Regierungsbefragung im Deutschen Bundestag mit Bundeskanzlerin Merkel

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Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:

1. Befragung der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat mitgeteilt, dass heute die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel zur Verfügung steht. - Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie mögen, haben Sie das Wort für Ihre einleitenden Ausführungen.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute die ursprünglich ja schon für Ende März geplante Regierungsbefragung mit mir nachholen können. Ich hatte ja bereits vor gut drei Wochen, am 23. April, die Gelegenheit, Ihnen in einer Regierungserklärung meinen und unseren Kurs in dieser Pandemie aufzuzeigen.

In der Pandemie und mit dem Virus leben wir immer noch, und das wird auch für längere Zeit so bleiben. Denn die grundlegenden Fakten haben sich ja nicht geändert. Auch wenn einzelne Forschungsansätze Hoffnung machen: Noch gibt es keine Medikamente und keinen Impfstoff gegen das Virus. Corona ist und bleibt also eine Gefahr für jede und jeden von uns. Eine Coronainfektion kann in vielen Fällen ganz harmlos verlaufen; sie kann aber auch zu schweren Schäden bis zum Tod führen. Und ich denke an all die Menschen, die wir an dieses Virus verloren haben, und ich denke an ihre Familien.

Das sind die unveränderten Fakten. Aber wir stehen natürlich nicht still in dieser Pandemie. In den drei Wochen seit meiner Regierungserklärung ist einiges geschehen, haben wir einiges geschafft, das uns Mut machen kann. Wir waren uns von Anfang an einig: Stoppen können wir die Ausbreitung des Virus derzeit nicht. Aber sie so weit wie möglich verlangsamen, das können und das müssen wir. Und das ist ja auch unser gemeinsames Ziel. Wir können sagen, dass uns in den vergangenen Wochen und Monaten in einer gemeinsamen enormen Anstrengung gelungen ist, dieses Ziel zu erreichen oder ihm näher zu kommen. Es ist gelungen, weil wir alle - Bürger, Wirtschaft, Staat - in einer schweren Zeit und unter schweren Einschränkungen zusammengehalten haben.

Die Zahlen der Neuinfektionen, die das Robert-Koch-Institut uns täglich meldet, die liegen jetzt in einem Bereich, mit dem unser Gesundheitssystem zurechtkommen kann. Und es ist wieder einigermaßen möglich, Infektionsketten nachzuverfolgen und durch Tests und Quarantänemaßnahmen diese Ketten dann auch zu durchbrechen. Die derzeit entwickelte Tracing-App wird diese Nachverfolgung hoffentlich bald zusätzlich verbessern können.

Wir haben die letzten Wochen genutzt, um unser Gesundheitssystem an vielen Stellen auch zu stärken. Ich habe großen Respekt vor der Leistung der Länder und Kommunen. Ich danke auch dem Deutschen Bundestag, dass mithilfe des Bundes Kapazitäten, vor allen Dingen für Intensivbetten, erhöht werden konnten. Ich sehe die fabelhaften Leistungen, die im öffentlichen Gesundheitsdienst, in den Gesundheitsämtern täglich erbracht werden, und ich bin auch froh, dass wir dort sowohl durch die Länder als auch durch den Bund Unterstützung geben konnten. Denn das sind genau die Orte, an denen die Infektionsketten nachvollzogen werden müssen, und davon hängt so vieles ab.

Uns ist die internationale Zusammenarbeit gegen das Virus herausragend wichtig: im Kreis der Europäischen Union, unter den G-7-Staaten und den G-20-Ländern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können froh sein, dass wir diese letzten Wochen alle zusammen so gemeistert haben. Ich sehe darin aber auch eine Verpflichtung: die Verpflichtung, das gemeinsam Erreichte jetzt nicht zu gefährden. Wir haben doch nicht seit März alle vorher undenkbaren Einschränkungen in unserem Leben, in unserem Arbeiten und Wirtschaften, auch zeitweilige Einschränkungen unserer Rechte auf uns genommen, um jetzt, weil wir die Vorsicht ablegen, einen Rückfall zu riskieren. Es wäre doch deprimierend, wenn wir, weil wir zu schnell zu viel wollen, wieder zu Einschränkungen zurückkehren müssten, die wir alle hinter uns lassen wollen.

Lassen Sie uns also mutig und wachsam sein! Lassen Sie uns schrittweise das öffentliche und wirtschaftliche Leben wieder öffnen und dabei die Entwicklung der Pandemie immer im Blick haben! Und vor allem: Lassen Sie uns an Arbeitsplätze, in Schulen, in Cafés und in die Sportvereine zurückkehren und dabei die neuen Grundregeln weiter beachten: Mindestabstand halten, Hände waschen, Respekt vor dem Schutzbedürfnis auch unserer Mitmenschen.

Ich bin fest überzeugt: Wenn wir konsequent bleiben und so einen Rückfall verhindern, haben wir alle mehr davon. Denn dann ist auch in der nächsten Phase der Pandemie beides möglich: der Schutz der Gesundheit der Menschen und ein Vorgehen, das unsere Wirtschaft so schnell wie möglich wieder aufholen lässt und damit so viele Arbeitsplätze wie möglich sichert und ein gesellschaftliches Leben, an dem wir Freude haben können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Die erste Frage stellt der Kollege Tino Chrupalla, AfD.

Tino Chrupalla (AfD):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie sind jetzt auf die pandemischen Probleme eingegangen. Sie sind natürlich auf die wirtschaftlichen Folgen, was dieses Land betrifft, überhaupt nicht eingegangen. Deswegen meine Frage bzw. erst mal meine Einleitung dazu: Ihre Coronapolitik - auch die Coronapolitik der Bundesregierung - vernichtet aktuell in Deutschland über 2 Millionen Menschen ihre Existenzen. Wir haben über 10 Millionen Kurzarbeiter. Die Rücklagen der Sozialkassen schmelzen dahin; man geht von 14 Milliarden Euro bis Ende des Jahres aus. Wir haben über 300 000 mehr Arbeitslose als im Vormonat. Das Bruttoinlandsprodukt ist um 6,3 Prozent zusammengebrochen. Pro Woche kostet uns dieser Lockdown 42 Milliarden Euro. Die größte Rezession der Nachkriegsgeschichte, so titeln einige Zeitungen.

Deswegen meine Frage: Wo ist eigentlich Ihr - Ihres und das der Bundesregierung - Finanzierungskonzept für nach dieser Krise, und können Sie hier und heute auch ausschließen, dass der Bürger durch erhöhte Abgaben und Steuern diese Kosten übernehmen und auch bezahlen muss?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Erst einmal bin ich sehr froh, dass uns diese Pandemie in einer wirtschaftlich und auch, was die Haushaltspolitik und die Situation der Sozialversicherungen anbelangt, guten Situation ereilt hat. Das heißt, wir konnten sehr viele Sicherungsmaßnahmen durchsetzen. Ich bin auch sehr dankbar, dass die Mehrheit dieses Parlaments das ja auch getan hat durch die Abstimmungen.

Dass Menschen in Kurzarbeit sind, zeigt, dass wir natürlich wirtschaftliche Folgen dieser Pandemie haben. Aber es zeigt, dass wir die Menschen nicht ins Nichts entlassen mussten,

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

sondern dass wir helfen können und dass wir Brücken bauen können. Und das wird auch weiter unser Ziel sein.

Ich glaube, wenn wir die Dinge gut miteinander vereinbaren - wir können alle nicht voraussehen, wann wir einen Impfstoff haben, wann wir ein Medikament haben -, dann haben wir die Chance, es gut zu bewältigen. Aber ich sage nicht, dass niemand etwas merken wird. Wir werden alles daransetzen, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger schnell an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können, aber eben so, dass es verantwortbar ist.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage, Herr Kollege?

Tino Chrupalla (AfD):

Ja. - Auf die konkrete Frage, ob Steuererhöhungen und Abgabenerhöhungen infolge der Kosten jetzt noch erfolgen, habe ich jetzt keine Antwort von Ihnen bekommen, deswegen die Nachfrage dazu, ob das auch geplant ist und in welcher Form.

Natürlich sind Existenzen vernichtet worden. Was sagen Sie dem Gastronomen, dem Inhaber im Prinzip, der sein Geschäft aufgeben musste, der in Konkurs gehen musste? Der ist ja von staatlichen Hilfen weitestgehend ausgenommen worden.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein, das ist er nicht; das wissen Sie ja auch. Es gibt Liquiditätshilfen, es gibt die Kurzarbeit für die Menschen,

(Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Direktzuschüsse! Das weiß er doch!)

und wenn jetzt die Restaurants wieder aufmachen, dann wird es auch eine Mehrwertsteuersenkung geben. Wir werden natürlich, angepasst, auch immer schauen: Wo müssen wir noch helfen? Wir haben nie gesagt, dass wir damit schon am absoluten Ende sind. Wir werden auch etwas zur Stimulierung der Wirtschaft tun. Ich kann Ihnen nur sagen: Stand heute sind keinerlei Erhöhungen von Abgaben und Steuern geplant.

(Lachen bei Abgeordneten der AfD - Zuruf von der AfD: Stand heute!)

- Es gehört ja zur Politik dazu, dass wir immer zum aktuellen Zeitpunkt antworten; sonst wären wir ja Zukunftsvorherseher, und das maße ich mir nicht an.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Die nächste Frage stellt der Kollege Rainer Spiering, SPD.

