Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Begrüßung anlässlich der Preisverleihung des 13. Wettbewerbs startsocial am 7. Juni 2017 im Bundeskanzleramt

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Sehr geehrter Herr Düsedau,
liebe Unterstützer von startsocial,
meine Damen und Herren
und vor allem: herzlich willkommen liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wettbewerbs,

in einer ähnlichen Position wie Sie war vor 15 Jahren die „Aktion Zivilcourage“ aus Pirna in Sachsen. Sie war eine der Gewinnerinnen des Wettbewerbs 2002. Seitdem sind 15 Jahre vergangen – aber die Aktion wird nach wie vor ihrem Namen gerecht und macht sich mit viel Courage für eine lebendige und demokratische Kultur stark. Lieber Herr Reißig, liebe Frau Balutsch, vielen Dank für Ihr Engagement – und auch dafür, dass Sie und Ihre Mitstreiter immer wieder anderen Mut machen. startsocial hilft aktiv mit – und das sehr erfolgreich, wie viele ehemalige Wettbewerbsteilnehmer und -gewinner zeigen.

In Deutschland gibt es eine breite Bereitschaft, sich freiwillig und unentgeltlich füreinander zu engagieren. Ungefähr die Hälfte unserer Bevölkerung ist ehrenamtlich aktiv – in Nachbarschaftshilfen und Sportvereinen, in Kirchengemeinden und Freiwilligen Feuerwehren. Viele packen auch einfach spontan mit an, wie wir zum Beispiel bei der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen so eindrücklich gesehen haben.

Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass im Augenblick in Berlin das Internationale Deutsche Turnfest stattfindet. Bei dieser Gelegenheit habe ich gelernt, dass es fünf Millionen Turnerinnen und Turner in Deutschland gibt; wobei Turnsport etwa auch Beachvolleyball und Yoga umfasst. Das ist also eine breite Definition. Aber es gibt immerhin fünf Millionen. Als ich neulich bei einer Freiwilligen Feuerwehr zu Besuch war, habe ich gelernt – das fand ich auch sehr interessant –, dass von über 2.000 Städten nur 100 Städte in Deutschland eine Berufsfeuerwehr haben. Alle anderen Städte haben Freiwillige Feuerwehren. So etwas gibt es in dieser Größenordnung nirgendwo sonst auf der Welt.

Ehrenamtliches Engagement ist also ein Markenzeichen von Deutschland. Es gibt Organisationen und Vereine, die seit Jahrzehnten existieren, manche sogar seit Jahrhunderten. Natürlich verändert sich die Welt; und das berührt auch das ehrenamtliche Engagement. Dann sind eben immer wieder neue Ideen gefragt. Dann sind Initiatoren wie Sie gefragt, die sich auch einmal auf unbekanntes Gebiet vorwagen, um etwas zu bewegen.

Eine lebendige Gesellschaft braucht die Offenheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, Verantwortung für diese Gesellschaft zu übernehmen – für sich, aber auch für andere. Das war auch zum Beispiel eine der zentralen Botschaften des Evangelischen Kirchentags, der vor wenigen Tagen hier in Berlin und in Wittenberg stattgefunden hat. Es war wirklich beeindruckend, zu sehen, wie viele, gerade auch junge Leute, daran teilgenommen haben, diverse Veranstaltungen mitgestaltet und sich inhaltlich eingebracht haben. Dabei haben sie sicher auch die Erfahrung gemacht, die Sie hier auch kennen: dass es einfach gut tut, etwas auf die Beine zu stellen, für etwas einzutreten und gemeinsam mit anderen etwas zu bewegen. Bürgerschaftliches Engagement macht unser Land erst richtig lebens- und liebenswert.

Ich finde, das Interessante an bürgerschaftlichem Engagement ist, dass ich am Anfang für mich eine Entscheidung treffen muss. Es gibt ja so viel zu tun; unendlich viel, wenn ich mir die Lage anschaue. Man könnte fragen: Lohnt es sich eigentlich, irgendwo mit anzupacken? Ich weiß ja noch von tausend anderen Sachen, bei denen ich auch etwas tun müsste. Für sich die bewusste Entscheidung zu treffen, eine Sache anzupacken, an einer Sache fest dranzubleiben, um zu erleben, wie ich Schritt für Schritt etwas bewegen kann, ist eine ganz wichtige Entscheidung, die einen nicht ohnmächtig gegenüber all den Problemen sein lässt, denen wir täglich begegnen.

