TIME MAGAZINE: Frau Europa

Interview TIME MAGAZINE: Frau Europa

Bundeskanzlerin Angela Merkel führte ein ausführliches Gespräch über ihre politische Laufbahn  mit der Journalistin Catherine Mayer für das TIME MAGAZINE.

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Merkel am Scheideweg

Die deutsche Bundeskanzlerin, eine Wegbereiterin und die unbestrittene Führungspersönlichkeit Euro­pas größter Volkswirtschaft, sieht sich gegenwärtig vor eine unbequeme Frage gestellt. Wie soll ihr Land seine Macht nutzen?

Zierlich in der beeindruckenden Weite ihres Büros, erscheint Angela Merkel überraschend zerbrechlich für jemanden, der die letzten 20 Jahre damit verbracht hat, politische Regeln auf den Kopf zu stellen. Heute im Alter von 55 Jahren leitet Merkel als erste Bundeskanzlerin Deutschlands, die im kommunistischen Osten aufgewachsen ist, eine demokratische Regie­rung und ist die Hüterin individueller Freiheitsrechte, die ihr selbst bis in ihr viertes Lebens­jahrzehnt versagt blieben. Sie stach eine ganze Phalanx grauhaariger, grau beanzugter Appa­ratschiks aus, um zwei weitere Nova zu schaffen, nämlich als erste Frau das Amt des Bundes­kanzlers zu bekleiden und die jüngste Amtsinhaberin zu werden. Im September schließlich, nach vier schwierigen Jahren an der Spitze einer Koalition, in der sich ihr konservativer christlich-demokratischer Block mit der Sozialdemokratischen Partei in einer Vernunftehe zusammengetan hatte, erwarb sie ein neues Mandat zusammen mit dem Mitte-Rechts-Koali­tionspartner ihrer Wahl. Als in ihrem Amt bestärkte Regierungschefin von Europas bevölke­rungsreichstem Staat mit der leistungsstärksten Volkswirtschaft besitzt Merkel nunmehr die Fähigkeit, ihrer Person und ihren Prioritäten auf der Weltbühne Geltung zu verschaffen. Aber was genau möchte sie mit ihrer Macht erreichen? Und wie wird sie das anstellen?

Merkel wurde jahrzehntelang unterschätzt. Es gibt noch immer viele Beobachter der politi­schen Szene Deutschlands, die ihre unzähligen Leistungen als Glückstreffer betrachten. In ihrer jüngsten Biografie heißt es, Merkel habe nie eine Rede gehalten, die im Gedächtnis haf­ten blieb. Sie kann in der Tat zuweilen reserviert und zurückhaltend erscheinen, man sollte aber keinen Zweifel daran hegen, dass sie reichlich Selbstvertrauen besitzt und sehr ehrgeizig ist. „Sie können sicherlich sagen, dass ich mich nie selbst unterschätzt habe“, sagt sie mit einem Lächeln, dass in einem anderen Kontext nur als kokett beschrieben werden könnte. „Es ist nichts falsch daran, ehrgeizig zu sein.“

Merkel, Tochter eines protestantischen Pfarrers, der sich im ostdeutschen Brandenburg nie­dergelassen hatte, brachte hervorragende Noten in Mathematik und Naturwissenschaften heim und verfolgte ursprünglich eine Karriere als Physikerin. Aber sie merkte bald, dass ihr dort, wo sie aufgewachsen war, bei ihren Bestrebungen Grenzen gesetzt waren. „In Ostdeutsch­land“, sagt sie, „kamen wir immer an Grenzen, bevor wir unsere eigenen, persönlichen Gren­zen entdecken konnten.“

Paradoxerweise hat Merkels Leben unter dem Kommunismus ihr vielleicht geholfen, als es darum ging, eine politische Karriere aufzubauen, während der Eiserne Vorhang allmählich rissig wurde. Sie wusste, wie man Hindernisse umschifft und wann man im Hintergrund zu bleiben hat. Ihr Aufstieg zur Prominenz blieb fast unbemerkt, außer von ihren Rivalen, die sie auf dem Weg geschickt ausschaltete. Sie wurde in das erste Parlament des wiedervereinten Deutschlands gewählt und von Bundeskanzler Helmut Kohl nur ein Jahr später zur Kabinetts­ministerin ernannt. Er nannte sie „das Mädchen“. Sie war an Sexismus gewöhnt. „Es gab keine wirkliche Chancengleichheit in der Deutschen Demokratischen Republik“, sagt sie. „Es gab keine weiblichen Industriellen oder Mitglieder des Politbüros.“ Also setzte sie ihr katzen­haftes Lächeln auf und protestierte nicht, distanzierte sich aber rasch von ihrem gönnerhaften Förderer, als der sich in einen Parteispendenskandal verwickelt sah.