Rainer Spiering (SPD):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, „Der Spiegel“ berichtet ausführlich über die Zustände bei den Saisonarbeitskräften. Mein eigener Landkreis ist stark betroffen. Es herrscht partiell eine unübersichtliche Datenlage. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sowohl die als Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft als auch die als Werksarbeiter in der Fleischindustrie Beschäftigten arbeiten seit Jahren unter unzumutbaren Zuständen. Enge Platzverhältnisse und mangelnde Hygiene haben inzwischen zu einer Vielzahl von Coronainfizierten geführt. Welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung zusammen mit den Bundesländern, damit die Missstände schnellstmöglich beseitigt werden?

Stimmen Sie mit der SPD-Fraktion überein, dass wir eine grundlegende Reform dieser Arbeitsbereiche benötigen, um wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu erhalten, die Gesundheitsschutz, faire Löhne und soziale Mindeststandards gewährleisten?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Die Bundesregierung hat ja bezüglich der Saisonarbeitskräfte ein Konzept verabschiedet, das auch mit dem Robert-Koch-Institut abgestimmt ist und das den Arbeitgebern in der Landwirtschaft sehr viel stärkere Auflagen auferlegt, als das in früheren Jahren der Fall war - angepasst natürlich sowohl an den Arbeitsschutz im Allgemeinen als auch an den in der Pandemie.

Wir haben jetzt über die Situation in der Fleischindustrie noch mal erschreckende Nachrichten bekommen; Sie werden darüber ja auch gleich in der Aktuellen Stunde debattieren. Die Bundesregierung beabsichtigt, auch hierzu notwendige Änderungen zu beschließen. Nächste Woche Montag wird der Bundesarbeitsminister ein Konzept dazu vorlegen. Ich hoffe, dass wir uns dann auch einigen können. Gerade bei der Unterbringung gibt es erhebliche Mängel; das haben wir jetzt ja alle mitbekommen. Es muss dann geschaut werden, wer da in die Verantwortlichkeit genommen wird. Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, dass auch ich nicht zufrieden bin mit dem, was wir da jetzt gesehen haben.

Für die Kontrolle der Umsetzung dieser Dinge - auch für die Saisonarbeitskräfte - sind natürlich jeweils dann auch die vor Ort zuständigen Behörden zuständig; und die Arbeitgeber eben dafür, dass sie sich an die Bestimmungen halten. Wo das nicht der Fall ist - das hat die Bundeslandwirtschaftsministerin auch gesagt -, muss gehandelt werden.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage, Herr Kollege?

Rainer Spiering (SPD):

Ja, gerne. - Frau Bundeskanzlerin, ich würde gerne darauf eingehen. Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz hat in einer Protokollerklärung genau auf diese Datenlage hingewiesen. Acht Bundesländer haben sie gegengezeichnet, indem sie die Bundesregierung auffordern, dafür Sorge zu tragen, dass hinsichtlich der Daten, die bis jetzt nicht an die Gesundheitsämter geliefert worden sind, sichergestellt wird, dass diese Datenlage geklärt wird. Zurzeit wird das über den Deutschen Bauernverband organisiert.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, wenn die Bundesländer nicht selber zuständig sind, die Daten herbeizuführen. Manchmal warten auch wir als Bundesregierung auf Daten. Es ist jetzt nicht so, dass immer nur die Bundesregierung Daten liefern muss. Aber wo wir Daten beibringen können, werden wir uns auch darum bemühen, das zu tun.

Was die Zahl der Saisonarbeiter anbelangt, haben wir ja sowieso ein festes Kontingent. Da ist eine feste Zahl klar. Da ist auch klar, wo die Leute hingegangen sind. Ich glaube, da müsste die Datenlage klar sein; in der Fleischindustrie ist das vielleicht nicht ganz so.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Manuel Höferlin, FDP, stellt die nächste Frage.

Manuel Höferlin (FDP):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wir haben von Ihnen gerade gehört, wie wichtig die Corona-Tracing-App für die Nachverfolgung von Kontakten, auch von Kontaktketten, von Infektionsketten sein kann. Jetzt ist es ja so, dass nicht erst seit gerade eben an einer solchen App gearbeitet wird, sondern daran wird nunmehr eigentlich seit fast sieben Wochen oder sogar schon über sieben Wochen gearbeitet, wenn man vom Beginn ausgeht. Diese Corona-Tracing-App ist, soweit ich das verstanden habe, federführend im Gesundheitsministerium angesiedelt. Jetzt hat man von Ihnen als Bundesregierung gehört: Das wird jetzt an ein Konsortium aus SAP und T-Systems vergeben. - Ich würde gerne von Ihnen wissen, warum die Entwicklung dieser Gesundheits-App faktisch ausgerechnet im Kanzleramt - jetzt vor allen Dingen auch unter starker Einbindung des Bundespresseamts - geführt wird. Gibt es bestimmte Gründe dafür, dass hier jetzt neue Maßnahmen getroffen werden, wie die App vorangetrieben wird? Wir haben heute gehört, dass sie im Juni fertig werden soll. Das ist ja kein wirkliches Vorantreiben.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Der Kanzleramtsminister war ja gestern bei Ihnen. Ich weiß nicht, ob Sie gar nicht über die App gesprochen haben; aber wir können es hier auch noch mal tun.

Das Kanzleramt hat im Allgemeinen eine koordinierende Funktion bei allen Projekten der Bundesregierung. Hier ist das Gesundheitsministerium zuständig, für Fragen des Datenschutzes ist das Bundesinnenministerium zuständig, und das Kanzleramt hat sich auch darum gekümmert.

Sie wissen, dass wir verschiedene Ansätze verfolgen könnten. Wir haben uns jetzt für den dezentralen Ansatz entschieden, Frankreich zum Beispiel für einen zentralen Ansatz. Es ist erst mal eine allgemeine Architektur entwickelt worden. Wir haben uns für den dezentralen Ansatz entschieden, weil wir glauben, dass es dafür eine sehr viel höhere Akzeptanz gibt.

Dass solche Entwicklungsarbeiten dauern können, ist jetzt nichts Neues. Diese App muss einen großen Vertrauensbeweis liefern. Ich bin sehr froh, dass Telekom und SAP mit in dieses Projekt eingestiegen sind. Wir brauchen die Schnittstellen von den Betriebssystembetreibern für die Mehrheit der Handys; die werden erst in diesen Tagen bereitgestellt. Ich glaube, dass die Arbeiten jetzt mit Hochdruck laufen. Aber auch hier gilt für mich natürlich: Gründlichkeit muss gewährleistet sein, und Datenschutz muss gewährleistet sein. - Es sind alle Datenschutzbehörden, sowohl das BSI als auch der Datenschutzbeauftragte, in die Arbeit mit eingebunden.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage, Herr Kollege?

Manuel Höferlin (FDP):

Gerne, ja. - Sie sind darauf eingegangen, dass das Kanzleramt koordiniert. Würden Sie mir oder uns vielleicht trotzdem erklären, warum über die Koordinierungsrolle hinaus plötzlich innerhalb des Kanzleramtes Dinge entschieden werden? Können Sie bestätigen, dass das so ist, dass zum Beispiel das Design der App, die Farbgebung und der Name der Corona-Warn-App jetzt plötzlich im Kanzleramt entschieden werden und nicht von denjenigen, die die App entwickeln, zum Beispiel von Telekom oder SAP? Hat das irgendeinen bestimmten Grund?

Vielleicht können Sie auch etwas dazu sagen, wie lange wir noch warten müssen. Würden Sie sagen, dass die Corona-App noch vor einem Impfstoff kommen kann, oder kommt sie eher danach?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube schon, dass sie noch vor einem Impfstoff kommen kann. Also, Wunder können eigentlich in Sachen Impfstoff nicht passieren. Ich glaube, sie kommt vorher; das kann ich zusagen.

Haben sich SAP und Telekom beschwert, dass wir auf ihre Designvorschläge nicht eingehen?

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Bundespresseamt ist sozusagen für die Bewerbung von Produkten, hinter denen die Bundesregierung steht, zuständig. Dafür gibt es die entsprechenden Agenturen; die machen Vorschläge. Darüber entscheidet nicht das Kanzleramt, sondern darüber entscheiden wieder alle zuständigen Ressorts, und nach meinem Kenntnisstand haben wir das auch sehr friedlich gemacht. Also, wenn sich jemand bei Ihnen beschwert hat, sagen Sie es mir; vielleicht haben wir den vergessen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Marc Henrichmann, CDU/CSU, ist der nächste Fragesteller.

Marc Henrichmann (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! In meinem Heimatkreis Coesfeld sind in den letzten Tagen die Infektionszahlen in die Höhe geschossen. Es ärgert mich massiv, dass aufgrund von Verfehlungen in einem Unternehmen - Stichwort „Westfleisch“ - die Disziplin der Menschen vor Ort mit Füßen getreten wird. Es ärgert mich auch, dass unter anderem Gastronomen jetzt unter der Verlängerung des Shutdowns leiden, und es ärgert mich, dass jetzt Landwirte plötzlich in die Röhre gucken müssen.

(Timon Gremmels (SPD): Ärgern Sie auch die Arbeitsbedingungen?)

Als Abgeordneter dieses Kreises habe ich die Erwartung, dass wir jetzt natürlich knallhart die Quarantäne durchsetzen - ich glaube, das teilen auch alle verantwortlichen Behörden vor Ort -, und ich halte es auch für wichtig, dass wir noch mal über die Unterbringung diskutieren; Sie haben das ja auch gerade angedeutet.

