Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des spanischen Europapreises Carlos V. am 14. Oktober 2021 in Yuste

Majestät,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Pedro,
sehr geehrter Herr Präsident der Regionalregierung Extremadura,
Exzellenzen,
Preisträger,
sehr geehrte Mitglieder der Europäischen und Iberoamerikanischen Akademie der Yuste-Stiftung,
sehr geehrte Festgäste,

die Verleihung des Europapreises Carlos V ist mir eine außerordentliche Ehre. Ich möchte mich von Herzen für diese Auszeichnung bedanken. Sie ist etwas ganz Besonderes. Das gilt natürlich auch für diesen Ort. Das Königliche Kloster von Yuste erinnert an den Namensgeber des Europapreises. Karl V. verweilte hier in seinen letzten Lebensjahren. Er konnte auf eine lange Regentschaft über weite Teile Europas zurückblicken. Ich darf vielleicht auch ganz persönlich als Tochter eines evangelischen Pfarrers – Karl V. hatte viel mit der Reformation zu tun – sagen: Es bewegt mich ganz besonders, dass ich hier bin, wo er in seinen letzten Lebensjahren damit haderte, dass sich die Reformation ausgebreitet hatte. Es sollten dann ja auch noch Jahrhunderte schrecklicher Kriege folgen, bis schließlich nach dem von Deutschland im Nationalsozialismus begangenen Menschheitsverbrechen der Shoa und dem entfesselten Zweiten Weltkrieg tatsächlich und endlich ein Europa des Friedens geschaffen werden konnte.

Europa als Friedensgemeinschaft – dieses Ziel nahm mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 erstmals konkret Gestalt an. Einer auf nationale Eigeninteressen beschränkten Politik folgte ein Ordnungskonzept von Integration und Kooperation. Gemeinsame Interessen gemeinsam wahrzunehmen und Interessengegensätze geordnet zu lösen – darum ging es den Vordenkern der europäischen Einigung; und damit schrieben sie das Anfangskapitel einer einzigartigen Erfolgsgeschichte.

Aber nehmen wir diese Geschichte – auch angesichts aktueller Differenzen – heute noch als den Erfolg wahr, der er ist? Anders gesagt, die Akzeptanz Europas scheint gewissermaßen an seinem Erfolg zu leiden, denn das Versprechen auf Frieden sehen wohl die meisten als erfüllt an. Doch wir dürfen nie vergessen: 64 Jahre Römischer Verträge sind letztlich nicht mehr als ein Wimpernschlag in der Geschichte. Frieden und Freiheit sind alles andere als selbstverständlich. Frieden und Freiheit müssen geschützt und verteidigt werden. Auch in Europa haben wir keinen Rechtsanspruch auf dauerhaften Frieden und Freiheit, sondern müssen uns stets bewusst sein, dass es die Idee der europäischen Einigung ist, die uns Frieden und Freiheit und damit ein Leben in Wohlstand und Sicherheit schenkt.

Zugleich dürfen wir uns nichts vormachen, denn auch heute werden wir immer wieder mit Anfechtungen und Angriffen auf unsere Demokratie und unsere liberale Ordnung konfrontiert – durch Extremismus und Terrorismus, durch Rassismus, Antisemitismus und jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dem müssen wir in aller Entschlossenheit entgegentreten.

Den Friedensnobelpreis, den die Europäische Union 2012 erhalten hat, habe ich daher vor allem als eine dauerhafte Verpflichtung angesehen, sowohl den Frieden im Inneren Europas und unsere liberale Ordnung zu schützen als auch nach außen, in unserer Nachbarschaft und in der Welt, für Frieden und Menschenrechte einzutreten.

Damit diesen Worten auch wirklich Taten folgen können, müssen wir beachten, dass Europa nur so stark sein kann, wie es einig ist, und es nur so einig sein kann, wie es sich über gemeinsame Werte verbunden sieht. Einig nach innen, stark nach außen – das ist unser Leitbild für das Miteinander in der Europäischen Union. Voraussetzung dafür ist ein enger Zusammenhalt, sind Vertrauen und Respekt.