Wenn eine Stadt oder eine Gemeinde attraktiv sein will, dann braucht sie natürlich nicht nur Arbeitsplätze, funktionierende Infrastrukturen und kulturelle Angebote, sondern eben auch eine vitale Zivilgesellschaft. Das ist nicht selbstverständlich, wie uns zum Beispiel in Regionen bewusst wird, die unter starker Abwanderung leiden, oder in Städten, in denen sich durch starken Zuzug soziale Brennpunkte entwickeln. Gerade dort ist es notwendig, dass ehrenamtliches Engagement gestärkt wird. Denn dort ist es viel schwieriger, etwas auf die Beine zu stellen, als dort, wo alles noch einigermaßen in Ordnung ist.

Deshalb verstehen wir es auch als Aufgabe der Politik, Verantwortungsbereitschaft zu fördern und insgesamt gute Rahmenbedingungen für das Ehrenamt zu ermöglichen. Dabei stehen neben der Bundesregierung natürlich auch die Länder und Kommunen in der Pflicht. Ich bin sehr froh darüber, dass das alles in allem gelingt, wenngleich ich deutlich machen will, dass wir vor einer großen Aufgabe stehen. Im Grundgesetz ist das Postulat der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland verankert. Wenn Sie sich die Situation in München oder Stuttgart anschauen und mit der in Vorpommern oder in der Eifel vergleichen, dann stellen Sie fest, dass die Gegebenheiten sehr unterschiedlich sind. Der politische Auftrag an uns alle aber heißt: gleichwertige Lebensverhältnisse. Was sind gleichwertige Lebensverhältnisse, wenn etwa bei dem einen die Mieten immer weiter hinuntergehen und man seine Häuser nicht mehr verkaufen kann; und wenn bei dem anderen die Mieten immer weiter hinaufgehen, weil so viele Menschen zuziehen? Das stellt uns vor große Aufgaben.

Bei der Frage nach den Rahmenbedingungen des Ehrenamts haben wir als Bund einen Hebel gefunden, nämlich die sogenannten Mehrgenerationenhäuser. Hunderte lokaler Anlaufstellen sind so geschaffen worden. Wir unterstützen auch sogenannte Freiwilligenagenturen, in denen wir Professionalität haben und bei denen sich Menschen, die ehrenamtlich tätig werden wollen, melden können. Aber wir müssen uns immer wieder fragen: Was können wir noch verbessern? Wie schaffen wir es, dass die Bereitschaft, sich zu engagieren, auf fruchtbaren Boden fällt? Wie kann man Initiativen stärken? Dabei kommt dann startsocial ins Spiel.

Als Sie sich bei startsocial beworben haben, hatten Sie gewiss schon genau vor Augen, wohin Sie wollten, und zumindest eine Ahnung, wie Sie dahin kommen. Aber aus der Ahnung eine Gewissheit zu machen, genau das ist der große Mehrwert, den der Gewinn bei startsocial verspricht. Von 400 Bewerbungen um ein Beratungsstipendium waren 100 erfolgreich. Sie waren dabei, sonst wären Sie heute nicht hier.

Ehrenamtliche Coaches mit großer Erfahrung haben Ihre Projekte auf Herz und Nieren geprüft. Sie haben Ihre Ziele, Ihre Motivation und Ihre Überzeugungen unter die Lupe genommen. Sie haben Stärken und Schwächen analysiert. Gemeinsam haben Sie geschaut, wo es sinnvoll wäre, nach- oder auch ein wenig umzusteuern. Natürlich erfordert ein solcher Prozess ein großes Maß an Offenheit auf beiden Seiten. Denn Sie unterwerfen das, was Sie sozusagen als Ihr Herzensprojekt identifiziert haben, einer schonungslosen Kritik von Menschen, die aus der ökonomischen Effizienzgesellschaft kommen. Der eigentliche Mehrwert besteht ja darin, dass sich diese zwei scheinbar getrennten Welten zu einem guten Zweck vereinen, um aus einer guten Idee noch etwas Besseres zu machen.

Das heißt, Sie haben es geschafft, die Kritik im positiven Sinne zu nutzen. Sie haben an sich und Ihren Projekten gearbeitet. Sie waren dabei so erfolgreich, dass Ihre Projekte zu den 25 besten zählen. Damit war die Fahrkarte zur heutigen Preisverleihung gelöst. Sie alle sind als Endrundenteilnehmer Gewinner. Zugleich sind Sie mit Ihrem Engagement, Ihrem Organisationstalent und Ihrer Leidenschaft ein Gewinn für uns alle, für unser Land.

Deshalb möchte ich Ihnen danken – auch stellvertretend für die vielen anderen, die mit ihren sozialen Initiativen unser Land bereichern. Ich möchte auch den Coaches, den Juroren, den Sponsoren und dem Team von startsocial danken. Sie haben die Bewerberinnen und Bewerber unterstützt, ausgewählt und alles bis ins Detail organisiert. Jetzt heißt es nur noch: Schreiten wir zur Tat und beginnen wir mit der Preisverleihung. Herzlichen Dank.