Dies vorausgeschickt, hier meine Frage: Sie haben am 6. Mai 2020 in der Runde mit den Länderregierungschefs abgesprochen, dass es im Falle eines regional klar eingrenzbaren Infektionsgeschehens - da wird häufig beispielhaft als Einrichtung das Altenheim angeführt - Ausnahmetatbestände für Lockerungen geben kann, trotz eines Anstiegs. Ist in diesem Zusammenhang darüber nachgedacht worden, diese Regelung auch auf Unternehmen wie Westfleisch und solche Infektionsgeschehen zu beziehen, damit wir den Menschen vor Ort jetzt Hoffnung machen können, dass auch sie nicht mehr allzu lange unter den Restriktionen leiden müssen? - Danke.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Die Entscheidungen darüber - das ist ein Beschluss, den wir gemeinsam mit den Ministerpräsidenten gefällt haben - treffen ja die Landesregierungen in Absprache mit den Landräten, also mit den örtlichen Behörden. Einrichtungen sind in der Tat Pflegeheime, Krankenhäuser oder eben ein Betrieb. Aber in diesem Fall geht es natürlich nicht um den Betrieb allein, sondern eben auch um die Unterbringung der Beschäftigten. Daher ist das Infektionsrisiko doch etwas breiter gestreut, als wenn Infektionen nur in diesem Betrieb vorkämen und niemand den Betrieb verlassen würde. Das heißt, man hat sich entschlossen, die Lockerungsmaßnahmen, die sonst in Nordrhein-Westfalen gelten, für eine bestimmte Zeit auszusetzen. Ich hoffe, dass mit diesem sehr entschiedenen Vorgehen der Landesregierung und der örtlichen Behörden - für das ich auch sehr dankbar bin, die Infektionen jetzt sehr schnell wieder eingegrenzt werden können.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Marc Henrichmann (CDU/CSU):

Nein.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke. - Der Kollege Harald Weinberg, Die Linke, hat als Nächster das Recht, eine Frage zu stellen.

Harald Weinberg (DIE LINKE):

Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Bundeskanzlerin, ich bin krankenhauspolitischer Sprecher meiner Fraktion, und ich habe insofern sehr viel mit Pflegekräften zu tun und bin auch dauernd mit ihnen in der Diskussion.

Es gibt einige Arbeitsschutzverstöße, Probleme in Bezug auf die Schutzausrüstungen und Ähnliches. Im Sinne von Learning Lessons gibt es eine Forderung der Pflegekräfte, die lautet: Es wäre ganz gut, wenn wir so etwas wie ein unabhängiges Krisenmonitoring hätten, an dem sich Verbände, Gewerkschaften, die Pflegeverbände und durchaus auch die Arbeitgeberseite, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, beteiligen, um solche Fälle einfach auch mal aufzulisten und daraus eine Lagebeurteilung für eventuell zukünftig auftretende Ereignisse dieser Art zu erstellen. Was halten Sie von einer solchen Idee?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich denke, wenn wir die Pandemie mal überwunden haben, dann wird man allen beteiligten Gruppen sehr dankbar dafür sein, dass sie uns ihre gelernten Dinge mitteilen. Je verbandsübergreifender - also von Arbeitnehmerverbänden bis Arbeitgeberverbänden - das ist, umso aussagekräftiger ist es und umso einfacher ist es auch für die Regierung, daraus Schlüsse zu ziehen.

Wir werden das selber auch tun; denn wir haben ja auch Schwachstellen entdeckt, ob nun hinsichtlich der Produktion von Masken, strategischer Unabhängigkeiten, bestimmter Fragen, die das Miteinander von Bund, Ländern und Kommunen anbelangen, oder des großen Themas „Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes“. Wir werden also alle gut daran tun, und ich werde jede Anregung sehr gerne mit aufnehmen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage, Herr Kollege?

Harald Weinberg (DIE LINKE):

Nur eine kurze Nachfrage: Eigentlich müsste man das ja nach Möglichkeit jetzt einrichten, damit dieses Learning Lessons auch greift. Wenn man das im Nachhinein macht, dann hat man zwar natürlich Erfahrungen, die man eventuell einbringen kann, aber jetzt gibt es ja die Ereignisse in den Krankenhäusern und Pflegeheimen vor Ort.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wenn Sie Kontakt zu dieser Gruppe haben und wenn Sie mit uns zusammenarbeiten und mir jede Woche einen Lagebericht schicken möchten, dann werde ich diesen nicht nur annehmen, sondern auch interessiert lesen und versuchen, die Erfahrungen mit einfließen zu lassen. Ich bin ja ein aufmerksamer Zeitmensch, um nicht „-genosse“ zu sagen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will mir jetzt hier nichts einbrocken.

Schauen Sie, ich möchte, dass das alles möglichst gut funktioniert. Wenn wir jetzt insbesondere an die älteren Menschen in den Pflegeheimen denken: Sie sind doch zum großen Teil diejenigen, die wirklich am härtesten betroffen sind:

(Harald Weinberg (DIE LINKE): Das ist richtig!)

keine Besuche, ganz wenige Kontakte. Wir haben jetzt gesagt, dass es wenigstens eine feste Kontaktperson geben soll. Das gilt genauso für Behinderteneinrichtungen.

Wenn wir da nicht aufmerksam wären und überlegen würden, was wir tun können, um das Leben dort etwas zu erleichtern und schöner zu machen - genauso wie das der dort Beschäftigten -, dann wäre das doch nicht in Ordnung. Ich bin da sehr aufnahmebereit.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Bundeskanzlerin, ich möchte mich auf Medienberichte aus der vergangenen Woche beziehen, und zwar ging es darin um die Ermittlungserfolge in Sachen Bundestagshack. Es gab ja vor fünf Jahren - Sie erinnern sich - einen großen Hackerangriff auf den Bundestag. Man schätzt, dass damals 16 Gigabyte an Daten, Dokumenten, E-Mails abgegriffen worden sind. Unter anderem ist ja auch Ihr Abgeordnetenbüro davon betroffen gewesen. Ich nehme an, Sie teilen unsere Einschätzung aufgrund dieses Ermittlungserfolgs, dass sich die Zusammenarbeit mit den ausländischen Geheimdiensten bewährt hat und dass auch außerhalb des Instruments Hackback eine erfolgreiche Cyberabwehr möglich ist.

Ich wollte Sie fragen, ob Sie Erkenntnisse darüber haben, welche Daten und vor allen Dingen zu welchem Zweck diese Daten aus Ihrem Büro abgegriffen worden sind.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein. Ich habe den Eindruck: Da wurde relativ wahllos abgegriffen, was man kriegen konnte. Ich bin sehr froh, dass die Untersuchungen jetzt dazu geführt haben, dass der Generalbundesanwalt eine konkrete Person auf die Fahndungsliste gesetzt hat.

Ich nehme diese Dinge sehr ernst, weil ich glaube, dass da sehr ordentlich recherchiert wurde, und ich darf sehr ehrlich sagen: Mich schmerzt es. Auf der einen Seite bemühe ich mich tagtäglich auch um ein besseres Verhältnis zu Russland, und wenn man auf der anderen Seite sieht, dass es harte Evidenzen dafür gibt, dass da auch russische Kräfte dabei sind, so vorzugehen, dann ist das schon ein Spannungsfeld, in dem wir da arbeiten - in dem Wunsch nach guten Beziehungen zu Russland -, das auch ich nicht ganz aus meinem Innern streichen kann. Das ist unangenehm, und wir werden natürlich alles tun, um den Wünschen des GBA zu entsprechen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage, Frau Kollegin?

Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja. - Vielleicht genau dazu die Nachfrage: Zu welcher neuen Einschätzung kommen Sie dann in der Bewertung der Zusammenarbeit mit dem russischen Geheimdienst - gerade im Hinblick darauf, dass es diese Verbindung dieses mutmaßlichen Täters gibt, der ja offenbar ganz eindeutig mit Fancy Bear, dem Militärgeheimdienst GRU usw. zusammengearbeitet hat oder -arbeitet?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Leider ist die Einschätzung, zu der ich komme, nicht neu, weil es eine Facette in einer Vielzahl von Facetten gibt. Es gibt eine Strategie Russlands, die wir beachten müssen, und die können wir auch nicht einfach verdrängen: die Strategie der hybriden Kriegsführung, die auch Kriegsführung im Zusammenhang mit Cyberdesorientierung und Faktenverdrehung beinhaltet. Das ist nicht nur irgendwie ein Zufallsprodukt, sondern das ist durchaus eine Strategie, die dort angewandt wird.

Trotzdem werde ich mich weiter um ein gutes Verhältnis zu Russland bemühen, weil ich glaube, dass es allen Grund gibt, diese diplomatischen Bemühungen immer fortzusetzen. Aber das macht es natürlich nicht einfacher.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Dazu eine Nachfrage? - Herr Kollege.

