Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Abschlussveranstaltung des Projekts „Ein neues Leitmotiv für Europa“ der Europäischen Kommission am 1. März 2014

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Sehr geehrter Herr Präsident der Kommission, lieber José Manuel,
sehr geehrter Herr Staeck,
sehr geehrte Frau Hertling,
sehr geehrter Herr Dujardin,
sehr geehrte Mitglieder des Komitees,
Mitglieder der Parlamente,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

wir haben heute Morgen an diesem wunderbaren Platz faszinierende musikalische und visuelle Eindrücke aus der Welt der Kunst gewonnen. Danke dafür, dass Sie uns die Attraktivität europäischer Kultur vor Augen geführt haben. Danke dafür, dass Sie daran mitgearbeitet haben, eine Erklärung zu schreiben – über den „state of mind“ Europas. Das ist – manches ist durchaus schwierig ins Deutsche zu übersetzen – so etwas wie die Geistes- und Gemütsverfassung der Europäischen Union. „Gemüt“ ist ein spannendes deutsches Wort, bei dem man nicht nur an Heine denken muss, denn es kann auch mehr Fröhliches bedeuten. Im Unterschied zu der Erklärung und den vielen künstlerischen Ausdrucksformen, mit denen wir heute beglückt wurden, muss ich mich nun auf das verlassen, was dem Politiker am besten zur Verfügung steht, nämlich das simple Wort. Sprechen wir also über Europa.

Die drei Urmotive der europäischen Einigung haben auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: das Versprechen auf Frieden, das Versprechen auf Freiheit und das Versprechen auf Wohlstand.

Viele sagen ja, dass der Friedensauftrag nunmehr erfüllt sei. Er war in der Nachkriegszeit unmittelbar ein Motiv für einen europäischen Zusammenschluss. Wir wissen aber, dass der letzte Krieg auf unserem Kontinent noch nicht einmal eine Generation her ist – erst recht nicht auf dem westlichen Balkan, wo wir immer noch daran zu arbeiten haben, um dauerhaften Frieden zu sichern. Wir müssen extremistischen, menschenverachtenden Tendenzen, die es auch im heutigen Europa leider gibt, immer wieder hartnäckig entgegentreten. Hass, Gewalt, Terrorismus, ein Auftreten gegen Minderheiten – all das ist auch in Deutschland, und nicht nur in Deutschland, nach wie vor Realität.

Ich habe den Friedensnobelpreis, den wir 2012 als Europäische Union bekommen haben, nicht nur als Anerkennung der friedensstiftenden Leistungen der europäischen Einigung seit Unterzeichnung der Römischen Verträge verstanden, sondern ich sehe diesen Friedensnobelpreis vor allen Dingen auch als Verpflichtung von uns allen an, den Frieden im Inneren Europas weiter zu sichern und nach außen dazu beizutragen, dass dort, wo kein Frieden ist, auch Frieden geschaffen werden kann. Das heißt ja nichts anderes, als dass wir Europäer, auch die heutige Generation, immer wieder dazu aufgefordert sind, die Lehren aus der Geschichte nicht zu vergessen, sondern sie immer wieder aktiv umzusetzen und zu leben.

Dieses Jahr 2014 ist ein sehr symbolträchtiges Jahr. Die Jahrestagszahlen 100, 75, 65, 25 und zehn sind uns in Deutschland sehr präsent. Als Parteivorsitzende fällt mir das immer wieder auf. Ich schreibe relativ viele Briefe an Menschen, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiern. Dann frage ich mich: In welcher Zeit sind diese Menschen geboren? Sie hatten ihren Geburtstag in dem Jahr, in dem der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist. Als sie 25 Jahre alt wurden, vor 75 Jahren, hat der Zweite Weltkrieg begonnen. Es waren glückliche Umstände, dass vor 65 Jahren die Bundesrepublik Deutschland gegründet werden konnte, vor 25 Jahren die Mauer fiel und Deutschland endlich wiedervereint sein konnte – und dass vor zehn Jahren der Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten zur Europäischen Union stattfand. Seitdem sind wir eher komplizierter, aber sicherlich auch vielfältiger in der Europäischen Union geworden, zu der die mittel- und osteuropäischen Staaten heute ganz natürlich dazugehören. Wenn wir sehen, wer uns heute durch das Programm führt, dann ahnen wir aber auch, dass wir noch einige Arbeit vor uns haben. Denn Frieden auf dem westlichen Balkan – auch das muss man sagen – kann nur mit dem Versprechen auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union gesichert werden. Alles andere – so meine Erfahrung aus vielen Jahren – würde fehlschlagen.