Die letzten Jahrzehnte machen Mut, denn immer wenn es darauf ankam, hielt die Europäische Union zusammen. Das wird sie – davon bin ich überzeugt – auch weiterhin tun, wenn wir über die Politik hinaus in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft so viele, so enge, so freundschaftliche Beziehungen pflegen wie unsere beiden Länder Spanien und Deutschland. Auch in der Europapolitik arbeiten wir ja eng zusammen, denn uns verbindet ein wichtiges Ziel: das Ziel, den Zusammenhalt Europas zu sichern und zu stärken. Dafür möchte ich mich bei meinem Kollegen ganz besonders bedanken. Es ist diese Verbundenheit unserer beiden Länder wie aller Länder in der Europäischen Union, die Europa bei allen Unterschieden der Länder und Regionen auch in Zukunft braucht. Sie ist Grundlage der Fähigkeit und der Bereitschaft zum Kompromiss und damit im Ergebnis der Handlungsfähigkeit Europas.

Kompromisse zu finden – das sagt sich leicht. In der Praxis ist das oft zäh und langwierig. – Unsere Sitzungen, lieber Pedro, dauern oft weit über Mitternacht hinaus. – Das ist es ja schon innerhalb unserer eigenen Länder; und Sie können sich vorstellen, wie schwierig das in einer Union mit 27 Mitgliedstaaten ist. Deshalb müssen wir stets bereit sein, verschiedenste Argumente aufzunehmen und abzuwägen – wohl wissend, dass die Vielfalt an Wissen und Erfahrung ein Reichtum, eine wertvolle Ressource ist, die es zum Wohle aller zu nutzen gilt.

Denken wir etwa an die Coronavirus-Pandemie – an die Bereitschaft, Patienten aus anderen Ländern aufzunehmen oder gegenseitig mit Schutzausrüstung, Medikamenten und Impfstoffen auszuhelfen. Zu Beginn der Pandemie haben wir aber gesehen – und das sage ich hier auch selbstkritisch –, wie schnell wir auch wieder in einzelstaatliche Denkmuster zurückfallen können. Wir haben uns zu sehr auf die Pandemiebekämpfung in den eigenen Ländern konzentriert. Wir haben Sicherheit in der Abschottung gesucht. Familien waren auf einmal getrennt. Pendler kamen nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz. Güterlieferungen fielen aus. Für unser Europa ohne Grenzen war das eine schwierige Belastungsprobe.

Doch wir haben gelernt, mit der neuen Herausforderung umzugehen. Wir haben neue Koordinierungsmechanismen eingerichtet und europäische Freiheiten wiederhergestellt, soweit es die pandemische Lage erlaubte. So haben wir gemeinsam viel erreicht. In Europa konnten wir in Rekordzeit wirksame Impfstoffe entwickeln. Auch die gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen hatte wesentlichen Anteil an den Impffortschritten in den EU-Mitgliedstaaten.

In der Folge eines zunehmenden Infektionsschutzes geht es auch wirtschaftlich wieder bergauf. Davon zeugt auch der in seiner Dimension einzigartige europäische Aufbauplan „Next Generation EU“. Er dient insbesondere dazu, wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Erholung auch an unseren Klimazielen auszurichten und digitale Innovationen voranzutreiben. Herr Präsident, Sie haben es ja eben auch für Ihre Region gesagt: Wir dürfen aus der Pandemie nicht so herauskommen, wie wir in sie hineingegangen sind, sondern wir müssen uns modernisieren.

Ökonomie und Ökologie zusammenzudenken – genau darauf zielt auch der „Green Deal“ der Europäischen Kommission ab, der Klimaneutralität für Europa vorsieht, das nicht trotzdem, sondern gerade deshalb innovations- und wettbewerbsstark bleibt. Ich sage voraus: Es wird noch ein sehr hartes Stück Arbeit, diesen „Green Deal“ zu verabschieden. Ich werde dann nicht mehr dabei sein, aber genau beobachten, wie weit die Kompromissfähigkeit reicht.

Unser europäisches Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ist ein ehrgeiziges Ziel, weil es einen grundlegenden Wandel unserer Art zu leben, zu wirtschaften, zu arbeiten, zu konsumieren, zu bauen und mobil zu sein verlangt. Dieser Wandel ist natürlich mit Anstrengungen verbunden. – Als ich heute früh vom Hotel in Madrid zum Flughafen fuhr, vorbei an all den Autos, die ja zum allergrößten Teil noch benzinbetrieben sind, habe ich mir gedacht: Wenn ich hier in 30 Jahren oder auch noch viel früher vorbeifahren würde, dann müssten eigentlich all diese Autos mit neuen Antriebstechnologien versehen sein. – So gilt das für alle Bereiche des Wirtschaftens.