Manuel Höferlin (FDP):

Danke, Herr Präsident, dass Sie die Nachfrage zulassen. - Ich bin jetzt irritiert. Sie sagen, der Vorgang sei Ihnen unangenehm. Ich glaube, so nah war seit Guillaume kein fremder Geheimdienst mehr an einem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dran. Ich finde den Vorgang schon eher ungeheuerlich. Ist Ihnen das nur unangenehm, oder haben Sie mit dem Außenminister und weiteren auch über Maßnahmen gesprochen, die irgendeine Folge für das Land zulassen bzw. möglich machen? Ich finde diesen Vorgang für dieses Land nämlich, ehrlich gesagt, mehr als unangenehm.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Mehr als unangenehm, genau. Unangenehm ist aber eine Facette; ungeheuerlich finde ich ihn, nebenbei, auch. Ich bin auch nicht die einzige Betroffene des Deutschen Bundestages gewesen, sondern das waren ja viele Kollegen Abgeordneten. Für sie gilt das „ungeheuerlich“ genauso. Das stört natürlich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Sie wissen, dass wir im Zusammenhang mit dem Mord im Tiergarten Sanktionen verhängt, also Ausweisungen veranlasst haben. Wir haben jetzt an dieser Stelle erst mal die Aufgabe, zu versuchen, die Person durch Fahndung zu finden. Aber natürlich behalten wir uns immer Maßnahmen vor - auch gegen Russland -, um das deutlich zu machen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Der Kollege Detlev Spangenberg, AfD, stellt die nächste Frage.

Detlev Spangenberg (AfD):

Vielen Dank. - Frau Bundeskanzlerin, die Analyse des Auswertungsberichtes aus dem BMI vom 25. April 2020 in Kommentierung von neun bedeutenden Wissenschaftlern zeigt in schonungsloser Offenheit, dass die eingeleiteten Maßnahmen im Rahmen der Coronaproblematik völlig überzogen waren und sind. Insbesondere wird in diesem Bericht die Formulierung „Fehlalarm“ verwendet.

Wie erklären Sie den Tausenden wirtschaftlich Geschädigten in Deutschland die offenbar unnötigen Einschränkungen der Grundrechte und diese Fehleinschätzung der Regierung, und welche personellen und politischen Konsequenzen werden Sie daraus ziehen? - Vielen Dank.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Sie wissen ja sicherlich, dass die Regierung die Einschätzung, die in diesem Papier geäußert wurde, nicht teilt und dass wir zu anderen Bewertungen gekommen sind. Wir wissen, dass es Menschen gibt, die unter den Einschränkungen leiden müssen; wir haben bei der ersten Frage ja schon darüber gesprochen. Arbeitsplätze sind in Gefahr, die Wirtschaft geht durch eine Rezession; das ist klar.

Wir müssen immer wieder gucken, wie es mit der Verhältnismäßigkeit unserer Maßnahmen aussieht. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass diese Maßnahmen richtig waren, um einfach eine völlige Überforderung oder Überwältigung unseres Gesundheitssystems zu verhindern, genauso wie es richtig ist, jetzt schrittweise zu lockern.

Das ist die gemeinsame Haltung der Bundesregierung und auch des Bundesinnenministeriums, und das hat das Bundesinnenministerium auch deutlich gemacht.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Die nächste Frage stellt die Kollegin Nina Scheer, SPD.

Dr. Nina Scheer (SPD):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Rede zum Petersberger Klimadialog haben Sie am 28. April 2020 ausdrücklich begrüßt, dass eine Emissionsreduktion auf 50 bis 55 Prozent im Vergleich zu 1990 erfolgen soll. Wie ist dies mit dem jüngsten Papier der CDU/CSU-Fraktion vereinbar, in dem dieses Ziel nicht mitgetragen wird? Es wird darauf verwiesen, dass man dazu einen Lastenausgleich in der EU bräuchte, und alle wissen, dass das sehr schwer ist.

Für mich und unsere Fraktion stellt sich daneben auch die Frage: Wie ist diese Äußerung auf dem Petersberger Klimadialog, die wir ja begrüßen, mit der anhaltenden Verweigerung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vereinbar, wenn es darum geht, den Solardeckel abzuschaffen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Jetzt muss ich ein bisschen sortieren:

Erst mal hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gestern ein Klimapapier verabschiedet, in dem sie sich zur Klimaneutralität im Jahre 2050 bekannt hat. Die Bundesregierung hat mit Unterstützung des Parlaments eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen. Wir werden noch weitere ergreifen müssen, um auch die Zwischenziele zu erreichen.

Das Zweite ist: Es geht um die Frage, wie sich die Europäische Union in ihrer Zielsetzung weiterentwickeln wird. Die Kommissionspräsidentin hat gesagt, dass sie das Ziel 2030 von 40 Prozent auf 50 bis 55 Prozent anheben will. Das habe ich begrüßt. Die Unionsfraktion sagt, dass dazu aber auch neue Verhandlungen zur Lastenverteilung geführt werden müssen. Das ist für mich ganz selbstverständlich. Wir haben Mitgliedstaaten, die zum Beispiel bis 2030 Reduktionsraten haben, die sogar bei null liegen, wenn ich mich recht erinnere. Ich glaube, wenn wir alle miteinander in der Europäischen Union die Klimaneutralität 2050 erreichen wollen, dann wird man mit einem Reduktionsziel 2030 von null sicherlich nicht hinkommen.

Das heißt, es wird ganz automatisch unter den Mitgliedstaaten - ich gebe Ihnen recht; es wird schwer; es war auch bis jetzt schon schwer; die Verhandlungen werden nicht leichter werden - Verschiebungen geben und auch unterschiedliche Lastenteilungen. Die Bundesrepublik wird sich daran beteiligen. Aber es kann nicht sein, dass der Schlüssel von 2020 oder 2017, als wir darüber verhandelt haben, einfach so bleibt.

Der letzte Punkt war der PV-Deckel. Wie Sie wissen, gibt es in der Tat mühselige, aber hoffentlich irgendwann endende Verhandlungen über die Frage der Windenergie. Es gibt dann die politische Zusage, dass der PV-Deckel aufgehoben wird. Daran ändert sich auch nichts.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Die Bundeskanzlerin hat jetzt etwas mehr Zeit bekommen, weil sie zugleich für die CDU/CSU-Fraktion antworten musste.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Deren Mitglied die Bundeskanzlerin ist.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Ja, der Bundestagspräsident auch. - Aber Sie haben eine Nachfrage, Frau Kollegin Scheer.

Dr. Nina Scheer (SPD):

Aber wie wollen Sie, liebe Frau Merkel, dann den Widerspruch auflösen, den wir hier akut haben - mit schon jetzt drohenden Arbeitsplatzverlusten -, wenn der Solardeckel und das nationale Beispiel in der Europäischen Union zu scheitern drohen, falls wir nicht unmittelbar handeln? Wir haben auch in dieser Woche das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf der Tagesordnung. Insofern frage ich, ob Sie zur Kenntnis nehmen, dass inzwischen selbst auf internationaler Ebene dringend appelliert wird - auch im Kontext mit Konjunkturprogrammen -, den Schwerpunkt auf den Ausbau der erneuerbaren Energien zu setzen.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ja. Ich werde auch morgen die Gelegenheiten in der Vorbereitung des Bundesrates wieder nutzen, um noch mal mit den Ministerpräsidenten zu sprechen im Hinblick auf die Windenergie, damit wir diese Frage schnellstmöglich lösen. Ich stimme Ihnen zu: Wir sollten hier baldmöglichst eine Lösung finden. Ich werde mich auch dafür einsetzen. Dass es Ihnen zu lange dauert, verstehe ich auch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Dazu möchte die Kollegin Lisa Badum, Bündnis 90/Die Grünen, eine Frage stellen.

Lisa Badum (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich möchte ebenfalls gern zur Lastenverteilung in der EU fragen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Sie vor Kurzem angemahnt haben, dass wir in der Coronakrise mehr europäische Zusammenarbeit, mehr Solidarität und Zusammenhalt brauchen, finde ich es sehr verwunderlich und sehr befremdlich, dass Sie nun - so auch in Ihrem Beitrag gerade - vorschlagen, dass Deutschland einen geringeren Klimabeitrag leistet, dass wir also bei der Klimazielerhöhung einen geringeren Beitrag einbringen. Das wäre ja das Gegenteil von mehr Solidarität und mehr Verantwortung. Daher die Frage an Sie: Welche Fakten haben sich dahin gehend geändert, dass Deutschland jetzt einen geringeren Beitrag einbringt? Meines Wissens nach sind wir noch immer der größte CO2-Emittent in der Europäischen Union. Mit unserem Pro-Kopf-Verbrauch von 10 Tonnen sind wir in der Spitzengruppe. Wir sind der größte Emittent. Wir müssen unserer Ansicht nach Verantwortung übernehmen. Was hat sich aus Ihrer Sicht geändert? Warum jetzt weniger Solidarität, weniger Verantwortung aus deutscher Sicht?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Erstens. Wir sind in der Tat in der Spitzengruppe beim Pro-Kopf-Verbrauch. Deshalb haben wir uns sehr intensiv mit dem Kohleausstieg beschäftigt.

Zweitens. Wir sind der größte Emittent, weil wir die meisten Einwohner haben. Aber beim Pro-Kopf-Verbrauch gibt es auch andere Spitzenländer. Wir sind uns doch sicherlich einig, wenn die Europäische Union der erste Kontinent sein will, der kein CO2 mehr emittiert, dass dann alle Länder auf null kommen müssen. Das heißt, auch andere Länder werden in ihren Ambitionen weitergehen müssen. Dass man, noch bevor der Kommissionsvorschlag vorliegt, bereits national zusagt: „Wir machen das, was wir immer gemacht haben“, während andere gar nicht gefragt werden, was sie machen, wäre taktisch doch wirklich unklug. Deshalb kann und muss über die Lastenverteilung neu verhandelt werden; das ist klar. Das wird auch im Europäischen Rat geschehen; so ist es jedes Mal gewesen. Es ist auch beim vorletzten Mal eine andere Lastenverteilung gewesen als beim letzten Mal. Auch beim nächsten Mal wird es eine andere sein. Dass Deutschland dazu beitragen muss, ist doch gar keine Frage. Wir haben im Übrigen das nationale Ziel von 55 Prozent Reduktion; das wissen Sie. Andere haben das nicht.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Johannes Vogel, FDP, stellt die nächste Frage.

