Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Templin am 8. Februar 2019

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Sehr geehrter Herr Bürgermeister Tabbert,
lieber Herr Ziemkendorf,
lieber Landrat a. D. Bodo Ihrke,
sehr geehrte Frau Landrätin,
sehr geehrte Abgeordnete und Bürgermeister,
liebe Gäste – natürlich ganz besonders die Familienmitglieder, unter anderem meine Mutter, auch meine Geschwister; die ehemaligen Schulkameraden, Lehrer, Freunde, Weggefährten –,

zuallererst möchte ich Herrn Gerhardt und Herrn Sachse zu der Ehrung beglückwünschen, die Sie heute bekommen haben.

Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie mir die Ehrenbürgerwürde heute übertragen haben. Ich weiß diese Ehrung sehr zu schätzen. Ich sage es ganz offen: Es ist auch etwas ganz Besonderes; und da bin ich auch auf eine ganz bestimmte Weise ein wenig aufgeregt. Das Ganze bedeutet mir natürlich viel, denn Templin ist die Stadt meiner Kindheit und Jugend. Inzwischen ist Templin Kurstadt geworden. Und wir alle, die wir damals Kinder und Jugendliche waren, sind jetzt etwas älter.

Naturgemäß verbinden mich viele prägende Erfahrungen, Begegnungen und Gespräche mit Templin. Vieles, was ich heute sein kann, ist hier in Templin entstanden. Das hat viel mit dieser Stadt und ihren Menschen zu tun und natürlich auch mit der wunderbaren Landschaft, mit den Seen und Wäldern. Das alles weckt nicht nur Erinnerungen, sondern zieht mich auch immer wieder hierher – nicht nur, weil ich meine Mutter sehr gerne besuche, sondern auch, weil ich am Wochenende sehr häufig in der Nähe in Hohenwalde bin. Dieses Hohenwalde ist ja auch ein Ort, an den wir als Familie, als wir noch Kinder waren, immer wieder hingefahren sind.

Templin ist die Stadt der tausend Linden. Und ich werde, lieber Herr Tabbert, natürlich sehr gerne dabei sein, wenn nächstes Jahr Linden gepflanzt werden. Die Torte erfreut mich natürlich auch. Bäcker Kolberg samt der gesamten Familie ist sozusagen Inventar dieser Stadt; das ist klar. Wir haben schon als Kinder davon gezehrt. Also ganz herzlichen Dank.

Ich habe mir sagen lassen, in anderen Städten bekämen die Ehrenbürger keine Linden oder Torten, sondern Freifahrtscheine. Templin ist da aber der Zeit voraus: Fahrscheinfrei fahren dürfen hier alle. Insofern sind alle Ehrenbürger dieser Stadt. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin auch ein wenig traurig darüber, dass so wenige Städte diesem Beispiel gefolgt sind. Denn wenn sich das eine Stadt in der Uckermark leisten kann, dann sollte es in Deutschland vielleicht noch die eine oder andere Stadt geben, die das ebenfalls schafft. Aber vielleicht macht diese Tradition ja doch irgendwann noch Schule; manche sind eben Spätzünder.

Meine Damen und Herren, ich kann die Dinge, wenn ich heute hier stehe, in einem Satz zusammenfassen: So sehr Mecklenburg-Vorpommern und mein Wahlkreis in Vorpommern inzwischen meine politische Heimat geworden sind, so sehr wird nie ein Zweifel daran bestehen, dass Templin und die Uckermark meine persönliche Heimat sind und auch immer bleiben werden. Wir haben als Familie auf dem Waldhof gelebt. Ich bin in Templin zur Schule gegangen und in der Maria-Magdalenen-Kirche konfirmiert worden. Zum Studium bin ich dann – ich muss zugeben: gerne – fortgezogen nach Leipzig, später dann auch beruflich nach Berlin. Doch immer blieb ein Teil von mir hier, in dieser Stadt und dieser Region.

Wenn ich über meine Jugend in Templin spreche, dann spreche ich natürlich über eine Jugend in der DDR. Es war eine Jugend in einem ganz anderen politischen System, das die heutige Jugend – die hier heute auch im Mittelpunkt steht; darüber freue ich mich ganz besonders – nur noch aus Erzählungen und aus Schulbüchern kennt. Früher haben wir gesagt: Großmutter erzählt vom Krieg. Heute erzählen wir von der DDR. Erkennen, dass man älter wird, muss man auch erst einmal schaffen. Ich glaube, unter dem Strich ist es wirklich gut, dass dieses System Geschichte ist.

