesregierung beteiligten Ministerien ‑ alle Ministerpräsidenten für den 15. April einladen, um über das Thema beschleunigter Ausbau der erneuerbaren Energie, das Thema des beschleunigten Ausbaus der Stromnetze und das Thema der Energieeffizienz zu diskutieren. Insofern haben wir über diese Themen heute nicht gesprochen; denn das ist in der Tat die Aufgabe aller Bundesländer und wird dann auch im Kreis aller Ministerpräsidenten besprochen werden.

Heute haben wir uns noch einmal mit den Fragen der Sicherheit beschäftigt. Sie wissen, dass wir in der vorigen Woche ein Moratorium für den Betrieb der sieben ältesten Kernkraftwerke ausgesprochen haben und eine Sicherheitsüberprüfung für alle Kernkraftwerke in Deutschland angeordnet haben. Wir nehmen als Ausgangspunkt ‑ und das bestimmt natürlich auch alle damit verbundenen Fragestellungen ‑ die Ereignisse in Japan im Zusammenhang mit dem Kernkraftwerk Fukushima, die uns natürlich immer noch aktuell beschäftigen. Hier geht es aber um die Frage: Was lernen wir in Deutschland aus diesen Ereignissen? Hierbei geht es also sozusagen um die nationale Dimension. Daraus ergibt sich dann auch der Arbeitsplan, der während der Zeit des Moratoriums zu erfüllen ist.

Wir haben außerdem eine europäische Dimension, die sich mit der Frage befasst: Wie steht es um die Sicherheit europäischer Kernkraftwerke, vorzugsweise der Kernkraftwerke innerhalb der Europäischen Union? Darüber und über das Treffen der Energieminister am gestrigen Tage kann Minister Brüderle nachher auch noch etwas berichten. Des Weiteren geht es auch um die internationale Dimension. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde zum Beispiel hat gesagt, dass im Lichte der Ereignisse in Japan auch international die Sicherheitsstandards überprüft werden. Auch im G20-Bereich ‑ darüber sprach ich ja schon ‑ werden wir die Sicherheitsstandards noch einmal ins Auge fassen, und das sowohl auf der Ebene der Energieminister als sicherlich auch auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. In der Europäischen Union werden wir am Freitag gerade auch über das Ergebnis des Energieminister-Treffens sowie auch über die Vorstellungen des Kommissars Oettinger und das Ergebnis seines Treffens mit den Kernkraftwerksbetreibern sprechen.

Heute stand naturgemäß die Frage „Wie gehen wir mit den Sicherheitsfragen im nationalen Bereich um?“ im Mittelpunkt. Sie wissen, dass das Bundesumweltministerium auch das Ministerium ist, das sich mit dem Thema Reaktorsicherheit befasst, und dem Bundesumweltministerium zugeordnet ist die sogenannte Reaktorsicherheitskommission. Ich sage es noch einmal: Die Fragen, die wir zu beantworten haben, stellen sich infolge des Erdbebens und des Tsunamis in Japan. Deshalb wird die Reaktorsicherheitskommission neue Fragen erarbeiten. Der Bundesumweltminister wird dazu Stellung nehmen und daraus auch einen Arbeitsplan für alle Kraftwerke ‑ vorzugsweise erst einmal für die älteren Kraftwerke ‑ aufstellen ‑ mit neuen Prüfaufgaben, die sich aus dem, was in Japan passiert ist, herausschälen und ergeben.

Bei diesen Prüfaufgaben geht es vor allen Dingen auch um die Frage kumulativer Ereignisse, um die Frage der Auslegung der Kernkraftwerke und um die Frage, inwieweit die Begrenzungen dieser Auslegung ausreichen. Dabei geht es auch um zivilisatorische Ereignisse; neben vielem, was diskutiert wird, kann man in diesem Zusammenhang vielleicht auch Cyberangriffe auf die Rechenanlagen nennen. Es geht also um eine Vielzahl von Fragestellungen, die wir im Lichte der Ereignisse in Japan gegebenenfalls neu bewerten müssen. Das heißt, jetzt werden nicht alle alten Fragen, die mit Blick auf die Sicherheit sowieso schon gestellt werden, noch einmal gestellt, sondern es wird gezielt an neuen Fragen gearbeitet und dann mit den Ländern darüber gesprochen, wie das mit Blick auf die Kernkraftwerke umgesetzt wird, das heißt, welche Folgerungen sich daraus ergeben.