Johannes Vogel (Olpe) (FDP):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eben zu Recht darauf hingewiesen, dass in der wirtschaftlichen Dimension dieser Krise der Sozialstaat uns schützt. Ich denke, wir sind einer Meinung, dass wir auf eine solide Finanzierung dieses Sozialstaats achten müssen. Sie haben 2008, in der letzten großen Krise, die Rentengarantie eingeführt. Damals wurde mit vereinbart, dass das, wenn diese greift, in den folgenden Jahren verrechnet wird, sodass Renten und Löhne immer im Gleichklang steigen. Heute haben die Professoren Börsch-Supan und Rürup in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf hingewiesen, dass Sie im Rentenpaket 2018 den Effekt - das ist der sogenannte Nachholfaktor - ausgesetzt haben. Das kann dazu führen, dass das dann, wenn im nächsten Jahr sehr wahrscheinlich die Rentengarantie wieder greift, in den Folgejahren nicht verrechnet wird. Das führt dazu, dass auf Dauer die Renten stärker steigen als die Löhne. Meine Frage ist: Halten Sie das für fair? Ist das nicht mit Blick auf die Generationengerechtigkeit eigentlich unverantwortbar? Müsste man nicht jetzt den Nachholfaktor wieder in Kraft setzen, also wieder einführen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich habe heute früh über diese Entdeckung der Rentenprofessoren gelesen. Wenn solchen renommierten Professoren das erst jetzt auffällt, dann verzeihen Sie vielleicht, dass ich in den vier Stunden, die mir seitdem verblieben sind, das Gesetz noch nicht gelesen habe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich hatte mit Hubertus Heil heute auch so viel über die Fleischindustrie zu sprechen. Aber ich habe mir fest vorgenommen, das zu lesen.

Wenn es so wäre, wie es heute in der Zeitung steht, nämlich dass der Nachholfaktor bis 2025 ausgesetzt ist, würden wir darüber noch mal reden. Das hängt dann aber mit den Haltelinien, die wir eingezogen haben, zusammen. Wie man das dann löst, muss man sehen. Ich muss aber erst mal gucken, ob das Faktum stimmt. Zweitens ist dann der Nachholfaktor auch nicht für immer ausgesetzt; das will ich noch mal sagen.

Im Übrigen führt der Nachholfaktor dann dazu, dass die Renten nicht mehr so stark steigen wie die Löhne. Also, die Renten stiegen dann langsamer, weil man ja nachholen muss, was man bei den Löhnen nicht angeglichen hat, weil man die Rente hätte kurzzeitig senken müssen, was keiner möchte. Also: Ich stehe zu der Rentengarantie. Ich werde der Sache nachgehen. Falls es so ist, gilt es nur bis 2025 und nicht für immer.

Glücklicherweise sind wir auch noch nicht in der Situation, dass die Renten sinken. Vielmehr steigen sie in diesem Jahr deutlich um 3 Prozent für die Menschen in den alten Bundesländern und um über 4 Prozent für die Menschen in den neuen Bundesländern. Noch mal: Darüber freuen wir uns. Ich halte nichts von Vorschlägen, die besagen, dass man das jetzt nicht machen sollte, in vorauseilender Antizipierung dessen, was vielleicht kommen könnte. Die Rentnerinnen und Rentner haben das verdient.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Eine Nachfrage, Herr Kollege Vogel.

Johannes Vogel (Olpe) (FDP):

Auch ich halte davon nichts. Ich bin sehr für die Rentensteigerung in diesem Jahr, aber auch dafür, dass das langfristig im Gleichklang steigt.

Ich habe es mir schon angeschaut. Es ist in der Tat so, dass selbst dann, wenn die Haltelinie noch nicht erreicht ist, wenn also das Rentenniveau über 48 Prozent liegt, der Nachholfaktor für die folgenden Jahre ausgesetzt ist. Sollten Sie bei der Prüfung der Faktenlage zu demselben Urteil kommen wie ich bei meiner, wären Sie dann mit mir der Meinung, dass dann definitiv der Nachholfaktor, sofern es oberhalb der Haltelinie liegt, wieder in Kraft gesetzt werden müsste und alles andere mit Blick auf die Generationengerechtigkeit unverantwortbar wäre?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Für diese Meinungsbildung brauche ich noch ein paar Stunden, Herr Vogel. Aber ich werde Sie dann informieren.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Gunther Krichbaum, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Bundeskanzlerin, die Coronakrise, die Coronapandemie hat uns an vielen Stellen in Europa kalt erwischt. An welchen Stellen sehen Sie die Notwendigkeit, zu stärkeren europäischen Ansätzen bei der Bekämpfung von Pandemien zu kommen? Denn für die Zukunft kann nicht ausgeschlossen werden, dass uns ähnliche Krankheitsverläufe, ähnliche Pandemien noch einmal heimsuchen.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, dass wir mit der Tatsache, dass Gesundheitspolitik erst mal in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt, weiter leben können. Das müssen wir aus meiner Sicht nicht vergemeinschaften. Aber wir brauchen schon ein paar bessere europäische Mechanismen; ich sage gleich etwas dazu. Wir sehen, wie schnell infolge zum Beispiel solcher Beschränkungen, die wir einführen mussten, um die Überforderung des Gesundheitssystems zu verhindern, dann auch andere Bereiche, die sehr europäisch sind, wie das Funktionieren des Binnenmarktes, betroffen sind.

Da ist, glaube ich, erkennbar, dass da gegenseitig eine sehr viel bessere Information erfolgen muss, um Lkw-Schlangen, wie wir sie gesehen haben, zu verhindern, um unabgesprochene Grenzschließungen und vieles andere mehr zu verhindern.

Wir brauchen mit Sicherheit auch im Blick auf die Gesundheit eine stärkere strategische Souveränität Europas, wenn es zum Beispiel um medizinische Versorgung geht, wenn es wie in diesem Falle um Masken geht. Daraus werden wir eine ganze Reihe von Lehren ziehen müssen; wir sind ja auch schon dabei, sie daraus zu ziehen.

Wir selber haben schmerzlich erfahren, als wir durchaus mit guten Gründen gesagt haben: Wir erlassen ein limitiertes Exportverbot medizinischer Güter. - Damit haben wir uns zum Teil auch ins eigene Fleisch geschnitten, weil wir dann gemerkt haben, wie abhängig wir von Zulieferungen sind.

Das alles noch mal zu reflektieren, das wird sicherlich die Aufgabe sein.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Nachfrage, Herr Krichbaum?

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Eine kurze Nachfrage. - Wir sind in Europa dafür durchaus institutionell gerüstet. Es gibt die ECDC - das ist eine Art Seuchenbekämpfungsagentur in der Nähe von Stockholm -, eine Agentur, die ein Schattendasein fristet und die eigentlich kaum bekannt ist. Aber hielten Sie es für denkbar, dass wir diese Agentur analog Frontex zu einer veritablen Behörde entwickeln? Frontex war früher ebenfalls eine - in Anführungszeichen - „simple Agentur“. Es fällt eben doch auf, dass wir hier in Europa institutionell einfach wenig gerüstet sind.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ja, wir haben gerade heute im Kabinett sehr lange über diese Agentur gesprochen, weil sie zum Beispiel europaweit das Infektionsgeschehen abbildet und Warnstufen ausgibt, auch weltweit. Diese Agentur sollte auf jeden Fall stärker befähigt werden, in dieser Pandemie eine noch wichtigere, koordinierende und von allen Mitgliedstaaten akzeptierte Rolle zu spielen, damit man auch zu gleichen Entscheidungskriterien kommen kann.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Jetzt habe ich noch zwei Nachfragen zu diesem Thema, zum einen von Frau Dr. Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich bin froh, dass wir vernehmen konnten, dass jetzt alle Grenzübergänge wieder geöffnet werden - Sie haben es gerade selber erwähnt -, dass Grenzkontrollen aber stichprobenartig oder in noch größerem Umfang durchgeführt werden sollen.

Ich habe eine konkrete Frage an Sie. Bis jetzt ist grenzüberschreitendes Reisen als Einreise zum Ehepartner und zum eingetragenen Lebenspartner möglich. Was wollen Sie dafür tun, dass sich jene, die nach einem erweiterten Familienbegriff leben, also in einer Partnerschaft ohne Trauschein, ebenfalls in den nächsten Wochen sehen können, wenn diese Grenzkontrollen weiterlaufen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Der Bundesinnenminister hat heute dargelegt, dass genau das gewollt wird. Da gibt es dann immer die schöne Formulierung: „wenn es glaubhaft gemacht werden kann.“ Das ist in Zeiten von Corona manchmal vielleicht eine gewisse Schwierigkeit; wenn ich das so leicht scherzhaft sagen darf. Ansonsten sind wir der Meinung, dass das geschehen soll. Es wird in den nächsten Tagen ja auch nur noch stichprobenweise kontrolliert, also nicht mehr so flächendeckend, wie das jetzt der Fall war.

