Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Sonderausstellung "Johannes Vermeer. Vom Innehalten" in der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden am 9. September 2021

Im Wortlaut Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Sonderausstellung "Johannes Vermeer. Vom Innehalten" in der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden am 9. September 2021

in Dresden

Donnerstag, 9. September 2021 in Dresden

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Michael Kretschmer,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Mark Rutte,
sehr geehrte Frau Staatsministerin Klepsch,
Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
Exzellenz,
sehr geehrte Frau Professor Ackermann,
sehr geehrter Herr Koja,
sehr geehrte Frau Neidhardt und
liebe Gäste!

Ich habe gehört, dass auch der Oberbürgermeister da ist, aber ich kann nicht alle einzeln begrüßen. ‑ Ich darf Ihnen sagen, dass ich mich freue, hier zu sein. Ich freue mich, zusammen mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte hier zu sein, der wieder einmal nach Dresden gereist ist. Herzlichen Dank, dass du hier bist, lieber Mark!

Erst im vergangenen Jahr wurde der Semperbau am Zwinger mit der Gemäldegalerie Alte Meister und der Skulpturensammlung bis 1800 wiedereröffnet. Die Bilder gingen damals um die Welt. Heute blickt die Kunstwelt wieder nach Dresden. Das Albertinum präsentiert seine Schätze in einer Sonderausstellung zu Ehren Johannes Vermeers.

Lieber Mark Rutte, schon letztes Jahr hast du an den Feiern zur Wiedereröffnung des Semperbaus am Zwinger teilgenommen. Das sagt viel über deine Wertschätzung für die Kunst aus. Wir konnten auch schon in der Nähe deines Dienstsitzes gute Ausstellungen besuchen. Aber ich finde, deine Anwesenheit sagt auch etwas über die Qualität der deutsch-niederländischen Freundschaft aus. Ich finde es besonders schön und auch wichtig, dass diese Freundschaft und die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern sich nicht nur in Politik und Wirtschaft zeigen, sondern eben auch in der Kultur.

Als die Gemäldegalerie Alte Meister und die Skulpturensammlung bis 1800 am 28. Februar 2020 wiedereröffnet wurden, war die Freude nicht nur bei den Dresdnern groß. Sieben Jahre lang waren der Semperbau, aber auch Dutzende Gemälde und Hunderte Rahmen aufwendig saniert worden. Dann endlich durfte das Publikum diese großartigen Gemälde und Skulpturen wieder in einer beeindruckenden gemeinsamen Dauerausstellung bewundern.

Doch die Feststimmung verflog sehr schnell. Kurz nach der Eröffnung zwang das Coronavirus unser Land ‑ nicht nur unser Land, sondern auch viele andere Länder auf der Welt ‑ in einen Lockdown. Die Museen und anderen Kultureinrichtungen mussten schließen. Das war für uns alle besonders schmerzlich. Denn gerade in Zeiten der Verunsicherung und für viele auch der Einsamkeit war die Sehnsucht nach Kultur allerorten spürbar.

Ich weiß, wie sehr die Pandemie gerade die Kunst und die Kultur getroffen hat. Ich weiß, wie sehr Kulturschaffende, Künstlerinnen und Künstler und alle, die in diesem Kulturbereich arbeiten, unter dieser Pandemie und den Beschränkungen zur Bekämpfung des Virus gelitten haben und immer noch leiden. Ich weiß, wie viel Energie und Sorgfalt Sie auf Hygienekonzepte für Ihre Häuser auch heute noch verwenden und schon verwendet haben.

Kuratorinnen und Kuratoren, die meist Jahre in die Vorbereitung ihrer Ausstellungen gesteckt hatten, mussten ertragen, wie die Museen für das Publikum geschlossen blieben. Ausstellungen konnte man nicht einfach verlängern oder auf die Zeit nach dem Lockdown verschieben. Aus anderen Museen und Sammlungen ausgeliehene Bilder mussten vertragsgemäß zurückgegeben werden oder reisten weiter zur nächsten Ausstellung.

In dieser Zeit wurden viele Museen kreativ, noch kreativer, als sie es zu Normalzeiten schon sind. Es gab viele ganz neue, virtuelle Angebote, um Kunst auch in der Pandemie und darüber hinaus allen zugänglich zu machen, auch wenn das natürlich das unmittelbare Erleben nicht ersetzen kann. Deshalb möchte ich Danke sagen: Danke an alle, die im Kulturbereich arbeiten, für ihren Beitrag zur Pandemiebekämpfung und auch dafür, dass sie durchgehalten haben, auch wenn es schwierig war!