Wir sind uns im Klaren, dass dies vor allen Dingen eine technische Aufgabe ist. Die technischen Werte und Ergebnisse sind sicherlich wichtig, aber sie führen noch nicht zu einem gesellschaftlichen Konsens, zu einer gesellschaftlichen Betrachtungsweise des Umgangs mit Risiken und mit bestimmten Konstellationen. Deshalb haben wir uns entschlossen, neben der klassischen Reaktorsicherheitskommission eine zweite Kommission einzusetzen, und zwar eine Ethikkommission für sichere Energieversorgung. Diese Ethikkommission wird die Aufgabe haben, Risiken zu bewerten und einzuordnen. Das heißt, sie wird sich auf der einen Seite mit den Fragen der Sicherheit der Kernenergie beschäftigen, auf der anderen Seite aber auch mit der Schlüssigkeit der Frage: Wie kann ich den Ausstieg mit Augenmaß so vollziehen, dass der Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ein praktikabler ist, ein vernünftiger ist, und wie kann ich vermeiden, dass zum Beispiel durch den Import von Kernenergie nach Deutschland Risiken eingegangen werden, die vielleicht höher zu bewerten sind als die Risiken bei der Produktion von Kernenergie-Strom im Lande? Es geht dabei also um die Bewertung von Risiken.

Dieser Kommission sollen zwei Persönlichkeiten vorsitzen: Das sind einmal Prof. Dr. Klaus Töpfer und zum anderen Prof. Dr.-Ing. Matthias Kleiner. Herrn Töpfer kennen Sie. Herr Kleiner ist Präsident der Deutschen Forschungsgesellschaft und von Haus aus Ingenieur, also sowohl durch seine Fachrichtung als auch durch seine Aufgabe als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft dafür geeignet, den wissenschaftlichen Blick zu bringen. Professor Klaus Töpfer brauche ich in dieser Runde hier nicht vorzustellen; er ist als jemand, der im nationalen wie auch im internationalen Bereich über ein hohes Maß an Erfahrung mit Blick auf nachhaltiges Wirtschaften verfügt, eine ausgezeichnete Persönlichkeit.

Außerdem in die Kommission aufgenommen haben wir Persönlichkeiten aus dem Bereich der Kirchen, Persönlichkeiten, die früher auch im politischen Bereich engagiert waren, jetzt aber eher außerhalb des klassischen, operativen politischen Geschäfts stehen, Persönlichkeiten, die sich durch ihre Arbeit auf dem Gebiet der nachhaltigen Entwicklung, im Bereich der Umweltpolitik oder auch im Bereich der Philosophie einen Namen gemacht haben, sowie auch Persönlichkeiten, die sich speziell mit Risikoforschung beschäftigen.

Ich darf hier vielleicht kurz nennen, wer diese Persönlichkeiten sein werden: Prof. Dr. Ulrich Beck, ein ausgewiesener Risikoforscher, Herr von Dohnanyi, Ihnen allen bekannt, Herr Ulrich Fischer, Landesbischof der Badischen Landeskirche, Alois Glück vom Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, Jürgen Hambrecht, der Vorstandsvorsitzende der BASF, der bald aus diesem operativen Amt ausscheiden wird, Dr. Walter Hirche, Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission und Mitglied im Rat für nachhaltige Entwicklung, Herr Prof. Dr. Reinhard Hüttl, der Präsident der acatech, Frau Prof. Dr. Weyma Lübbe, Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Universität Regensburg, Herr Dr. Reinhard Kardinal Marx, der Erzbischof von München, Frau Prof. Dr. Lucia Reisch, Mitglied im Rat für nachhaltige Entwicklung, Frau Prof. Dr. Schreurs, Leiterin des Forschungszentrums für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin, und Herr Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE. Es kann sein, dass noch ein bis zwei oder drei Namen dazukommen, aber das ist erst einmal diese Kommission.

Diese Kommission wird also bei der Bundesregierung als Ganzes und damit auch im Kanzleramt angesiedelt sein. Sie wird sich vor dem Treffen oder um das Treffen herum auch zum ersten Mal mit den Ministerpräsidenten treffen ‑ das ist zeitlich noch nicht ganz klar ‑ und wird sich dann mit der Arbeit sowohl im Bereich der Erreichung des Zeitalters der erneuerbaren Energien als auch im Bereich der technischen Ergebnisse der Überprüfung der Reaktorsicherheit verzahnen.