Für mich persönlich bedeutet gerade die Zahl 25 etwas ganz Besonderes. Als ich junge Wissenschaftlerin war, habe ich nur etwa 200 Meter entfernt von hier in Berlin gewohnt. Ich bin fast jeden Abend in Richtung Mauer gelaufen und habe niemals gedacht, dass ich jemals in Freiheit durch das Brandenburger Tor gehen könnte. Ich hatte mich darauf eingestellt, dass ich vielleicht im Rentenalter mit Hilfe eines bundesdeutschen Passes in den Westen, nach Amerika reisen könnte. Im Osten bekamen damals die Frauen schon mit 60 Rente – es wäre jetzt also fast soweit. Aber ich bin ganz glücklich, dass es anders gekommen ist.

Wenn wir uns heute die Momente der Wandlung europäischer Geschichte von dramatischem Leid in wirkliches Glück vor Augen führen, dann sind wir mit unseren Gedanken in diesen Tagen natürlich auch bei den Menschen in Kiew und in der Ukraine, die auch das erleben wollen, was wir schon erleben durften. Deshalb müssen wir ihnen in ihrem Willen und ihrem Ruf nach Freiheit und Demokratie alle Unterstützung geben. In diesen Tagen muss alles dafür getan werden – und ich versuche das mit vielen anderen in vielen Telefonaten mit dem russischem Präsidenten und den ukrainischen Verantwortlichen –, dass die territoriale Integrität gewahrt wird. Das, was wir auf der Krim erleben, besorgt uns. Deshalb muss alles dafür getan werden, dass das, was die Geschichte eigentlich lehrt, nämlich dass Konflikte friedlich und diplomatisch zu lösen sind, auch jetzt in der Ukraine bei Beibehaltung unserer grundlegenden Prinzipien möglich ist.

Es zeigt sich immer wieder: Freiheit ist lebbar, aber auch alles andere als selbstverständlich. Sie muss immer wieder verteidigt werden. Freiheit ist die Grundlage für das einige Europa. Die Eigenschaft, die Freiheit und unser Leben in Vielfalt vielleicht erst ermöglicht, ist Toleranz. Toleranz – davon bin ich überzeugt; und ich habe das auch einmal im Europäischen Parlament gesagt, als Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehatte – ist so etwas wie die Seele Europas. Gerade in der Bewährungsprobe, in der wir uns in diesen Jahren befinden – mit der Staatsschuldenkrise, den Angriffen auf den Euro, mit dem Anspruch Europas, stärker aus dieser Krise herauszukommen, als es hineingegangen ist –, ist es so wichtig, dass wir diese Seele Europas nicht vergessen, sondern immer vor Augen haben.

Natürlich brauchen wir Wachstum und Wohlstand; das ist vollkommen klar – und dazu haben wir vorhin auch einen schönen Cartoon gesehen. Aber nur wenn unser europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell dauerhaft ökonomisch erfolgreich ist, werden wir in der Welt auch andere finden, die sagen: Dieses Modell ist lebbar. Dieses europäische Wirtschafts- und Sozialmodell gründet ja auf der individuellen Würde des einzelnen Menschen. Es gründet darauf, dass Menschen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Freiheit ist ja nicht eine Freiheit von etwas – es gibt heute manchmal das etwas trivialisierende Verständnis, dass ich tun und lassen kann, was ich will –, sondern Freiheit ist immer mit der Verantwortung verbunden, sich in eine Gesellschaft einzubringen. Dazu sind wir Menschen geschaffen. Das ist zumindest meine tiefe Überzeugung.