Kinderlos und in zweiter Ehe verheiratet, wurde sie im Wahlkampf 2009 als fürsorgliche Mutter der Nation dargestellt. Obwohl sie behauptet, gelegentlich einen Pflaumenkuchen zu backen, entspricht sie eigentlich nicht dem Ideal einer deutschen Hausfrau. Ihr zweiter Ehe­mann, ein bedeutender Chemiker, drückt sich oft vor offiziellen Terminen. „Er braucht den Arbeitstag für seine Wissenschaft“, sagt Merkel. Eine solche Haltung mag Traditionalisten verärgert haben, aber ihre ruhige Entschlossenheit hat ihr zu einer breiten Unterstützung weit über die christlich-demokratische Kernwählerschaft hinaus verholfen. Merkels unverkrampf­ter Pragmatismus, Sozialliberalismus und ihr Engagement für den Kampf gegen den Klima­wandel – ein zentrales Thema in Deutschland – haben sie sogar bei jenen, die sich als Sozial­demokraten bezeichnen, erstaunlich populär gemacht. Aus einer Erhebung des deutschen Umfrageinstituts Infratest dimap im Dezember ging Merkel als Deutschlands beliebteste Poli­tikerin hervor; 70 % der Deutschen erklärten sich mit ihrer Arbeit zufrieden.

Der stille Riese

Was wird sie also jetzt tun? Angesichts der jüngeren deutschen Geschichte ist es kaum ver­wunderlich, dass diese Nation – und wer immer auch sie leitet – selten darauf erpicht ist, sich in erbitterte Auseinandersetzungen um globale Probleme zu stürzen. Die politische Debatte in Deutschland befasst sich zum allergrößten Teil mit dem Erhalt und dem Ausbau des Wohl­stands und der persönlichen Sicherheit der großen Mehrheit der Bevölkerung, die ein Marken­zeichen des früheren Westdeutschlands waren. Als Ende 2008 die große Rezession begann, geriet Merkel zunächst wegen ihres Krisenmanagements in die Kritik, und 2009 war die deut­sche Wirtschaft insgesamt um 5 % geschrumpft. Die Kritiker behaupteten, sie tue zu wenig, agiere zu langsam und richte ihre Bemühungen auf die falschen Industriezweige aus. Sie argumentiert, dass ihre Reaktion sich als richtig erwiesen habe. Die deutsche Wirtschaft begann im zweiten Halbjahr 2009, sich zu erholen, und die Arbeitslosenquote konnte mithilfe eines energischen Kurzarbeitprogramms Schritt für Schritt auf 7,5 % gesenkt werden im Vergleich zu 10 % in den USA. Noch ist jedoch keine Volkswirtschaft sicher davor, wieder in die Rezession zu geraten, und der Leiter der Bundesagentur für Arbeit hat einen erneuten Anstieg der Arbeitslosigkeit für dieses Jahr vorausgesagt. Aber mit dem Wiederanstieg des Welthandels sollte die gewaltige deutsche Exportmaschinerie wieder ins Laufen kommen und für ein vernünftiges Wachstum sorgen.