Das sind unsere Planungen, die wir heute mit den Ministerpräsidenten beschlossen haben. Das Moratorium ist kurz angelegt. Es gibt sehr viel Arbeit und sehr viel zu tun, aber ich habe den Eindruck gehabt, alle, die verantwortlich sind, haben den festen Willen, ihren Beitrag dazu zu leisten.

BM RÖTTGEN: Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will es noch einmal kurz aus Sicht des Umweltministeriums und des Umweltministers darstellen. (Die Einsetzung der beiden) Kommissionen wie auch das heutige Gespräch mit den Ministerpräsidenten haben noch einmal unterstrichen, dass die Koalition der Auffassung ist, dass die japanischen Ereignisse für uns, für die Bundesregierung, aber auch für die Ministerpräsidenten, die in der atomaufsichtlichen Verantwortung stehen, Anlass gibt ‑ wirklich Anlass gibt ‑, die Frage der Sicherheit der Kernenergie sowie der Energieversorgung in Deutschland umfassend neu zu diskutieren, zu überprüfen und auch umfassend neu zu bewerten. Ich glaube, das ist unsere Pflicht ‑ wir glauben, dass das unsere Pflicht ist, die aus den japanischen Ereignissen folgt.

Zunächst wird sich in einem auch technischen Sinne die Reaktorsicherheitskommission, in der über Regierungen hinweg in nahezu gleicher personeller Zusammensetzung der sicherheitstechnische Sachverstand des Landes versammelt ist, zunächst mit all den Fragen beschäftigen, die nach unseren jetzigen Kenntnissen unmittelbar durch die Ereignisse in Japan aufgeworfen worden sind, also mit den Fragen der Notstromversorgung und der Kühlung. All die unmittelbaren Ereignisse und Erfahrungen, die (im Kernkraftwerk Fukushima) erlebt worden sind ‑ während der Phase der Notmaßnahmen sind dort zum Beispiel Explosionen aufgetreten ‑, werden jetzt also hinterfragt, werden auf die deutsche Situation übertragen, werden auf das Schutzniveau bzw. die Sicherungsmaßnahmen für solche Ereignisse, wie sie jetzt in Japan aufgetreten sind, in Deutschland bezogen, und es wird gefragt, ob hier Reserven und Sicherheitssysteme für solche Fälle vorhanden sind. Es geht also gewissermaßen um die unmittelbaren Lehren aus den japanischen Ereignissen.

Die zweite Frage, der die Reaktorsicherheitskommission nachgehen wird ‑ immer in Zusammenarbeit mit den Ländern, die in der Atomaufsicht stehen ‑, ist die Frage der Annahmen, die unseren bisherigen Sicherheitsstandards und unserer Definition von Sicherheit zugrundeliegen. Sicherheit ist ja keine mathematische, statische Größe, sondern Sicherheit beruht auch auf Annahmen. Wir haben nun in Japan erlebt, dass es zwar Sicherheitsauslegungen der Kernkraftwerke gab ‑ zum Beispiel für Erdbeben ‑, aber dass die Natur diese Annahmen der Menschen widerlegt hat. Also ist das für uns Anlass, zu fragen: Müssen wir nicht auch unsere Annahmen neu bewerten und neue, strengere Annahmen zugrundelegen? Können nicht auch in Deutschland zwei Katastrophenereignisse zusammenkommen ‑ Hochwasser und Explosion, Erdbeben und Wasserstoffexplosion? Wie gehen wir also mit den Annahmen um, die unserer bisherigen Sicherheitsdefinition zugrundeliegen? Damit wird ganz gezielt die Frage nach einer neuen Sicherheitsauslegung der Kernkraftwerke gestellt. Es wird also nicht die Basis beibehalten, die wir bislang haben, und auf dieser Basis gefragt, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind; vielmehr wird der Sicherheitsbegriff selbst infrage gestellt, und die Prämissen, die der bisherigen Sicherheitsdefinition zugrunde liegen, werden neu untersucht. Es geht insofern in einem ganz umfassenden Sinne um unmittelbare Lehren, es werden aber auch die Prämissen bisheriger Sicherheitsannahmen kritisch hinterfragt, und das bezogen auf alle Kernkraftwerke in Deutschland ‑ sicherlich vorrangig in Bezug auf die älteren Kernkraftwerke.