Also, ich hoffe, dass diese in der Tat sehr beschwerlichen Situationen für Menschen, die auf beiden Seiten der Grenze leben, jetzt überwunden werden können. Das Ziel ist ja auch, wenn das Infektionsgeschehen das zulässt - das will ich noch mal ausdrücklich sagen -, dass dann, ab 15. Juni, die Grenzkontrollen im Schengenraum vollständig entfallen können, überall und auf jeden Fall.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Der Kollege Dr. Schinnenburg, FDP, möchte auch eine Frage danach stellen.

Dr. Wieland Schinnenburg (FDP):

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Frage zulassen. - Frau Bundeskanzlerin, es schließt sich direkt an. Wir sprachen jetzt über direkte Grenzbeziehungen, Verwandtenbesuche und Ähnliches. Ich fasse die Frage mal weiter: Sind Sie nicht der Meinung, dass Grenzschließungen oder Grenzkontrollen außerordentlich wenig zur Eindämmung der Pandemie beitragen können, mindestens im Hinblick auf solche Länder, die ein ähnliches Infektionsgeschehen haben wie wir? Glauben Sie, dass Sie durch Grenzkontrollen die Pandemie nennenswert aufhalten können?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, dass zwei Dinge eine Rolle spielen: zum einen die Vergleichbarkeit des Infektionsgeschehens und zum anderen der Aspekt der Vergleichbarkeit der Maßnahmen. Wenn - das war ja der letztlich der Auslöser für die deutsch-französischen Grenzkontrollen - zum Beispiel in Frankreich die Läden und die Restaurants schon geschlossen waren, dann gab es plötzlich eine große Bewegung Richtung Deutschland; das könnte aber umgekehrt genauso sein.

Das heißt, wir müssen auch ein bisschen auf die Reziprozität der Maßnahmen achten. Im Zusammenhang mit Frankreich war während der Zeit, als der ganze Lockdown dort durchgeführt wurde, natürlich überhaupt nicht mehr die Situation gegeben wie an dem Tag, an dem die Grenzkontrollen eingeführt worden waren. Dazwischen lagen leider nur zwei Tage. Daraus hat sich dann ja auch die veränderte Betrachtungsweise ergeben.

Also, wichtig ist die Reziprozität der Maßnahmen. Wir hatten zum Beispiel keine Grenzkontrollen an den Übergängen zwischen NRW, Niedersachsen und den Niederlanden, und das hat über Ostern nur geklappt, weil man miteinander gesprochen hat und gesagt hat: Wenn der eine die Freizeitparks zuhat, muss auch der andere die Freizeitparks zuhaben; sonst kommt es zu einer Mobilität, die wir dann nicht mehr genau überblicken.

Das ist dort sehr gut gelungen, und das wird uns jetzt auch mit Frankreich gut gelingen. Ich habe mit dem Präsidenten auch selbst darüber gesprochen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Die nächste Frage stellt der Kollege Fabio De Masi, Die Linke.

Fabio De Masi (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Bundeskanzlerin, viele Menschen sind in der Coronakrise ja verständlicherweise verzweifelt, etwa Alleinerziehende, die nicht wissen, wie sie ihre Arbeit erledigen und gleichzeitig die Kinder betreuen sollen. Es soll in Deutschland sogar Kinder geben, die die Schule vermissen. Aber es ist ja so, dass es vor allem die Leute sind, die vom Leben nicht immer geküsst werden - die Kassiererinnen, die Pflegekräfte -, die jetzt den Laden am Laufen halten.

Sehr bald ist die Hauptversammlung von BMW. Man schüttet Dividenden von über 700 Millionen Euro aus, unter anderem an die Quandts und Klattens. Die Quandts und Klattens tauchen ja auch immer wieder in Parteispendenberichten auf. Gleichzeitig werden Zehntausende von Beschäftigten in Kurzarbeit geschickt. Jetzt weiß ich, dass Kurzarbeit eine Versicherungsleistung ist; aber es ist ja durchaus möglich, dass wir noch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt für die Arbeitslosenversicherung brauchen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen, ob Sie die Auffassung Ihres Finanzministers teilen, dass diejenigen in diesem Land, die starke Schultern haben, mehr für den Wiederaufbau dieses Landes leisten müssen, zum Beispiel mit einer Vermögensabgabe, wie wir das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg schon mal mit einem Lastenausgleich hatten.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich weiß nicht, ob der Finanzminister sich schon dezidiert für eine Vermögensabgabe ausgesprochen hat. Ich spreche mich nicht für eine Vermögensabgabe aus.

Ich finde erst mal wichtig, dass wir noch ein paar Unternehmen haben, die Steuern an den Staat zahlen; denn sonst können wir auch denen, denen es nicht gut geht, leider nicht so viel Hilfe leisten, wie wir das gerne tun würden. Deshalb ist alles okay, solange es auf der Basis der Legalität stattfindet. Auch Parteispenden sind sozusagen rechtlich möglich und werden vom Steuerzahler sogar unterstützt, weil wir Parteien wichtig finden, wie Sie ja sicherlich auch nachvollziehen können.

Also: Wir brauchen Unternehmen, die Gewinne machen, damit Steuern gezahlt werden. Wir brauchen eine stärkere Belastung der starken Schultern als der schwächeren Schultern - das ist vollkommen klar -; das ist die Grundlage unseres Sozialstaates. In diesem Rahmen werden wir die Diskussionen auch in der Zukunft führen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage, Herr Kollege.

Fabio De Masi (DIE LINKE):

Die Frage, wer die Lasten in diesem Land trägt, wird uns ja noch eine Weile beschäftigen. Sie haben sich damals, in der letzten Finanzkrise, mit Herrn Steinbrück vor die Kameras gestellt und gesagt: Die Spareinlagen sind in Deutschland sicher. - Wären Sie denn bereit, sich auch mit Herrn Scholz vor die Kameras zu stellen und ein Versprechen für Ihre Amtszeit abzugeben, dass keine Renten, keine sozialen Leistungen gekürzt werden?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich sage immer wieder und sage das auch heute hier gerne, dass die Steinbrück/Merkel’sche Sparergarantie fortgilt.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Bundeskanzlerin, wie bewerten Sie die aktuellen Auswirkungen der Coronakrise auf die Gleichberechtigung? Erste wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass ein großer Teil der Frauen, insbesondere der Mütter, von einer andauernden Mehrfachbelastung aufgrund von Homeschooling und Kinderbetreuung, oft eben neben ihrer eigentlichen Berufstätigkeit, betroffen ist, und in den sozialen Medien schildern sehr viele Frauen ihre Betroffenheit. Nicht sehr wenige sind auch wütend, dass da aus ihrer Sicht zu wenig gemacht wird; denn sie wollen auch nicht ins Privatleben zurückgedrängt werden, sie wollen keine Retraditionalisierung. Deswegen frage ich Sie: Was wollen Sie als Chefin der Bundesregierung konkret gegen den Rückfall in eine traditionelle Rollenverteilung tun?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich muss Ihnen sagen: Ich bin in diesen Tagen und Wochen wirklich noch mal sehr daran erinnert worden, dass wir eigentlich noch gar nicht so lange einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz haben und dass das doch eine ganz, ganz wichtige Sache und glücklicherweise auch eine sehr, sehr gut angenommene Sache ist. Ich werde mich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass wir nicht etwa eine Retraditionalisierung bekommen, sondern dass der Weg der gleichen Chancen für Männer und Frauen weiterführt. Es gibt im Übrigen auch viele Väter, die sich jetzt mit dem Homeschooling beschäftigt haben; es sind nicht nur Mütter. Aber ich stimme Ihnen darin zu, dass dann, wenn man die Summe der Stunden nimmt, wahrscheinlich die Mütter in sehr viel stärkerem Maße belastet sind. Mich spornt das an, noch mehr zu tun. Wir haben uns ja vorgenommen, als Koalition auch etwas für einen Rechtsanspruch auf Betreuung im Grundschulalter zu tun.

Alle diese Dinge müssen fortgesetzt werden. Wir sind auch sehr froh, dass sich jetzt glücklicherweise die Notbetreuung durch der Öffnung der Kitas fortentwickeln kann und dass hoffentlich dann die Ausübung von Berufstätigkeit für Männer und Frauen wieder besser möglich wird. Wir werden das natürlich sehr genau beobachten.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage, Frau Kollegin?

Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank. - Ich habe eine Nachfrage konkret zum politischen Raum. Sind Sie mit dem Anteil der Frauen in den politischen Entscheidungspositionen, die aktuell mit der Bekämpfung der Coronakrise befasst sind, zufrieden? Glauben Sie, dass so die Perspektive von Frauen ausreichend berücksichtigt wird? Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Sie die Ministerin für Frauen und Familie nicht als ständiges Mitglied in Ihr Coronakabinett berufen haben, frage ich das jetzt auch ganz direkt Sie als Bundeskanzlerin.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Streng genommen haben wir zwei Coronakabinette: ein Kernkabinett, das montags tagt, und ein erweitertes - da ist die Familienministerin dabei -, das in Sitzungswochen nicht mehr donnerstags tagen wird, weil wir festgestellt haben, dass wir sonst in Konflikt mit dem Bundestag kommen, und der hat natürlich Vorrang vor der Bundesregierung. Also, die Bundesfamilienministerin ist dort drin. Insofern sehe ich da überhaupt keinen Nachholbedarf, zumal Franziska Giffey bei uns und auch bei mir wirklich Gehör findet. Sie hat auch eine gute Stimme, die deutlich macht, was sie will. Also, da sehe ich keinen Nachholbedarf.

