Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse am 10. Oktober 2017 in Frankfurt am Main

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Sehr geehrter Herr Staatspräsident, lieber Emmanuel Macron,
sehr geehrter Herr Boos,
Herr Riethmüller,
Herr Oberbürgermeister Feldmann,
Exzellenzen,
königliche Hoheiten,
meine Damen und Herren,

„Frankfurt auf Französisch“ – das diesjährige Motto der Buchmesse könnte das verbindende Element der Sprache kaum treffender ausdrücken. Denn seit jeher zeichnet sich die große und traditionsreiche französische Literatur durch vielfältige Verbindungslinien zwischen unseren Nationen diesseits und jenseits des Rheins aus.

Nun kann ich leider kein Französisch, was ich permanent bedauere. Ich habe mich gefreut, dass in der Rede des Präsidenten das Russische als europäische Sprache vorkam; das verstehe ich wenigstens ein wenig. Aber – und ich bin sehr zufrieden, dass Goethe das genauso empfunden hat, wie ich heute gelernt habe – allein der elegante und melodische Klang lässt einem das Herz immer wieder aufgehen. Ich glaube, das geht Ihnen allen auch so. Es macht einfach Freude, dem Französischen zuzuhören.

Literatur kann ihre verbindungsstiftende Funktion aber natürlich nur dann erfüllen, wenn Sprachbarrieren überwunden werden können. Insofern spricht es für die Verbundenheit unserer Nachbarländer, dass Französisch die Sprache ist, die in Deutschland am zweithäufigsten übersetzt wird. Entsprechend groß ist auch die Freude darüber, dass Frankreich in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse ist – besser noch: die Frankophonie; denn hier stellt sich eben nicht nur ein Land, sondern ein ganzer Sprachraum vor. Mehr als 130 Autoren aus Frankreich, der französischen Schweiz, Belgien und Luxemburg, ja sogar aus Kanada, vielen afrikanischen Ländern und Asien werden hier ihre Werke präsentieren und insofern auch einen großen Teil unserer Welt darstellen. Sie alle, die Sie uns hier Ihre Weltsprache nahebringen, möchte ich ganz herzlich begrüßen.

Natürlich ist der Ehrengastauftritt Frankreichs ein besonderer Höhepunkt des französischen Kulturjahres 2017 in Deutschland. Schon seit Jahresbeginn wussten zahlreiche Autoren, Kreative und Kulturschaffende in verschiedenen Städten hierzulande viele, viele Menschen mit ihren Werken zu begeistern. Daran lässt sich ablesen: Nicht nur hier in Frankfurt und nicht nur an wenigen Tagen, sondern über das Jahr hinweg begegnen beide Nationen einander nicht sprachlos, sondern haben sich, ganz im Gegenteil, sehr viel zu sagen.

Ohnehin haben der kulturelle Austausch und insbesondere auch Übersetzungen französischer Literatur eine sehr lange Tradition. Um wieviel ärmer wäre Deutschland über alle historischen Epochen hinweg ohne Einflüsse und Beiträge französischer Kultur? Und wie sähe das französische Geistesleben ohne Denkanstöße aus Deutschland aus? Die „République des lettres“ und das „Land der Dichter und Denker“ sehen sich seit Jahrhunderten in einem zuweilen durchaus kontroversen, aber stets bereichernden Austausch einander verbunden.

Der deutsch-französische Dialog fand seit dem Mittelalter an der Pariser Sorbonne und an der Heidelberger Universität statt. Die französischen Hugenotten in Berlin und Heinrich Heine in Paris setzten ihn fort. Gelebt und belebt wurde der Dialog in der nicht immer einfachen Beziehung zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen, aber auch in der Freundschaft zwischen Rilke und Rodin.