Während Merkel in der Lage sein mag, die innenpolitische Situation in Deutschland mit Zuversicht zu betrachten, stehen auf internationaler Ebene große Herausforderungen an. Mer­kels Prioritäten lassen sich ungefähr aus ihrer Rede vom 3. November vor dem amerikani­schen Kongress erahnen. (Vor ihr wurde nur einem deutschen Bundeskanzler die Ehre zuteil, dort zu sprechen.) Diese Rede mit ihrem aufrichtigen und bewegenden Dank und Tribut an die USA konnte nur von jemandem gehalten werden, der in einem Satellitenstaat der Sowjet­union aufgewachsen ist. Durch die gesamte Rede hindurch wurde deutlich, wie ihre Vergan­genheit ihre Weltsicht geformt hat. Sie sagte: „Null Toleranz muss es für die geben, die die unveräußerlichen Rechte des Menschen missachten und sie mit Füßen treten.“ Dies ist einer der Gründe, warum sie eine harte Linie in Bezug auf Irans Atomprogramm vertritt, die drasti­schen Maßnahmen von Irans Führungsspitze gegen die Demonstranten nach den Wahlen im letzten Sommer kritisierte und Chinas Zorn riskierte, um sich mit dem Dalai Lama zu treffen.

Mit diesem Bekenntnis zu humanistischen und demokratischen Werten hat Merkel ihre Bereitschaft erkennen lassen, eine Politik zu betreiben, die ihr Land teuer zu stehen kommen könnte. Deutschland ist Irans größter Handelspartner in Europa, und viele deutsche Unter­nehmen wehren sich gegen Beschränkungen des Handels mit diesem Land. Aber sie hat kürzlich erklärt, sie werde neue Sanktionen unterstützen, sollte die Regierung in Teheran ihre Atompläne nicht beschränken. In der Vergangenheit zweifelten amerikanische Regierungs­vertreter daran, ob Deutschlands markigen Worten gegen Iran auch Taten folgen werden, nun scheinen sie aber Vertrauen zu haben, dass Merkel meint, was sie sagt. „Wenn es hart auf hart kommt, was Iran betrifft“, meinte ein hochrangiger Vertreter des amerikanischen Außen­ministeriums, „werden wir uns genau anschauen, was Russland und China zu tun bereit sind. Aber über Deutschland machen wir uns keine Sorgen.“

Afghanistan stellt für Merkel in diplomatischer und wirtschaftlicher Hinsicht ein noch ver­trackteres Problem dar. Deutschland stellt dort großzügig humanitäre Hilfe bereit – genauso wie in anderen Entwicklungsländern. Aber mit 4.300 Soldaten ist Deutschland neben den USA und Großbritannien auch der drittgrößte Truppensteller in diesem Land. Im Dezember hat der Bundestag beschlossen, die Stationierung in Afghanistan um ein weiteres Jahr zu ver­längern, und die europäischen Alliierten haben, wie der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates anerkennend feststellte, die Anzahl ihrer Vorbehalte reduziert, die die Möglich­keit, Truppen in Kampfsituationen zu stationieren, begrenzen. (Die Mehrzahl der deutschen Truppen zum Beispiel ist im Norden des Landes stationiert, der vergleichsweise sicherer ist als der Süden. Bis Mitte Dezember 2009 sind 36 deutsche Soldaten in Afghanistan gestorben, verglichen mit 935 Amerikanern im gleichen Zeitraum.)

Aber selbst vergleichsweise geringe Verluste sind für viele in Deutschland schockierend, einem Land, das bewaffnete Konflikte seit über 50 Jahren meidet, das sich selbst eingeredet hatte, seine Rolle in der Welt sei eine rein humanitäre. Dann, im September forderten deut­sche Streitkräfte einen amerikanischen Luftangriff in Kunduz im Norden Afghanistans an, um von den Taliban gekaperte Tanklaster zu zerstören. Dabei wurden ungefähr 140 Menschen getötet, darunter zahlreiche Zivilisten. Das änderte das Bild, das in der deutschen Öffent­lichkeit wie unter deutschen Politikern von dem Einsatz herrschte. Der damalige Verteidi­gungsminister Franz Josef Jung trat aufgrund der anschließenden Kontroverse zurück, andere deutsche Regierungsvertreter jedoch erklärten, das Ereignis belebe das Bekenntnis Deutsch­lands neu, ein vollwertiger Partner in dem Konflikt zu sein, auch wenn jeder Krieg mit Brutalität verbunden sei. „Wir haben klar gemacht“, sagte Merkels neuer Verteidigungs­minister Karl‑Theodor zu Guttenberg auf einen Besuch in Washington im November, „dass die im Norden stationierten deutschen Soldaten nicht mehr nur dort sind, um Wasserlöcher zu graben und Kindern zuzuwinken. Wir befinden uns immer häufiger auch in Kampfsitua­tionen.“