„Bin ich zufrieden?“ Ich muss Ihnen sagen, dass ich mich freue, dass es ziemlich viele Professorinnen und Wissenschaftlerinnen im virologischen Bereich, im Bereich des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und in den ethischen Bereichen gibt. Ich habe da jetzt viele kennengelernt, auch im Zusammenhang mit Beratung.

Was die politischen Entscheidungsträger anbelangt, ändert sich natürlich jetzt nicht ad hoc etwas durch die Frage. Aber gerade im Gesundheitsbereich haben wir tendenziell mehr Frauen in Gremien als im Wirtschaftsbereich. Ob das nun wiederum schon für die Gleichberechtigung spricht, das weiß man auch nicht. Aber ich habe im Augenblick mit sehr vielen Frauen zu tun, die auch beraten, die zum Teil selber Beruf und Familie zusammenbringen müssen und deshalb auch aus eigenem Erleben sprechen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Norbert Kleinwächter, AfD, stellt die nächste Frage.

Norbert Kleinwächter (AfD):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kanzlerin, am 5. Mai urteilte das Bundesverfassungsgericht, der oberste Wächter unseres Grundgesetzes, dass gewisse Beschlüsse der EZB zum Kauf von Staatsanleihen kompetenzwidrig seien. Damit wies es auch gewisse Urteile des EuGH als nicht nachvollziehbar und willkürlich zurück.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen reagierte prompt, sagte, dass sie Schritte gegen Deutschland prüft, bis hin zum Vertragsverletzungsverfahren. Ihren Äußerungen zufolge ist ja der Kern der europäischen Souveränität berührt, was auch immer das sei. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle nationalen Gerichte seien bindend, und das EU-Recht habe für sie auch Vorrang vor nationalem Recht, offenbar auch vor dem Grundgesetz mit seiner Ewigkeitsgarantie.

Meine Frage an Sie ist nun: Wie werden Sie als Bundeskanzlerin unser Bundesverfassungsgericht gegenüber offenbar übergriffigen EU-Institutionen vertreten? Was sagen Sie zu den Kritikern dieser Entscheidung, die dem Bundesverfassungsgericht eine Spaltung Europas vorwerfen? Spaltet das Bundesverfassungsgericht Europa? Spaltet unser Grundgesetz Europa?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Erst mal haben wir die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu respektieren, und das tue ich selbstverständlich auch.

Zweitens habe ich ein Interesse daran, dass die Möglichkeiten, die das Bundesverfassungsgericht eröffnet hat, auch genutzt werden, um den Konflikt kleiner zu machen und nicht größer zu machen.

Drittens gibt es in weiten Teilen - ich sage ausdrücklich: in weiten Teilen - einen eindeutigen Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht; das ist durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch deutlich gemacht worden. Aber immer da, wo die Frage ist: „Welche Kompetenz genau hat denn nun ein Mitgliedstaat der europäischen Ebene gegeben?“, kann es natürlich an den Rändern dieser Auslegung der Kompetenz auch zu Fragestellungen kommen. Die manifestieren sich jetzt in diesem Urteil.

Ich glaube, wir müssen jetzt mit einem klaren politischen Kompass an die Bearbeitung dieser Aufgaben gehen. Dieser Kompass heißt für mich: Ich möchte eine starke gemeinsame Währung, einen Euro. In diesem Sinne werden wir jetzt auch vorgehen.

Dass die Kommissionspräsidentin in ihrer Verantwortlichkeit auch Fragen stellt, das ist normal. Das Vertragsverletzungsverfahren beinhaltet ja nicht nur, dass man einfach ein Vertragsverletzungsverfahren macht, sondern der erste Schritt ist ein Letter of Intent: Es werden Fragen an die Bundesregierung gestellt, und diese Fragen wird die Bundesregierung nach bestem Wissen und Gewissen und in voller Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland in europäischer Gesinnung beantworten.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Mögen Sie eine Nachfrage stellen? - Herr Kollege.

Norbert Kleinwächter (AfD):

Sehr gerne. - Das wünsche ich Ihnen sehr. Nun ist es ja so, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch Versäumnisse der Bundesregierung festgestellt hat. Es geht konkret darum, dass die Verhältnismäßigkeit der entsprechenden Staatsanleihekäufe nicht ausreichend definiert war. Darin wurde im Endeffekt auch der Bundesregierung - und dem Bundestag, muss man dazusagen - vorgeworfen, hier nicht diese Verhältnismäßigkeitsprüfung eingefordert zu haben. Wo liegt da Ihre persönliche, auch politische Verantwortung als Bundeskanzlerin?

Zum Zweiten: Wie werden Sie nun konkret - Sie haben gerade von einem „politischen Kompass“ gesprochen - dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichtes umsetzen, auch im Hinblick auf die zukünftigen potenziellen Staatsanleihekäufe?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Meine Aufgabe in diesem Bereich liegt darin, das Urteil zu respektieren. Das Bundesverfassungsgericht hat über Bundestag und Bundesregierung genau das gesagt, was Sie gesagt haben. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

Wie gesagt: Wir werden in klarer europäischer Ausrichtung dann unseren Beitrag dazu leisten. Darüber, wie der genau aussieht, werden wir Sie zu gegebener Zeit sicherlich informieren. Aber wir werden unseren Beitrag dazu leisten, dass ein starker Euro weiterbestehen kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Christian Petry, SPD, stellt die nächste Frage.

Christian Petry (SPD):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, es geht auch mir um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Staatsanleihekaufprogramm PSPP. Danach liegt keine unzulässige Staatsfinanzierung vor; das ist ein positives Ergebnis dieses Urteils. Gleichwohl ist der Nachweis der Verhältnismäßigkeit kritisiert worden. Deshalb sehen wir das Urteil im Hinblick auf den europäischen Rechtsraum als problematisch an. Zum einen ist die Zuständigkeit des EuGH hier, sage ich mal, hinterfragt. Zum anderen sind Bundestag und Bundesregierung aufgefordert, auf die EZB hinzuwirken, diese Verhältnismäßigkeit darzulegen. Europarechtlich ist aber auch auf Wunsch Deutschlands, wie Sie wissen, nicht vorgesehen, durch eine Einflussnahme die Unabhängigkeit der Zentralbanken, auch der Bundesbank, der nationalen Banken zu sichern. Deshalb die Frage: Wie kommen wir aus dieser Quadratur heraus? Ich würde Sie gerne fragen: Wie bewerten Sie dieses Urteil in diesem Lichte? Was werden Sie tun? Das ist zum Teil eben von Ihnen beantwortet worden.

Eine weitere Frage: Würden Sie eine Vertiefung der Wirtschafts- und Finanzunion befürworten, das heißt auch eine institutionelle Weiterentwicklung, um nicht der EZB diese Aufgabenstellung dauerhaft zu übertragen, sondern gewisse Blockademöglichkeiten im Europäischen Rat zu überwinden?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wie gesagt, es geht ja nicht um meine Meinung zu diesem Urteil, sondern es geht darum, dass ich das Urteil zu respektieren habe. Das gebietet die Rolle des Bundesverfassungsgerichts und seiner Urteile. Und es geht jetzt darum, dass wir verantwortungsvoll handeln und so klug handeln, dass sozusagen der Euro weiterbestehen kann und soll und wird und dass auch die Bundesbank an den Aktivitäten der EZB teilnehmen kann; denn wir sind ja Mitglied der Europäischen Union und des Euro-Raums.

Das wird in der Tat uns eher anspornen müssen, im Bereich der Wirtschaftspolitik mehr zu tun, um die Integration voranzubringen. Wir werden uns sicherlich sehr spezifisch mit dieser Fragestellung im Zusammenhang mit dem sogenannten Recovery Fund beschäftigen; denn da geht es um europäische Solidarität. Je stärker die europäische Antwort in dem Zusammenhang ist, umso sicherer kann auch die EZB ihre Arbeit machen; da gibt es durchaus eine Interkonnektion. Alles, was wir in dem Bereich der politischen Entscheidungen machen, wird dann ja auch gebilligt durch den Deutschen Bundestag. Dem Bundesverfassungsgericht ist immer sehr wichtig, dass es eine bestimmte Entscheidung des deutschen Parlaments, der gewählten Abgeordneten ist. Genau auf diesem Weg müssen wir auch weiterhin gehen.

Wir dürfen nie vergessen, dass Jacques Delors vor Einführung des Euro gesagt hat: Es bedarf auch einer politischen Union; allein eine Währungsunion wird nicht reichen. - Wir sind da einige Schritte vorangekommen, aber wir sind nicht ausreichend vorangekommen. Das ist vollkommen evident. Das heißt also, es wird eher mehr Integration geben müssen als weniger, ohne dass ich heute hier schon spezifisch etwas sagen kann.

Ich habe in meiner Regierungserklärung am 23. April hier erklärt: Es kann nicht sein, dass wir sagen: Vertragsveränderungen sind tabu. - Vielmehr sind Vertragsveränderungen immer auch bewusste Akte der Nationalstaaten; aber sie dauern. Wir müssen jetzt in der Pandemie natürlich auch Möglichkeiten finden, sehr schnell zu handeln.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Mögen Sie eine Nachfrage stellen?