Die zweite Kommission ‑ wenn ich dazu auch noch einen Satz sagen darf ‑ drückt unsere Einschätzung ‑ und ich glaube, auch die gesellschaftliche Einschätzung ‑ aus, dass Sicherheit eben nicht ausrechenbar ist, sondern am Ende eine gesellschaftlich-politische Wertung ist. Es gibt auch eine Erwartung in der Bevölkerung, darüber nach den Ereignissen in Japan neu gesellschaftlich zu diskutieren und möglicherweise auch neue Entscheidungen zu treffen bzw. neue Bewertungen über die Hinnehmbarkeit, über die Vertretbarkeit von Risiko vorzunehmen. Ich glaube, dass es geboten ist und dass es auch eine gesellschaftliche Erwartung ist, (dass diese Diskussion geführt wird). Wir konnten nun Persönlichkeiten ganz unterschiedlicher Bereiche gewinnen, die der Politik und der Gesellschaft dabei unabhängigen Rat geben. Ich glaube, (für diesen Rat) können wir uns bedanken.

BM BRÜDERLE: Basis der Energiepolitik der Bundesregierung ist das Energiekonzept, das Bundesumwelt- und Bundeswirtschaftsminister gemeinsam in engem Schulterschluss erarbeitet haben. Die Weichen wurden richtig gestellt. Kernenergie ist nur Brückentechnolgie. Das Ziel ist, zügig in das Zeitalter der regenerativen Energien zu kommen. Das ist auch Kompass für die Zukunft. Wir müssen die Energiefragen breit betrachten. Dazu gehört für mich insbesondere auch der Netzausbau. Ohne Netzausbau kann der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht vollzogen werden.

Der Weg in das regenerative Zeitalter ist für mich dreispurig. Er führt über Akzeptanz, Verfahrensbeschleunigung und Investitionen. Um diese Herausforderung anzugehen, habe ich ein Eckpunktepapier für ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz vorgelegt. Mit diesen Maßnahmen kann der Flickenteppich, den wir bisher bei der Genehmigung haben, abgeschafft werden. Wir dürfen nicht vergessen, welch große Herausforderung im Netzausbau vor uns liegt. Für mich ist das ein Stück weit mit der Situation nach der Wiedervereinigung vergleichbar. Auch damals mussten neue Strukturen in großem Umfang geschaffen werden.

Für mich gibt es auch keinen Widerspruch zwischen schnellen Verfahren und Bürgerbeteiligung; denn es geht nur mit den Menschen vor Ort. Ich kann verstehen, dass nicht jeder erfreut ist, wenn er in seiner Nähe einen Strommasten hat oder wenn er Geld für teure Erdkabel bezahlen muss. Aber es gibt nur einen Weg mit den Bürgern: ehrliche Diskussionen. Kluge und effiziente Bürgerbeteiligung ist der richtige Weg. Wir haben mit der Netzplattform beim Wirtschaftsministerium ein Forum geschaffen, in dem auch die Nichtregierungsorganisationen in den Dialog mit einbezogen sind, damit wir für Akzeptanz werben und bei dem Umbau in das Zeitalter der regenerativen Energien vorankommen. Jeder kann seinen Beitrag leisten. Es gibt erhebliches Potenzial bei der Energieeffizienz. Anreize dafür zu schaffen, nicht Zwang, ist der richtige Weg.

Meine Damen und Herren, wir müssen auch Gas- und Kohlekraftwerke sowie CCS im Lichte neuer Erkenntnisse und neuer Leitungen bewerten. Wer zu allem Nein sagt, wird diese Umstrukturierung nicht schaffen. Deshalb werden wir auch eine Kraftwerksstrategie entwickeln müssen, mit der wir die Versorgungssicherheit und Netzstabilität hocheffizient gewährleisten. Es sind viele Fragen zu diskutieren. Vorrang hat die Sicherheit; das hat die Bundesregierung klar gesagt. Aber wir müssen auch die Zukunftsfähigkeit Deutschlands als Industrie- und Gewerbestandort mit im Auge haben.