Umso schöner ist es, heute tatsächlich hier sein zu können und diese großartige Sonderausstellung in ihrer ganzen Lebendigkeit und Wirkung zu betrachten. Wir hatten ja Glück. Wir hatten schon eine kleine Führung; das geben wir zu.

Die Sonderausstellung, die wir heute eröffnen, trägt einen auf den ersten Blick ganz bescheidenen Untertitel: Vom Innehalten. ‑ Das Werk Johannes Vermeers, der vielen besser als Jan Vermeer bekannt ist, ist tief in unserem kollektiven europäischen Bildgedächtnis verankert. Wenn man schaut, woher die Bilder zusammengetragen wurden, dann erschließt sich das auch. In seinen Gemälden begegnet uns das Innehalten als bewusster Akt der Aufmerksamkeit und sogar Andacht in Alltagssituationen. Für viele Menschen ist genau diese Konzentration und Stille auch Motiv für einen Museumsbesuch. Ich füge hinzu: Wenn wir in unserem hektischen Alltag einfach auch manchmal einen Moment innehalten und einen anderen anschauen oder uns auf das konzentrieren würden, was wir gerade tun, dann wäre das vielleicht auch lebensbereichernd.

Wir wissen, dass Museen, Gedenkstätten und Archive nicht nur Schatzkammern unseres kulturellen Erbes sind. Sie können auch Zufluchtsorte sein. Sie ermöglichen es uns, innezuhalten, von unserem Alltag Abstand zu nehmen und große und kleine Werke zu studieren, ja geradezu zu entdecken und auf eine Reise zu gehen. Vielleicht genießen die niederländischen Maler des Goldenen Zeitalters auch deshalb eine solche Popularität, weil sie ein ästhetisches Ideal mit ganz individuellen Alltagsszenen verbinden. Wir haben das bei dem Bild „Die kleine Straße“ in ganz besonderer Weise gesehen.

Wir haben schon gehört, dass wir diese Ausstellung auch dem aufmerksamen Blick der Wissenschaft sowie der Kunst und Präzision der Restaurierung verdanken. Bei der Vorbesichtigung durfte ich eben das Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“, das sozusagen der große Konzentrationspunkt dieser Ausstellung ist, bewundern. Was wir dort über die kunstvolle Freilegung der großflächigen Übermalung im Gemälde erfahren haben, ist schon beeindruckend. Ich denke, die Restauratoren mussten manchmal auch innehalten, um voranzukommen.

Das Bild erstrahlt jedenfalls in völlig neuem Licht und eben auch in ganz neuer Bedeutung. Wir sehen das Bild in authentischen frischen Farben, aber wir sehen noch eine ganz neue Dimension in diesem weltberühmten Bild. Herr Doktor Koja und Frau Doktor Neidhardt werden uns darüber gleich noch einmal etwas sagen. Ich will mich jetzt nicht in falschen kunsthistorischen Formulierungen verlieren.

Dieser große Erfolg von Wissenschaftlern und Restauratoren resultiert aus hervorragender Teamarbeit in einer europäischen Kooperation. Im Verbund einer Expertenkommission und in mehrjähriger Arbeit wurde in den Restaurierungswerkstätten der Originalzustand des Bildes wieder freigelegt.

Eine so hochkarätige Ausstellung wäre nicht möglich ohne die Leihgaben aus internationalen Museen. So können wir in einem einzigen Rundgang unter anderem Werke natürlich aus Amsterdam und Den Haag, aber auch aus London und Washington betrachten.

In seiner Rede anlässlich der Wiedereröffnung würdigte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im letzten Jahr die Gemäldegalerie als einen Ort, an dem man „ein Stück weit ein Europäer werden kann. Hier in Dresden, mitten in Europa“. Genau das fühlen wir heute auch, wenn wir, ob Niederländer, Deutsche oder Besucher aus anderen Staaten, diese Ausstellung bestaunen dürfen. Kunstreichtümer wie das Werk Johannes Vermeers und weltberühmte Sammlungen wie die Gemäldegalerie Alte Meister sind ein definierender Teil unserer europäischen Identität.

Deshalb danke ich allen, die in langer Arbeit zum Gelingen dieser bedeutsamen Ausstellung beigetragen haben. Den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und der Gemäldegalerie Alte Meister und Skulpturensammlung wünsche ich viele interessierte Besucherinnen und Besucher mit der Bereitschaft, zu sehen, zu staunen und einen Moment innezuhalten.

Herzlichen Dank, dass ich dabei sein darf!

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