Wir sollten aber die Chancen dieses Transformationsprozesses sehen; und ich glaube, sie überwiegen die Risiken bei weitem – nicht nur, weil sich mit ihm neue Marktchancen, neue Technologien, neue Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben, sondern auch mit Blick auf Kosten, wobei viel zu oft über die Kosten des Klimaschutzes gesprochen wird und viel zu wenig über die Kosten unterlassenen Klimaschutzes. Zum Beispiel hatten wir in Deutschland in diesem Sommer eine Flut. Wir haben in kurzer Zeit 30 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Flutschäden eingesetzt, um den Menschen zu helfen. Vor zwei Jahren haben wir den Ausstieg aus der Braunkohle beschlossen; das wird bis 2038 insgesamt 40 Milliarden Euro kosten. Wir haben damals gesagt: Das ist eine riesige Summe; wie sollen wir diese bis 2038 aufbringen? Bei der Flutkatastrophe aber sagte man innerhalb von wenigen Tagen zu: Wir geben 30 Milliarden Euro zu ihrer Bewältigung aus. Das zeigt, dass die Kosten, die dadurch entstehen, dass man nichts tut, eben auch sehr, sehr hoch sind.

In einem Wort: Große Herausforderungen können nur von uns allen gemeinsam bewältigt werden, Chancen nur gemeinsam erkannt und genutzt werden, so wie das zum Beispiel bei den wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse der Fall ist und wie das auch für die Chancen der Digitalisierung gilt.

Von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung ist die Frage der digitalen Souveränität Europas – gerade auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz, die unser Leben und Arbeiten grundlegend verändert. Digital souveräner zu werden, bedeutet keineswegs, die Zusammenarbeit mit unseren Partnern einzuschränken; ganz im Gegenteil, denn indem wir digitale Kompetenzen ausbauen, können wir für viele auf der Welt ein noch interessanterer Wirtschaftspartner werden. Das gilt auch mit Blick auf andere Schlüsseltechnologien wie etwa Wasserstoff- oder Quantentechnologien.

Investitionen sind natürlich notwendig, um Innovationen durchzusetzen. Das ist keine neue Erkenntnis. Die Europäische Union hatte sich schon Anfang des Jahrhunderts das Ziel gesetzt, die jährlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung in jedem Mitgliedstaat auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Wir müssen einräumen, dass wir diesem Ziel zwar nähergekommen sind, es aber leider immer noch nicht erreicht haben. Das muss sich ändern.

Im internationalen Innovationswettbewerb vorne mit dabei zu sein, ist das eine. Verantwortungsvoll mit neuen technologischen Möglichkeiten umzugehen, ist das andere. Das heißt, wir müssen genau überlegen, wie wir diese Möglichkeiten nutzen wollen und wo wir, zum Beispiel aus ethischen Gründen, Grenzen ziehen müssen. Denn in der analogen wie in der digitalen Welt hat stets der Mensch mit seiner unantastbaren Würde im Mittelpunkt zu stehen.

Ein Europa, das innovativer werden will, das sowohl mit Blick auf seine Werte als auch auf seine technologischen Kompetenzen souveräner bzw. selbstbestimmter werden will, muss auch handlungsfähiger werden, als es das jetzt ist. Das bedeutet vorneweg, mit den knappen Ressourcen Zeit und Geld sorgfältig umzugehen. So müssen wir nicht nur, aber gerade auch in Krisen in der Europäischen Union in der Lage sein, schneller gemeinsame Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Wir müssen auch die nötigen finanziellen Freiräume für entschiedenes und auch solidarisches Handeln haben. Deshalb müssen wir auch weiterhin für solide Staatsfinanzen sorgen – also in guten Zeiten vorsorgen, um Handlungsspielräume zu schaffen, mit denen wir auch künftige Krisen bewältigen können.

Ein souveränes, innovatives und handlungsfähiges Europa – das brauchen wir, damit wir unsere Werte und Interessen in der Welt behaupten können. Denn unser Wertefundament ist die Basis unserer Glaubwürdigkeit, um gegenüber anderen Staaten auch wirklich Wirkungsmacht entfalten zu können. Unsere Werte sind Anziehungspunkt und Teil unserer Strahlkraft in der Welt. Die Europäische Union steht dafür, dass Zusammenarbeit, Respekt und Toleranz zu Frieden, Freiheit und Wohlstand führen.