Hinsichtlich der Fragen, die gestern im europäischen Ministerrat für Energiefragen diskutiert wurden ‑ die Bundeskanzlerin hat es angesprochen ‑, war unser Bemühen, (deutlich zu machen): Wir stehen voll hinter den Ansätzen von Kommissar Oettinger, europaweit einen Stresstest aller Atomkraftwerke auf den Weg zu bringen ‑ es sind 145 an der Zahl ‑, und zwar nach vergleichbaren Kriterien. Das wurde gestern intensiv beraten und wird auch Gegenstand des Europäischen Rats Ende dieser Woche sein. Es hilft nämlich nicht, wenn wir nur bei uns alle Dinge maximal ordnen, sondern dabei sind auch die Nachbarschaft in Europa sowie die Nachbarn zu Europa mit einzubeziehen. Ich denke dabei etwa an die Schweiz, die nicht Mitglied der EU ist und mit mit uns vergleichbaren Strategien vorgeht, oder die Türkei, die das völlig anders sieht. Deshalb ist ein breiter Dialog notwendig. Die Bundeskanzlerin und der französische Präsident Sarkozy haben sich ja vorgenommen, das Thema im Rahmen der G8 und G20 auf die internationale Bühne zu bringen. Dort gehört es auch hin.

FRAGE: Ich habe eine Frage an Herrn Bundesumweltminister Röttgen. Sie sagen, Sicherheit stehe an erster Stelle. Warum setzen Sie das kerntechnische Regelwerk nicht sofort in Kraft?

BM RÖTTGEN: Weil ein ganz bestimmter Umgang mit dem kerntechnischen Regelwerk verabredet worden ist, übrigens schon unter meinem Vorgänger Gabriel, nämlich dass dieses kerntechnische Regelwerk erprobt wird ‑ genau diese Erprobung hat auch stattgefunden ‑, dass es ausgewertet wird und dass es dann, nach Erprobung und Auswertung, in Kraft gesetzt wird. Ich bin davon überzeugt, dass das kerntechnische Regelwerk allerdings so, wie es jetzt vorgelegt worden ist, schon heute nicht mehr aktuell ist. Wir müssen es jetzt vielmehr im Hinblick auf die neuen Ereignisse, auf neue Erkenntnisse und auf neue Bewertungen auch ganz sicherlich neu überarbeiten.

FRAGE : Frau Bundeskanzlerin, bei dem letzten Treffen wurde vom niedersächsischen Ministerpräsidenten angekündigt, in diesem Zusammenhang auch die Fragen der Entsorgung zu thematisieren. Hat es diesbezüglich Verabredungen gegeben? Gibt es Zusagen vonseiten der Bundesregierung, was die Lastenteilung und die Erkundung anderer Gesteinsarten angeht? Das ist die eine Frage.

Zur anderen Frage: Sie haben ja einen Rat der Weisen benannt. Soll dass der gesellschaftliche Konsens sein, den Sie anstreben?

BK'IN MERKEL: Nein, das allein ist natürlich noch nicht der gesellschaftliche Konsens, sondern das ist eine Gruppe, die natürlich besser als eine technische Kommission die Bewertung der Frage ermöglicht, wie Risiken in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Aber die Gespräche auch mit gesellschaftlichen Gruppen werden noch sehr viel umfassender sein. Die werden durch den Umweltminister geführt werden und durch andere ‑ auch durch mich ‑ geführt werden. Dazu werden wir noch einen Plan vorlegen.

Diese Kommission ist erst einmal gebeten worden, sozusagen im Lichte technischer Ergebnisse gesellschaftliche Bewertungen von Risiken und deren Akzeptanz zu diskutieren und uns diesbezüglich Einschätzungen vorzulegen. Sie sehen ja, dass diese Gruppe sehr unterschiedlich zusammengesetzt ist. Das heißt, das wird sicherlich ein spannender Disput zwischen den Teilnehmern werden. Weil die Teilnehmer so unterschiedlich sind, reflektieren sie auch ein bestimmtes gesellschaftliche Spektrum, aber natürlich längst nicht das gesamte. Diesbezüglich gibt es vom Verbraucherschutz über die Umweltverbände und die Wirtschaftsverbände bis hin zu den Arbeitnehmervertretungen natürlich sehr viel umfassendere Meinungsbildungen.

Zweitens, was die Frage der anderen kerntechnischen Anlagen anbelangt ‑ ich sage jetzt einmal: von der Endlagerung bis hin zu Forschungsreaktoren und Zwischenlagern, die es in Ahaus und Lubmin gibt ‑, haben wir heute darüber gesprochen, dass wir uns infolge der Gesamtüberprüfungen auch diese Dinge anschauen werden.