Es wird aber so oft vergessen, dass das eine das politische System war, aber das andere das reale persönliche Leben. Natürlich war das Leben auch durch das politische System geprägt, aber wir haben auch ein privates Leben gehabt, ein Leben mit Familie und Freunden, haben schöne Stunden verlebt, Enttäuschungen durchlebt. Das Leben war eben viel mehr; und es war eine sehr, sehr schöne Kindheit.

Viele, die heute hier im Raum sind, erinnern mich daran. Ich möchte mich ganz besonders bei dir bedanken, lieber Bodo Ihrke. Ich habe schon gedacht, vor lauter „Bundeskanzlerin“ müsste ich jetzt dauernd „Herr Landrat a. D.“ sagen. Aber irgendwann hast du die Kurve ja noch gekriegt und auch noch einmal „liebe Angela“ über die Lippen gebracht. Das hat mir gutgetan. Ich freue mich natürlich, dass nicht nur du heute hier bist, sondern dass auch meine Freundinnen Cornelia, Brigitte und Ute hier sind und dass somit auch ein kleiner Teil der damaligen Klasse und des damaligen Lebens repräsentiert ist – neben denen, die aus meiner Familie da sind, zum Beispiel meinen Geschwistern. Wir sind hier geprägt worden. Und für mich ist es natürlich besonders erfreulich, dass mit Herrn Gerhardt heute sogar ein Lehrer geehrt wurde – bei dem ich aber in Biologie wahrscheinlich nicht ganz so gut war, wie ich hätte sein sollen.

(Zuruf: Note „Eins.“)

– Eins, okay; aber ehrlich gesagt: Wenn ich durch die Uckermärkischen Wiesen streife, dann ärgere ich mich regelmäßig, dass ich so gut wie keine Blume richtig bestimmen kann; und auch bei den Tieren hapert es ganz schön. Wenn ich Vögel fliegen sehe, muss ich immer im Buch nachgucken, wie die Schwänze aussehen usw. Ich hätte also ein bisschen besser aufpassen können.

Ich freue mich natürlich, dass mein Mathematiklehrer, Herr Beeskow, heute hier ist, und dass auch meine Russischlehrerin hier ist, die uns ja durch ihre Motivation zu ungeahnten Erfolgen gebracht hat. Ich habe sie schon gefragt: Ещё говорит по русски она (Übers.: Sprechen Sie noch Russisch)? Aber sie spricht wahrscheinlich eben nicht nur Russisch, wie mir meine Mutter gesagt hat, sondern inzwischen auch ganz toll Polnisch und Französisch, was ich nach wie vor nicht kann.

So sind wir heute hier vereint. Ich bin ganz besonders gerne hier und auch während der Ehrung der anderen hier dabei, weil wir noch einmal Revue passieren lassen können, was sich 1990 verändert hat und wie das, was wir heute kommunale Selbstverwaltung nennen, in die Realität umgesetzt wird. Ich weiß, dass das nicht ganz einfach ist. Wir reden im Augenblick viel über gleichwertige Lebensbedingungen. Gerade auch in den ländlichen Regionen hier in den neuen Bundesländern muss vieles sehr, sehr hart erarbeitet werden. Umso mehr, lieber Herr Tabbert, finde ich es toll, dass Sie mit den Stadtverordneten zusammen Ihren Mann und Ihre Frau stehen und das Leben hier vor Ort gestalten.

Kommunale Selbstverwaltung ist ja im Grunde das, was Heimat bedeutet; da kann man etwas für die Menschen tun. Ich sage immer, dass ich als Bundespolitikerin eine große Hochachtung vor denen habe, die vor Ort arbeiten oder die als Landräte arbeiten. Ich bin, wenn es hoch kommt, alle fünf Jahre einmal irgendwo, bin dann wieder weg und kann das Blaue vom Himmel versprechen; mich zieht so schnell keiner zur Rechenschaft. Diejenigen, die vor Ort in der Stadtverordnetenversammlung die Entscheidungen treffen, müssen sich schon am nächsten Tag alles anhören. Herr Ziemkendorf, ich kann mir vorstellen, dass es nach der Zweidrittelmehrheit in der Stadtverordnetensammlung für Merkel nicht nur schön war, hier durch die Straßen zu gehen; denn viele haben wahrscheinlich auch geschimpft. Es ist Demokratie, dass man dann seine Entscheidung begründen muss, dass man aber auch sieht, wenn etwas entsteht, und sich freuen kann, dass es gelungen ist. Beides sollten wir immer auch sehr ernst nehmen.