Diese Ansicht kam zuhause nicht gut an. Die Mehrheit der Deutschen – in einer aktuellen Umfrage waren es 69 % – möchten, dass ihre Truppen so bald wie möglich aus Afghanistan abgezogen werden. Merkel steht nun unter immer stärkerem Druck aus Washington und von anderen Truppenstellern, die deutsche Präsenz in Afghanistan als Teil der Mobilisierungs­kampagne Obamas zu verstärken. Als echte Atlantikerin wird sie den amerikanischen Hilferuf nicht zurückweisen wollen. Als Erzpragmatikerin weiß sie aber auch, dass die deutsche Öffentlichkeit eine deutliche Aufstockung der Truppen nicht einfach gutheißen wird. Sie weigert sich, ihre Pläne vor ihrer Teilnahme an einer internationalen Afghanistankonferenz in London am 28. Januar zu kommentieren. Viele Kenner der politischen Szene in Deutschland vermuten, sie werde einen Kompromiss suchen, indem sie die Truppenstärke konstant hält und gleichzeitig versprechen wird, die Rolle Deutschlands bei der Ausbildung der afgha­nischen Sicherheitskräfte zu verstärken.

Aufgabe von Machtbefugnissen


Wie auch immer Merkel ihre Iran- und Afghanistanpolitik gestalten will, sie wird immer ihren ganz eigenen Stil der Entscheidungsfindung haben. Angela Merkel ist genau wie Barack Obama der Ansicht, dass Staaten Probleme wie wirtschaftliche Turbulenzen, Terrorismus oder Klimawandel nicht alleine lösen können. Der Punkt, an dem sie sich von den meisten anderen Spitzenpolitikern unterscheidet, ist die Schlussfolgerung, die sie aus dieser Analyse zieht, nämlich, dass wahre Führungsstärke darin besteht, Machtbefugnisse abzugeben. Auch hier spielt die Geschichte eine wesentliche Rolle; Deutschlands Vergangenheit hat bei seinen Politikern zu der Überzeugung geführt, dass Unheil drohe, wenn das Land allein agiert, und dass das Glück dem Land hold sei, wenn es mit anderen zusammenarbeitet. „Mit der Euro­päischen Union“, so Merkel, „haben wir Europäer uns einen Traum verwirklicht. Wir leben in Frieden und Freiheit. Dazu gehört natürlich, einen Teil unserer Macht nach Brüssel abzu­geben. Das ist nicht immer erfreulich. Aber es ist notwendig. Die wichtigste Folge der Globa­lisierung ist, dass es keine ausschließlich nationalen Lösungen zu den globalen Heraus­forderungen mehr gibt.“

Es mag merkwürdig erscheinen, dass eine Frau, deren Weg zur Macht so steinig war, es in Erwägung zieht, auch nur ein Quäntchen dieser Macht abzugeben. Aber für eine Politikerin hält Merkel ihr Ego erstaunlich gut in Schranken. Auf Menschen, die ihre Impulse nie zügeln mussten aus Furcht, die Aufmerksamkeit böswilliger Behörden auf sich zu ziehen, oder in ihren Träumen bescheiden blieben, damit ein autoritäres Regime sie nicht kaputt machen konnte, mag ihre Selbstdisziplin in der Tat übermenschlich wirken. Am 9. November 1989, als die ostdeutschen Behörden den Kampf aufgaben und die Berliner Mauer öffneten, hielt Merkel ihren regelmäßigen Saunatermin ein. Aber die Selbstbeherrschung und das Selbst­vertrauen der Bundeskanzlerin können nicht von der Frage ablenken, die sich durch das Afghanistan- und das Iranproblem für ihr Land stellen: Wenn man so reich ist und so gesichert lebt wie das moderne Deutschland heutzutage, welche Verpflichtungen hat man dann der Welt gegenüber?

Time Magazine - by Catherine Mayer/Berlin  


With reporting by Tristana Moore / Berlin and Mark Thompson / Washington