In einer Zeit, in der der Multilateralismus unter Druck gerät und alte Konflikte aufzubrechen drohen, ist diese Botschaft wichtiger denn je. Dabei müssen wir auch berücksichtigen, dass sich Europas Anteil an der Weltbevölkerung und an der Wirtschaftskraft verringert und sich auch unsere Rolle in der Welt wandelt. Wie wir zum Beispiel mit dem Aufstieg Chinas als wirtschaftlicher, politischer und militärischer Macht umgehen und wie wir mit der gestiegenen Verantwortung für unsere eigene Sicherheit in Europa und für die Stabilität in unseren Nachbarregionen umgehen, hängt ganz entscheidend davon ab, ob Europa auch wirklich mit einer Stimme spricht – oder eben nicht.

Was geschieht, wenn Europa nicht oder nur unzureichend mit einer Stimme spricht, das sehen wir nicht zuletzt in der Migrationsfrage. Sie erfordert eine gemeinsame, eine europäische Antwort – und zwar sowohl im Interesse von Zuflucht suchenden Menschen als auch im Interesse Europas. Deshalb dürfen wir nicht ruhen, bis uns hierbei ein Durchbruch gelingt. Ich weiß, dass Spanien genauso daran arbeitet, aber dass wir noch nicht am Ziel sind. Europa ist nur so stark, wie es einig ist. Das gilt in der Migrationsfrage und das gilt auch bei weiteren Themen – beim Klimaschutz, in der Außen- und Sicherheitspolitik. Es gilt bei allem Bemühen, die Globalisierung im Sinne unserer Werte und Interessen zu gestalten.

Doch machen wir uns nichts vor: Bereits seit einiger Zeit wirken Fliehkräfte in der Europäischen Union. Sie entstehen, wenn der Kitt der gemeinsamen Werte brüchig wird, wenn sich Erwartungen an die Europäische Union und ihre Institutionen nicht erfüllen, wenn gesellschaftliche Entwicklungen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten erfolgen und wenn wirtschaftliche und soziale Unterschiede zu groß werden. Wenn dann kurz- oder mittelfristige nationale Interessen über den Nutzen des gemeinsamen europäischen Projekts und der rechtlichen Grundlage gestellt werden, dann kommen wir in eine Schieflage.

Gegen diese Fliehkräfte gibt es nur ein wirksames Mittel – das Mittel, dafür zu sorgen, miteinander in einem aufrichtigen Dialog zu bleiben und unsere gemeinsamen Werte zu betonen. Denn es sind unsere Werte, die uns verbinden und die uns auch von manch anderen Mächten auf der Welt unterscheiden. Es sind die Achtung der Menschenwürde, der Freiheit und der Demokratie, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte, die in unserem europäischen Vertragswerk fest verankert sind. Ihre Förderung ist, so habe ich es gelernt, auch das Ziel der Stiftung Europäische Akademie von Yuste. Das ist großartig und gelebte europäische Einigung.

Majestät, meine Damen und Herren, Entscheidungen über das Wesen und die Zukunft der Europäischen Union können wir nicht abstrakt treffen. Die Europäische Union entwickelt sich im Konkreten. Und so schmerzlich sie sind, so sehr wirken viele Krisen immer auch – jedenfalls zum Teil – als Katalysator, denn sie treiben uns an, unsere Handlungsfähigkeit zu erhöhen, und sind bei allen Härten auch Anlass zur Gestaltung und Verbesserung. Der Prozess der europäischen Einigung ist eine stete Fortentwicklung. Nicht immer geschieht diese in großen Sprüngen und auch nicht immer in einem gleichmäßig fortlaufenden Kontinuum. Europäisch zu handeln, bedeutet nur zu oft, einen langen Atem zu haben und zu vermitteln. Das ist und bleibt wichtig.

Für die Zukunft müssen wir jedoch auch vorausschauender werden, unsere Koordination verbessern und Europa noch eigenständiger machen. Dabei geht es nicht um Abschottung, sondern um die Definition unserer Interessen, um strategisches Handeln auf der Basis unserer Werte und für unsere gemeinsamen Ziele – kurz: um mehr europäische Souveränität.

Auch deshalb blicke ich mit Spannung wie auch voller Erwartung auf die Arbeiten der künftigen Stipendiatinnen und Stipendiaten zu dem Thema, das für uns alle von überragender Bedeutung ist: „Zu unserem Glück vereint: Zusammenhalt in Europa sichern und stärken.“ – So lautet es.

Ich bin zutiefst davon überzeugt: Europa ist ein Glücksfall für uns alle – ein Glücksfall, den wir bewahren und gestalten dürfen, aber eben auch müssen. Dieser Verpflichtung sollten wir uns täglich bewusst sein.

Herzlichen Dank.