Christian Petry (SPD):

Ja, eine Nachfrage. - Herzlichen Dank für diese - aus meiner Sicht - wirklich gute Antwort. Sie bietet eine europäische Perspektive und zeigt auch, dass wir als Bundestag gefordert sind, öfter Stellung zu beziehen. Vielleicht führt das dann auch zu etwas.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Lob vom Koalitionspartner ist immer gut.

Christian Petry (SPD):

Der Bundesfinanzminister hat einen bemerkenswerten Beschluss auf europäischer Ebene herbeigeführt, den ich fast als historisch bezeichnen würde. Dass man eine Einigung über die Weiterentwicklung des 500-Milliarden-Euro-Pakets auch hinsichtlich der ESM-Kreditlinien erzielt hat, ist eine große Leistung, finde ich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, dass wir darauf aufbauend auch das Recovery-Fund-Programm betrachten können.

Meine Nachfrage bezieht sich auf die Perspektive des mehrjährigen Finanzrahmens. Können Sie sich vorstellen, über eine institutionelle Weiterentwicklung auch in der Frage der Eigenmittel, nämlich des Anleiheankaufs, eine Gestaltungsmöglichkeit zu finden?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wer soll Anleihen aufkaufen?

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Offenbar die EU.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ach so.

(Heiterkeit)

Christian Petry (SPD):

Irgendwie klappt das mit dem Mikrofon heute nicht so ganz; aber ich bin Ihnen, Herr Dr. Schäuble, dankbar für die Hilfestellung. Das meinte ich, genau.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein, ich glaube, Sie meinten, dass die EU eine Anleihe begibt.

Christian Petry (SPD):

Ja, Entschuldigung.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich möchte mich jetzt zu den Spezifika nicht äußern. Ich habe sehr viel Sympathie dafür, dass wir im Rahmen des Recovery Fund eine Lösung finden, die nicht abgespalten vom normalen Budget der Europäischen Union ist. Das heißt, wir brauchen einfach mehr Finanzmittel in den ersten Jahren, um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Wir sollten jedoch nicht sagen: „Das machen wir jetzt mal, aber wie es in den nächsten sieben Jahren ansonsten weitergeht, sagen wir nicht.“ Da besteht für mich ein enger Zusammenhang. Und was die Varianten betrifft, die wir da diskutieren, bin ich noch nicht so weit, dass ich jetzt öffentlich darüber spreche. Aber wir müssen handeln, und wir müssen der außergewöhnlichen Lage, in der wir sind, auch Rechnung tragen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Der Kollege Albrecht Glaser möchte dazu eine Frage stellen.

Albrecht Glaser (AfD):

Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Bundeskanzlerin, die EZB hat seit 2015 Staatsanleihen im Wert von rund 2,8 Billionen Euro von zum Teil hochverschuldeten Euro-Staaten aufgekauft.

(Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Die nationalen Banken! Nicht die EZB!)

Es ist völlig unvorhersehbar, wann und in welcher Höhe diese Anleihen in den Markt zurückgeführt werden. Und es ist ebenfalls unvorhersehbar, welche Ausfallrisiken auch mit Wirkung auf Deutschland mit diesem Anleihenerwerb verbunden sind. Diese Transaktionen sollen angeblich der Finanzstabilität dienen. Es könnte aber auch sein, dass es sich dabei um eine EU-rechtlich verbotene Staatsfinanzierung handelt.

(Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Falsch!)

Haben Sie daher Verständnis für die Sicht des Bundesverfassungsgerichts, dass die Verhältnismäßigkeit des Handelns der EZB infrage zu stellen ist?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, erstens hat das Bundesverfassungsgericht sich ja gerade mit der Frage der Staatsfinanzierung auseinandergesetzt und seine Meinung dazu in der Form geäußert, dass es gesagt hat: Dieser Sachverhalt ist nicht gegeben. - Das Zweite ist: Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass ich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts respektiere.

Ihre Frage gibt mir aber noch mal Gelegenheit zu einer anderen Betrachtung der Frage des Euro. Der Euro ist eine Währung, die auch global Gewicht haben soll und eher mehr Gewicht bekommen soll, als sie es heute hat, denn weniger Gewicht. Damit ist der Euro auch eine Währung, die natürlich in Relation zum Handeln anderer steht. Die Europäische Zentralbank ist also eine Zentralbank, die im Vergleich zu anderen Zentralbanken der Welt - zur Fed, zur Bank of England, zu der japanischen und chinesischen Bank - steht und die sich natürlich in diesem Konzert auch bewähren muss. Sie hat also ihre vertraglichen Grundlagen in der Situation, dass die Europäische Union auf der einen Seite ein Konstrukt sui generis ist, wie man sagen würde, also kein Staat ist, aber auf der anderen Seite eine gemeinsame Währung hat, die sich bewähren soll. Ich habe ein Interesse - das meinte ich mit „starker Euro“ - an einem Euro, der mitspielen kann, der eine anleihefähige Währung ist, in der man seine Anlagen auch sicher wähnt. Deshalb ist das schon auch ein Spannungsfeld, ein globaler Akteur zu sein und gleichzeitig im europäischen Konzert zu arbeiten.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Die nächste und voraussichtlich letzte Frage in dieser Regierungsbefragung stellt der Kollege Hartmut Ebbing, FDP.

Hartmut Ebbing (FDP):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Bundeskanzlerin, ich freue mich, dass Sie in Ihrem letzten Podcast „Corona und Kultur“ betont haben, dass kulturelle Veranstaltungen für unser Leben von allergrößter Wichtigkeit sind. Digitale Alternativformate sind schnell und mit großer Kreativität entwickelt worden, können aber nicht das Liveerlebnis ersetzen - das wissen wir beide -; da ist eine andere Emotion drin.

Sie haben vor Kurzem Bund und Länder aufgefordert, Konzepte zu entwickeln, wie Theater, Opernhäuser, Konzerthäuser und auch Kinos wieder aufmachen können. Meine Frage an Sie: Warum erfolgt das erst jetzt? Wann können wir mit Ergebnissen rechnen? Und werden die Ergebnisse mit den Ländern abgestimmt?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, die Aufforderung geht ja vor allen Dingen an die Länder, auch an die Staatsministerin für Kultur, aber zuständig sind die Länder. Ich habe jetzt im Augenblick nicht den Überblick, ob es Länder gibt, die heute schon in Aussicht gestellt haben, Konzerte ab einem bestimmten Zeitpunkt wieder zu erlauben. Aber ich glaube, angesichts der Anforderungen an Abstand und Ähnliches wird man den Konzertsaal sicherlich nicht so voll besetzen können mit Zuschauern, wie man das bis zuletzt gemacht hat. Wir haben zum Beispiel das Europakonzert der Philharmoniker hier in Berlin gehabt, und auch Daniel Barenboim hat musiziert. Das heißt, auch für die Musiker gilt es dann, dafür zu sorgen, dass etwa die Bläser weit entfernt von den Geigen stehen. Aber da kann man ja kreativ sein. Ich glaube, jedes Liveerlebnis ist wirklich wünschenswert. Ich denke, dass das jetzt auch sehr schnell in Gang kommen wird.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Kollege, Nachfrage?

Hartmut Ebbing (FDP):

Ja bitte, gerne. - Die Kinobetreiber benötigen nach meinen Informationen circa vier Wochen Vorlaufzeit, um ihre Kinos wieder aufmachen zu können, und einen einheitlichen Wiedereröffnungstermin; denn gerade nationale und internationale Filmdebuts brauchen sozusagen die bundesweite Aufmerksamkeit. Wird die Bundesregierung zusammen mit den Ländern einen gemeinsamen Termin vereinbaren, und wann ist mit einer Ankündigung zu rechnen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, an mir wird es nicht scheitern, dass da ein einheitlicher Termin gefunden wird.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. - Der Kollege Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen, möchte dazu noch eine Frage stellen.

Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Danke, Herr Präsident. - Frau Bundeskanzlerin, Ihre Videobotschaft vom Wochenende ist in der Kunst- und Kulturszene tatsächlich viel beachtet worden. Sie haben damit ein wichtiges Signal gegeben, nicht zuletzt, weil natürlich neben der gesellschaftlichen Relevanz auch die wirtschaftliche Relevanz von Kultur- und Kreativwirtschaft nicht zu vernachlässigen ist. Was haben Sie denn an konkreten Vorstellungen für Unterstützungsmaßnahmen, die Sie ja im Podcast auch angekündigt haben, Maßnahmen, die vielleicht speziell auf die Arbeitsrealität vieler Kreativer abgestimmt sind, die freiberuflich unterwegs sind?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, wir haben ja schon einige Belange von Künstlerinnen und Künstlern mitgedacht bei den Programmen, die wir jetzt aufgelegt haben: Solo-Selbstständige, Grundsicherung. Auch die Staatsministerin für Kultur hat spezielle Programme aufgelegt. Aber wir haben vor, noch einmal einen Schritt zur Belebung der Wirtschaft insgesamt zu gehen. In dem Zusammenhang wird natürlich auch die Kultur eine wichtige Rolle spielen; denn - Sie sagten es schon - die Kreativwirtschaft ist von großer Bedeutung. Daran wird gearbeitet, und zum gegebenen Zeitpunkt können wir Ihnen das dann auch vorstellen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Damit sind wir am Schluss der Regierungsbefragung. Ich danke der Frau Bundeskanzlerin.