In ihrem Selbstverständnis wissen die beiden großen europäischen Kulturnationen um den Wert des geschriebenen Wortes – des Buches als Gut unserer Kultur. Das Buch öffnet uns Türen zu Lebens- und Erfahrungswelten, die wir selber ohne Buch nie erleben würden. Es lädt uns zum Träumen ein, es regt zum Denken an, es erweitert unseren Horizont und hilft, Kulturen – auch die eigene – besser zu verstehen, Gemeinsamkeiten zu sehen und auch ein Gefühl für Unterschiede zu bekommen. Wir brauchen die von der Literatur ausgehenden geistigen und kreativen Impulse in allen Lebensbereichen. Sie fördern Weltoffenheit. Sie fördern Neugier. Sie spornen an, auch neue und ungewohnte Wege zu wagen.

Da wir uns in einer Welt des Wandels behaupten wollen und müssen, müssen wir uns auch selber wandeln können. Und dabei kann Literatur helfen. Wir haben den Eindruck: der Wandel findet immer schneller statt. Deshalb sind wir dankbar, wenn uns Autoren mit ihrem jeweils eigenen Blick auf diese Welt zeigen, wie sie sie verstehen. Wir brauchen sie als Seismografen aktueller und denkbarer Entwicklungen. Wir brauchen sie als Ideengeber und auch als Brückenbauer in einer Welt, in der wir sehen, dass das Wohl einzelner Länder immer stärker voneinander abhängt, aber in der wir auch sehen, dass teilweise Menschen sich immer weiter in ihrem eigenen Land und ihrer eigenen Welt verkriechen.

So ist auch für mich als Politikerin Literatur eine Mittlerin politischer Botschaften und gesellschaftlicher Werte. In der Literatur spiegelt sich gleichsam die Seele unserer freiheitlich verfassten Gesellschaft wider, in der die Freiheit des Geistes und der Meinungsäußerung einhergeht mit politischer Freiheit.

Deshalb, Herr Riethmüller: Vielleicht ist es gut, immer wieder angespornt zu werden; aber ich glaube, sowohl der französische Staatspräsident als auch all unsere europäischen Kollegen und auch ich wissen, wie wichtig es ist, für das, was für uns selbstverständlich ist, überall in der Welt einzutreten. Deshalb werden wir das weiter tun. Denn Kunst und Kultur – das ist unsere tiefe Überzeugung – können sich in einer freiheitlichen Gesellschaft am besten entfalten. Aber gerade auch dann, wenn wir keine freiheitliche Gesellschaft haben, können Kunst und Kultur viel Inspiration bieten. Ich weiß, dass es vielen auf der Welt sehr viel schlechter ging als uns in der ehemaligen DDR. Aber einmal erlebt zu haben, dass man nicht jedes Buch lesen kann, das man lesen möchte, bringt einen dazu, lebenslang dafür zu kämpfen, dass möglichst alle Menschen alle Bücher lesen können, die sie lesen möchten.

Literatur bildet also ein breites Spektrum an Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im Zusammenleben ab – innerhalb eines Landes, aber eben auch in den Beziehungen zu anderen Nationen. So verwundert es wenig, dass sich unser gutes deutsch-französisches Miteinander auch im Bereich der Literatur äußert. Als ein Beispiel hierfür nenne ich den Franz-Hessel-Preis für zeitgenössische Literatur, der morgen vergeben wird – und mit dem gerade auch die Frage der Übersetzungen in den Blick genommen wird. Meine Damen und Herren, Übersetzungen von Literatur sind wirklich eine einmalige Sache, weil man ja sozusagen abhängig ist vom Übersetzer, um mit Blick darauf, was sich der Autor gedacht hat, das Richtige zu bekommen. Ich weiß von Dolmetschern, die unsere Sprache übersetzen, wie viel davon abhängt. Ob das Gefühl eines Gesprächs, die Emotion eines Gesprächs in der Politik in einer anderen Sprache gut wiedergegeben wird, kann ich nur erahnen. Aber ich kann auch ermessen, wie schwer es sein muss, Literatur zu übersetzen. Deshalb danke all denen, die das tun.