Das ist jetzt aber noch einmal ganz eindeutig von der Erkundung eines Endlagers zu unterscheiden. Zum Beispiel bei den Kernkraftwerksanlagen oder den bestehenden Zwischenlagern geht es ja um Institutionen, die bereits im Betrieb sind. Es gibt in Gorleben eine Erkundung. Es gibt in Salzgitter noch gar keine Einlagerung. Wir haben zum Beispiel in Bezug auf Asse ein elementares Problem. Da brauchen wir nichts weiter zu überprüfen. Es ist erkennbar, dass das so nicht in Ordnung ist und dass daran gearbeitet werden muss. Das sind andere Dinge. Aber Sie haben gehört, dass man sicherlich auch im Hinblick auf Mecklenburg-Vorpommern mit dem Zwischenlager Ludmin, auf Ahaus und auf den Forschungsreaktor Garching noch einmal die Erkenntnisse entwickeln muss. Aber das stand nicht im Fokus unserer Beratungen am heutigen Tage.

FRAGE: Sie sagten, das diese Ethikkommission sozusagen mit der Reaktorsicherheitskommission verzahnt werden wird. Wer wird denn nachher, wenn die Einschätzungen der verschiedenen Kommissionen vorliegen werden, eine Bewertung treffen?

BK'IN MERKEL: Ganz zum Schluss ‑ wir sind nicht umsonst Politiker ‑ müssen wir uns zu all dem, was wir an Klugem gehört haben, eine Meinung bilden, aber auf einer sehr transparenten Grundlage. Wir können nicht einfach irgendwie etwas im stillen Kämmerlein tun, sondern die Bewertungen werden natürlich bekannt sein. Dann müssen wir politisch die Schlussfolgerungen ziehen, natürlich gegebenenfalls bis hin zu gesetzgeberischen Maßnahmen, sei es in Bezug auf die Beschleunigung des Erreichens des Zeitalters der erneuerbaren Energien oder aber eben in Bezug auf die Frage der Bewertung der Sicherheit der Energieversorgung.

Für uns stehen dann natürlich auch immer wieder Fragen zur Debatte. Das heißt auf der einen Seite: Sicherheit hat Vorrang. „Im Zweifel für die Sicherheit“, habe ich gesagt; das ist richtig. Aber wir wollen natürlich auch Versorgungssicherheit, und wir wollen auch eine bestimmte Stabilität des Strompreises, der nicht beliebig hoch sein kann, wenn Deutschland nicht Arbeitsplätze an Länder verlieren möchte, in denen all diese Sicherheitskriterien dann vielleicht nicht ganz so ausgeprägt sind.

Die politischen Schlussfolgerungen nimmt uns also niemand ab, aber wir stellen unsere Bewertung auf eine breitere und transparentere Grundlage.

FRAGE: Bei der Kommission vermisse ich irgendwie die Beteiligung der großen Energiekonzerne. Deren Expertise war ja bei der Aufstellung des Energiekonzepts sehr gefragt. Es gab auch ein Treffen im Kanzleramt. Ist so etwas in der nächsten Zeit wieder geplant?

Meine zweite Frage: Wird es zu Gesetzesänderungen hinsichtlich der Laufzeitverlängerung kommen?

BK'IN MERKEL: Die zweite Frage kann am heutigen Tag nicht beantwortet werden. Das ist ja das Ergebnis, also die gesetzgeberische Schlussfolgerung, von Bewertungen, die wir jetzt durchführen.

Dies ist ja keine Kommission der Energiewirtschaft. Die Energiewirtschaft haben wir gebraucht, als wir zum Beispiel überlegt haben, wie wir die Laufzeitverlängerung und einen Fonds für erneuerbare Energien zusammenbringen. Aber wir brauchen die Energiewirtschaft als solche nicht zur Bewertung von Risiken. Die Energiewirtschaft ist in die Kooperation mit der Kommission für Reaktorsicherheit einbezogen, aber für die Bewertung gesellschaftlicher Risiken ist die Energiewirtschaft selbst nicht der Partner.

FRAGE: Der Zeitrahmen für (die Arbeit) beider Kommissionen beträgt, wenn ich das richtig verstehe, drei Monate. Herr Röttgen nickt. Das verstehe ich einmal als ein Ja.