Nun freut es mich besonders, dass ich heute bei einem Neujahrsempfang dabei bin, bei dem „Bildung und Jugend“ Themen sind. Gerade auch die Frage, wie eigentlich die Zukunft aussehen wird, ist ja eine der ganz bewegenden. Deshalb ist es sehr schön, dass heute die Jugend im Mittelpunkt steht – obwohl Ferien sind; das ist besonders beachtlich. Deshalb auch ein Dankeschön an die Band und an den Solisten. Es ist schon beeindruckend, was hier im Multikulturellen Centrum entsteht.

Natürlich ist es auch schön, dass die Stiftung Gebäudeensemble Joachimsthalsches Gymnasium heute geehrt wird. Das ist eine Geschichte, bei der ich – das sage ich ganz offen – meiner Mutter gegenüber und vielen anderen gegenüber fast immer ein bisschen ein schlechtes Gewissen habe, dass dieses Projekt noch nicht endgültig gelungen ist. Deshalb hat es mich ungemein gefreut, Frau Reemtsma, dass 2016 ein signifikanter, bedeutender Fortschritt entstehen konnte, da dieses Ensemble des Joachimsthalschen Gymnasiums ja wirklich etwas sehr Besonderes ist. Das zu erhalten, ist alle Mühe wert. Ich will hier keine falschen Versprechungen machen, aber ich denke, dass Sie das Thema Europa gewählt haben, passt nicht nur zu der Tatsache, dass dieses Jahr Europawahl ist, sondern das passt auch zu unserer Zeit. Die EU-Osterweiterung, wie wir das nennen, jährt sich jetzt schon zum 15. Mal. Und gerade auch hier in der Region, die ja im weiteren Sinne eine Region ist, die an Polen grenzt, ist das etwas, das auch einen symbolischen Wert hat.

Bodo Ihrke hat es eben gesagt: Europäisch zu denken und zu handeln und gleichzeitig vor Ort etwas auf die Beine zu stellen, ist manchmal nicht einfach, aber es ist absolut notwendig. Wir sehen ja, wie schnell aus Misstönen auch Verachtung und Hass werden können. Wir wissen aus der Geschichte, wie schnell aus Hass dann auch kriegerische Auseinandersetzungen werden können. Das sollte uns wirklich eine Lehre sein. Deshalb lohnt es, sich für Projekte der Verbindung, für Projekte der Gemeinsamkeit, für Projekte der Begegnung einzusetzen – und ein europäischer Schulabschluss gehört dazu. Deshalb viel Erfolg bei Ihren Bemühungen. Wie gesagt, ich will nichts Falsches versprechen, aber meine Mutter sorgt schon dafür, dass ich nicht vergesse, dass hier auch noch etwas zu tun ist.

Bodo Ihrke hat soeben in sehr schöner Weise darauf hingewiesen, wie sehr die verschiedenen Ebenen der Politik voneinander abhängen und einander bedingen. Oft wird darüber sehr kritisch gesprochen, gerade auf der Bundesebene. Ich habe zu Herrn Tabbert schon gesagt: In Teilen des Bundestages herrscht die Meinung, dass wir bald auf der Bundesebene nicht mehr ausreichend Geld haben, um unsere Aufgaben auszufüllen. Wir haben in den letzten Jahren aber mit sehr viel Überzeugung auch den Kommunen Unterstützung gegeben – nicht, weil das irgendetwas Karitatives wäre, sondern weil wir überzeugt sind: Wenn das Leben vor Ort nicht funktioniert, wenn dort gar nichts mehr läuft, wenn es nur noch Mangelverwaltung gibt – und das ist ja oft genug der Fall –, dann kann dort auch kein Leben mehr richtig gedeihen.

Ich habe sehr wohl gehört, was Sie mir bezüglich der Funklöcher mit auf den Weg gegeben haben. Die Kinder sollen in Zukunft in der Tat keine Ausreden mehr haben. Deshalb wird der Breitbandausbau jetzt auch forciert. Die Landrätin weiß aus ihrer Vergangenheit in Mecklenburg-Vorpommern eigentlich, dass man Anträge auch sehr gut stellen kann. Ich hoffe, dass der Kreis hier auch bald vorne mit dabei ist. Im Augenblick ist das Problem eher, dass es schwierig ist, Tiefbaukapazitäten zu bekommen, und dass die Preissteigerungen so hoch sind. Wenn junge Leute also noch eine Berufsausbildung suchen, dann kann man ihnen sagen, dass der Baubereich im Augenblick sehr wichtig und sehr gut ist.