Der Franz-Hessel-Preis dient also auch dazu, den Dialog zwischen unseren Ländern, zwischen Frankreich und Deutschland, immer wieder aufs Neue anzuregen. Dialog lebt natürlich auch von Begegnungen. Deshalb fördern wir gemeinsam mit Frankreich den Jugendaustausch und auch die Vermittlung von Sprachkompetenzen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Präsident Macron gleich als eine seiner ersten Maßnahmen die bilingualen Schulklassen wieder eingeführt hat. Das hilft gerade auch der Vermittlung von Deutschkenntnissen. Wir geloben, dass wir auch die französische Sprache so weit wie möglich in Deutschland verbreiten werden, meine Damen und Herren. Natürlich kommt der Bildungspolitik eine herausragende Rolle zu. Wir müssen auch die europäische Dimension mehr in den Blick nehmen und noch sehr viel mehr tun, um jungen Menschen die Freude an unserer Kultur, an unserer Bildung und an unserer Literatur zu vermitteln.

Meine Damen und Herren, auch Kunst und Kultur brauchen Rahmenbedingungen, unter denen sie sich entfalten können. Das Thema hat ja heute hier auch schon eine Rolle gespielt. Das Kulturgut Buch, das unsere Weltsicht, unsere Haltungen und unsere Lebensentwürfe zu beeinflussen vermag, ist nicht irgendein Wirtschaftsgut wie jedes andere. Deshalb braucht es auch besondere Rahmenbedingungen. Daran arbeiten wir politisch auf europäischer Ebene und natürlich auch im nationalen Bereich: Buchpreisbindung, ermäßigter Umsatzsteuersatz auch für elektronische Bücher, die Frage der Erhaltung von Buchhandlungen – in diesem Zusammenhang haben wir den deutschen Buchhandlungspreis ausgelobt – und natürlich auch das Urheberrecht, das stark umstritten ist.

Wieder muss ich mich an Herrn Riethmüller wenden, der unser letztes Gesetz mit großer Kritik bedacht hat. Dazu möchte ich nur wenige Worte sagen. Das Urheberrecht in der digitalen Welt hat im Augenblick einen ausgesprochen schwierigen Stand. Ich spreche mich hier ausdrücklich dafür aus, dass diejenigen, die im Kunst-, Kultur- und Literaturbereich tätig sind, hierfür ein angemessenes Entgelt erhalten müssen – und nicht nur müssen, sondern sollen, weil sich darin die Wertschätzung der Arbeit ausdrückt, die viele, viele andere überhaupt nicht leisten können. Davon bin ich zutiefst überzeugt.

Wir leben in einer Demokratie, aber ich habe in den letzten acht Jahren erlebt, dass es weder auf europäischer Ebene noch auf deutscher Ebene gelungen ist, eine umfassende Antwort auf die Rolle des Urheberrechts in der digitalen Welt zu finden, dass es zumindest nicht gelungen ist, dafür die aus meiner Sicht richtigen Mehrheiten zu finden. Ich muss Sie bitten, dass wir weiter gemeinsam dafür streiten, eine Versöhnung zwischen dem digitalen Zugang und der Wahrung und Achtung des Wertes der kulturellen, geistigen, schöpferischen Kraft zu schaffen. Das haben wir bis heute nicht geschafft. Wir haben ganze Legislaturperioden lang gar kein Gesetz zu dieser Thematik verabschiedet, was aber zu einer schleichenden Erosion dessen führt, was ich das Recht der Urheber nenne. Deshalb habe ich – ich gebe es zu, obwohl mir die Staatsministerin gesagt hat, ich solle lieber nicht darüber sprechen – in einer Art Last-minute-Entscheidung gesagt: Es kann nicht sein, dass wir jetzt auch im achten Jahr – zwei Legislaturperioden lang – gar nichts zu diesen Dingen sagen, weil sozusagen die Avantgardisten des Digitalen und die Schützer des geistigen Rechts anscheinend nie zusammenkommen und eine Lösung finden. Ich werde aber die Gelegenheit dieser Buchmesse dazu nutzen – Emmanuel Macron und ich werden gemeinsam darauf hinwirken –, europäische Lösungen zu finden. Aber wir brauchen dafür Ihre Unterstützung. Darum bitte ich.