BK'IN MERKEL: Erst einmal Ja, um die Schlussfolgerungen aus dem Moratorium zu ziehen, also aus der Sicherheitsbewertung. Ob dann anschließend im Rahmen der Verzahnung mit dem Konzept ‑ siehe Netzausbau und ähnliche Dinge, im Rahmen derer ja auch wieder Risiken, Schwierigkeiten und Konflikte auftreten ‑ noch Fragen zu klären sein werden, wird dann zu entscheiden sein.

ZUSATZFRAGE : Herr Gröhe sagte heute, er rechne damit, dass die sieben Meiler zum großen Teil nicht mehr ans Netz gehen. Können Sie das bestätigen?

BK’IN MERKEL: Ich kann heute die Ergebnisse der gesamten Untersuchung nicht voraussagen und möchte mich auch nicht an Spekulationen beteiligen. Ich habe gesagt: Die Zeit nach dem Moratorium wird eine andere sein als vor dem Moratorium. ‑ Zu mehr Präzision bin ich heute nicht in der Lage.

FRAGE: Es gibt diesen Zeitraum von drei Monaten. Wenn ich Herrn Röttgen richtig verstanden habe, wird ein Fragenkatalog mit den Fragen, die in der Kommission diskutiert werden sollen, entwickelt. Welcher Zeitraum ist dafür vorgesehen?

Mich würde interessieren, ob der Zeitraum von drei Monaten eigentlich ein willkürlich gegriffener Zeitraum sein soll. Steht irgendein besonderer Gedanke dahinter, warum es gerade drei Monate sind? Was passiert, wenn dieser Zeitraum überzogen wird?

BM RÖTTGEN: Ich habe gestern an einer Ausschusssitzung der Reaktorsicherheitskommission teilgenommen. Dort wird intensiv an diesen Fragen gearbeitet. Die Fragestellungen werden jetzt erarbeitet, damit auf der Basis der Fragestellungen die Überprüfungsarbeiten stattfinden können. Das ist ganz sicherlich eine intensive Arbeit. Ich glaube aber, dass sie leistbar ist. Auch die Mitglieder der Kommission sind entschlossen, diese Arbeit so zu leisten, damit ihre Ergebnisse, die technischer Sachverhalt, Tatbestand und Befund sind, auch der anderen Kommission zugänglich gemacht werden können.

Das wird jetzt zügig vonstattengehen. In der nächsten Woche wird eine weitere Sitzung der Reaktorsicherheitskommission stattfinden. Dann wird es die Fragestellungen geben, die bezogen auf alle Kernkraftwerke untersucht werden.

Zu der Frage hinsichtlich des Zeitraums von drei Monaten: Manche sagen: Man braucht dafür ein bis anderthalb Jahre. Andere sagen: Wir wollen ein Gesetz machen und kennen heute schon die Konsequenzen. Es wird sozusagen von beiden Seiten kritisiert. Ich glaube, dass der Zeitraum von drei Monaten anspruchsvoll, aber machbar ist. Ich finde, dass der Zeitraum genau richtig gewählt wurde. Man kann die Fragen, die sich stellen, nicht auf die lange Bank schieben. Aber man braucht schon einen gewissen Zeitraum, weil die Fragen kompliziert sind. Dem muss man mit dem Zeitraum gerecht werden. Darum glaube ich, dass das erst einmal ‑ so gut wir das bemessen und einschätzen konnten ‑ ein richtig bemessener Zeitraum ist.

BK’IN MERKEL: Man darf nicht vergessen, dass wir auf der Basis von Paragraf 19 des Atomgesetzes einen Eingriff in das Betreiben der Kernkraftwerke ‑ jedenfalls der sieben älteren Kernkraftwerke ‑ vorgenommen haben. Jetzt müssen die Zeitdauer der Überprüfung und die Auswirkung auf die Betreiber in einem Verhältnis stehen. Man kann nicht zum Beispiel einen fünfjährigen Überprüfungszeitraum anordnen, sondern es gibt schon die Erwartung, dass die Aufsichtsbehörden in schnellstmöglicher Art und Weise tätig werden und die Schlussfolgerungen ziehen.

FRAGE: Frau Bundeskanzlerin, steht am Ende der Logik Ihres jetzigen Handelns nach diesen drei Monaten ein neues Ausstiegsgesetz, über dessen Inhalte ich jetzt nichts wissen will? Wäre es logisch, dass danach ein neues Ausstiegsgesetz aus der Atomkraft von der Bundesregierung ‑ vielleicht sogar als Entwurf von allen Parteien ‑ in den Bundestag eingebracht wird?