Wir versuchen jetzt auch, die Grundgesetzänderung so hinzubekommen, damit wir den Digitalpakt Schule umsetzen können. Ich glaube, das ist etwas, worauf Sie auch warten. Und ich hoffe, dass der viel gelobte Vermittlungsausschuss in der Lage sein wird, hier eine Lösung zu finden. Ab und zu wäre es gut, wenn man einmal wieder vom Sachverhalt und von der Frage „Was wollen die Menschen?“ her denkt. Dann findet man vielleicht auch leichter Lösungen für unser Grundgesetz, das in diesem Jahr immerhin schon 70 Jahre alt wird. Was man auch manchmal vergisst: Wir leben jetzt schon länger ohne Mauer, als sie uns getrennt hat. Insofern zeigt sich, dass die 30 Jahre, die seit dem Mauerfall vergangen sind, eine lange Zeit sind.

Ich freue mich, dass Templin nach wie vor Tourismusstandort ist und als solcher auch glänzt. Ich weiß nicht, ob man heute noch sagen darf, dass Templin die Perle der Uckermark ist; für mich ist es das natürlich. Falls ein Prenzlauer hier ist, möchte ich mit ihm jetzt aber nicht in eine Auseinandersetzung eintreten. Ich finde auch, Templin ist nach der deutschen Wiedervereinigung nicht überbewertet worden. Auf Englisch würde man sagen: Wir sind ein „hidden champion“. Dass es hier jährlich inzwischen 380.000 Gästeübernachtungen gibt, spricht für die Stadt. Was den Tourismus anbelangt, so wollen wir die breite Schönheit Deutschlands auch immer wieder deutlich machen. Deshalb werde ich natürlich versuchen, die Einladung für „750 Jahre Templin“ sehr gerne anzunehmen; denn das ist ein tolles Jubiläum.

Meine Damen und Herren, ob man nun in der Bundesregierung oder Landesregierung, ob man als Landrat, Stadtrat oder Bürgermeister arbeitet – unsere Politik dient eigentlich immer dem gleichen Ziel: Das Leben von Menschen zu erleichtern, zu verbessern und unseren Nachfahren eine Welt zu hinterlassen, in der es sich mindestens genauso gut, wenn nicht besser, leben lässt. Das ist alles andere als einfach. Wir erleben jetzt, dass es auch nach einer sehr langen Friedensperiode nicht einfacher wird, dafür zu werben, wieder mitzumachen und Selbstverständliches nicht für selbstverständlich zu nehmen. Deshalb danke ich allen, die heute hier zu diesem Neujahrsempfang versammelt sind, da es wichtig ist, immer wieder andere zu motivieren, aufzustehen, sich einzubringen, mitzumachen – auch gegen Widerstände und gegen Häme. Es ist sehr leicht – so wie Bodo Ihrke das gesagt hat –, auf der Couch zu sitzen und über Misslungenes und Gelungenes zu richten. Es ist viel schwerer, mit anzupacken. Ich glaube aber, diejenigen, die es dann getan haben, merken zum Schluss auch, dass es nicht nur andere bereichert, sondern dass es auch sie selbst bereichert. Davon weiterzuerzählen – das ist jedenfalls mein Erleben –, kann auch zu etwas führen.

Meine Damen und Herren, wieder einmal in der Stadt der Kindheit zu sein, ist sehr bewegend. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir diese Chance gegeben haben – trotz aller politischen Kontroversen. Das zählt viel. Das zeigt im Übrigen, dass in der Kommunalpolitik oft leichter parteiübergreifend gearbeitet wird als in der Bundespolitik. Aber nachdem ich jetzt viele Jahre lang auch Bundeskanzlerin einer Großen Koalition bin, darf ich Ihnen verraten, dass auch wir uns immer wieder zusammenraufen müssen. Als Bundeskanzlerin Deutschland in der Europäischen Union zu vertreten, bedeutet auch, viele Nächte damit zu verbringen, andere Sichtweisen zu verstehen. Sich immer wieder in die Lage des anderen hineinzuversetzen und über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, ist aber genau das, was Politik auch braucht.

Theodor Fontane hat Templin in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ nicht besonders gut bedacht. Ich möchte ihn aber trotzdem zitieren, weil er zeitlos gesagt hat: „Das Beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein“. Deshalb sage ich als Ehrenbürgerin Templins danke meiner Heimatstadt, danke, dass Sie mich ausgesucht haben, und auch danke all denen, die an meinem Leben mitgewirkt haben – durch persönliche Eindrücke, durch Bekanntschaften, durch Freundschaften – und mir damit auch das ermöglicht haben, was ich heute als Mensch sein kann. Das ist ein tiefer Dank aus ganzem Herzen.

Herzlichen Dank.