Meine Damen und Herren, damit bin ich beim Stichwort Europa. Emmanuel Macron hat vor wenigen Tagen eine wichtige, wegweisende Rede an der Sorbonne gehalten. Er hat sie in einer Zeit gehalten, in der Europa seine Identität in der Globalisierung neu definieren muss. Wir wissen, was Europa für uns bedeutet. Frankreich und Deutschland sind zwei EU-Gründungsstaaten. Sie wissen um ihre besondere Bedeutung in und für Europa. Auch heute gilt noch das, was schon Bundeskanzler Konrad Adenauer bei seinem Besuch in Paris 1962 gesagt hat: „Ein vereintes Europa, welche Form es auch immer annehmen mag, kann nicht bestehen ohne die engste Verbindung, Freundschaft und Solidarität der beiden Nachbarstaaten Frankreich und Deutschland.“ Die Geschichte sollte Adenauer recht geben. Die Erfahrung zeigt: Um Europa weiterzuentwickeln, kommt es immer wieder auch auf Impulse aus Frankreich und aus Deutschland an. Meine Damen und Herren, dabei können wir auch an das deutsch-französische Kulturabkommen anknüpfen, das bereits 1954 geschlossen wurde – und zwar „in der Überzeugung, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit und ein gesteigerter Austausch zwischen dem deutschen und dem französischen Volk auf kulturellem Gebiet die Sache des Friedens und des vereinten Europa nur fördern können.“

Die Buchmesse, bei der Frankreich erstmals Gastland war, fand im Jahr 1989 statt. Damals war die Mauer noch nicht gefallen, die DDR existierte noch und Europa war ein anderes als das heutige Europa. Damals hatte sich Europa zu der Blüte entfaltet, die sich de Gaulle und Adenauer gewünscht haben. Europa war bis dahin überschaubarer, aber es war ein geteiltes Europa. Die europäische Einigung war die Lehre aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und folgte dem unbedingten Willen, sich zu versöhnen. Es gab so viele große Bürgerinnen und Bürger Frankreichs und Deutschlands, die nach den Schrecknissen von zwei Weltkriegen den Mut dazu aufgebracht haben.

Heute haben wir immer weniger Zeitzeugen dieser Zeit der großen Kriege. Heute haben wir ein vereintes, aber auch größeres Europa. Heute haben wir mit der Digitalisierung eine technische Revolution, die mit derjenigen der Entstehung des Buchdrucks vergleichbar ist. – Wir werden nachher auf einer Gutenbergschen Buchdruckmaschine einen Druck der Deklaration der Menschenrechte vornehmen. – Die Digitalisierung wird unsere Welt vollkommen verändern. Sie wird uns völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Aber wir werden auch darum kämpfen müssen, uns immer wieder unsere Wurzeln, unsere Verwurzelungen klarzumachen, um den richtigen Weg in dieser scheinbar unendlich vernetzten Welt zu finden. Wir dürfen nicht zu Getriebenen der Globalisierung und nicht zu Getriebenen der Digitalisierung werden, sondern wir müssen sie ordnen, steuern und gestalten. Dabei kann uns Literatur helfen. Auch wir, die Politikerinnen und Politiker, versuchen in diesen Zeiten rasanter technischer Entwicklungen – jede Einsicht und jede Empfindung von jedem Autor und jeder Autorin hier auf dieser Buchmesse werden ein Beitrag dazu sein –, die Globalisierung menschlich zu gestalten und unser Europa stärker zu machen. Auch dazu wünsche ich mir Impulse von dieser Buchmesse.

Herzlichen Dank dafür, dass ich bei der Eröffnung dabei sein kann.