Findet am nächsten Sonntag eine Art Volksabstimmung, Vorabstimmung über Ihren Atomkurs statt?

BK’IN MERKEL: An dem nächsten Sonntag hat sich an der Frage, worüber die Menschen abstimmen, im Grundsatz nichts geändert, wenngleich die jeweilige Lage immer in Betracht zu ziehen ist. So, wie wir damals in der Bundestagsdebatte noch keine Schlichtung bei „Stuttgart 21“ gehabt haben, haben wir heute in Deutschland alle miteinander eine neue Erfahrung gemacht. Die haben wir mit Landtagswahl machen müssen, aber wir hätten sie auch ohne Landtagswahl machen müssen. Es ist eine sehr bedauerliche Erfahrung. Aber sie wird auf das, worüber die Menschen nachdenken, Einfluss haben ‑ wie alles, was passiert, Einfluss darauf hat.

Herr Wonka, ich kann Ihnen das Ergebnis des Moratoriums nicht voraussagen. Aber ich sage auch, dass ich nicht ausschließe, dass die Überprüfungen Auswirkungen auf Laufzeiten haben können, ohne dass ich im Augenblick genau sagen kann, was das genau bedeutet. Das ist die Schlussfolgerung aus dem Satz, dass es nach dem Moratorium anders ist als vor dem Moratorium.

Alle Versuche, schon jetzt genau zu sagen, wie das Ergebnis aussieht, werden nicht erfolgreich sein können, weil wir es uns mit der Überprüfung nicht leicht machen. Wir haben uns eine sehr komplexe Aufgabe vorgenommen. Wir haben breite gesellschaftliche Bereiche mit einbezogen. Ich bin sehr dankbar, dass alle ziemlich schnell bereit waren, ihre Zeit für ein solches Thema einzusetzen. Wir sind alle nicht unterbeschäftigt, sondern haben eigentlich schon volle Terminkalender in den nächsten 90 Tagen. Insofern ist das ein Zeichen dafür, dass es ein gesellschaftliches Bedürfnis gibt, über diese Fragen zu reden. Ich glaube, es gibt auch einen großen Wunsch nach mehr Konsens in bestimmten Fragen, weil jeder weiß, dass wir es mit sehr komplexen Sachverhalten zu tun haben, die nicht so ganz einfach mit Ja oder Nein zu beantworten sind.

FRAGE: Ich möchte gerne das Thema aufgreifen, das Sie, Frau Bundeskanzlerin, angesprochen hatten, nämlich das Thema Zwischenlager Nord – auch wenn das heute nicht die wichtigste Rolle gespielt hat. Herr Caffier hat an Sie einen Brief geschrieben, in dem er ‑ ich sage es mit meinen Worten ‑ um einen Sicherheitscheck des Zwischenlagers Nord gebeten hat. Halten Sie das für notwendig? In welchem Rahmen soll das geschehen?

Eine letzte Frage: Es gibt im Land die Befürchtung, dass im Zuge der Sanierung der Asse Atommüll in das Zwischenlager Nord gebracht werden kann. Können Sie das völlig ausschließen?

BM RÖTTGEN: Die Frau Bundeskanzlerin hat eben gesagt, dass wir alle bestehenden kerntechnischen Anlagen überprüfen. Ich glaube, es ist richtig, dass es dazu kommt; vielleicht mit einer gewissen Vorrangigkeit der älteren Kernkraftwerke, aber der Kernkraftwerke insgesamt. Auch andere werden in die Überprüfung einbezogen, nämlich von Forschungsreaktoren bis Zwischenlager. Es ist heute besprochen worden, dass das stattfinden soll.

Die Befürchtung in Sachen Asse und Verlagerung des Atommülls, das Sie angesprochen haben, kann ich nicht bestätigen. Wir befinden uns hinsichtlich der Asse in einem konkreten Plan der Erkundung, was die Rückholbarkeit anbelangt. Der erste Schritt, der vollzogen werden muss, ist, Kammern aufzubohren, um herauszufinden, was dort lagert, wie die Konsistenz ist und welche Folgen das für Maßnahmen der Rückholbarkeit hat. Das ist das, was als nächstes auf dem Programm steht.

STS SEIBERT: Wir danken Ihnen allen, und wünschen noch einen schönen Tag!