Meine Damen und Herren, deshalb ist der Euro, um den wir uns so viel gesorgt haben und weiterhin sorgen werden, auch weit mehr als nur eine Währung. Die Gründungsväter und Gründungsmütter der europäischen Einigung haben oft darauf hingewiesen, dass diejenigen, die dauerhaft eine Währung haben, nie wieder in einem Krieg gegeneinander kämpfen werden. Deshalb ist die Gemeinschaftswährung auch ein Symbol für die gelungene friedliche und demokratische Einigung Europas. Und deshalb ist die Überwindung der Krise auch wirklich eine kulturelle und nicht nur eine politisch-finanzielle Aufgabe.

Der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash hat sich 2007, als wir unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft hier in Berlin den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge feiern durften, Gedanken darüber gemacht, welche Leitmotive eine neue Geschichte für Europa prägen könnten. Für ihn sind dies neben Frieden, Freiheit und Wohlstand die drei Leitmotive Recht, Vielfalt und Solidarität. Zur europäischen Erzählung gehöre, so Timothy Garton Ash, auf die Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit der Leitmotive hinzuweisen. Auch dies sei Teil des „state of mind of europe“. Denn Widersprüche bergen Kreativität in sich; aus ihnen kann immer wieder Entwicklung folgen. Timothy Garton Ash kommt am Ende zu dem Ergebnis: „Die Europäer von heute müssen nicht für Europa sterben. Die meisten brauchen nicht einmal für Europa zu leben. Alles, was es braucht, ist, Europa leben zu lassen.“ Ich finde, er hat das gut auf den Punkt gebracht. Europa leben zu lassen und Europa jeden Tag ganz selbstverständlich zu leben – ich glaube, das beschreibt den Erfahrungshorizont der meisten Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union.

Die Gefahr besteht darin, dass das freiheitliche Leben in Europa als so selbstverständlich erachtet wird, dass man sich gar nicht mehr vor Augen führt, wie es anders sein könnte. Ab und zu müsste man vielleicht einmal „Schengen“ außer Kraft setzen und die Menschen überall Ausweise vorzeigen lassen, um sich dessen bewusst zu werden. Wenn wir uns einmal überlegen, wie viele Studierende heute mit Hilfe des ERASMUS-Programms mittlerweile an einer anderen Hochschule in Europa studiert haben, dann wird uns klar, dass es für angehende Akademikerinnen und Akademiker eigentlich zur Selbstverständlichkeit gehört, anderswo in Europa zu lernen, Freunde zu haben, Feste zu feiern und zu wissen, welche Sorgen es anderswo gibt. Ich finde, diese Erfahrung mit Europa ist etwas Wunderbares, das meine Generation so bislang nicht kannte. Deshalb finde ich, dass es sehr wichtig ist, uns vorgenommen zu haben, das ERASMUS-Programm zu erweitern und nicht nur denjenigen anzubieten, die eine Hochschulausbildung absolvieren, sondern auch für diejenigen mit Berufsbildung zu öffnen, um sie an Auslandserfahrungen teilhaben zu lassen.

Wie viele Menschen nutzen die Gelegenheit, per Flugzeug, per Zug, per Fähre für einen Opernbesuch, einen Museumsbesuch, für Familienfeste am Wochenende in eine andere europäische Stadt zu reisen? Wie viele Menschen lernen in einem anderen europäischen Land eine neue Sprache oder gründen vielleicht sogar eine Familie? Die Möglichkeiten, die Europa bietet, werden Tag für Tag mit großer Leidenschaft genutzt. Diese Leidenschaft sollte von den Menschen auch weitergegeben werden. Es gibt jedes Jahr einen EU-Projekttag, an dem ich eine Schule besuche und mit jungen Schülerinnen und Schülern darüber spreche, wie ihr Bild von Europa ist, welche Erfahrungen sie mit Europa haben, welche Partnerschaften sie leben können, welchen Schulaustausch sie haben. Soziale Netzwerke geben bei allem, was wir auch zu kritisieren haben, Partnerschaften völlig neue Möglichkeiten. Auch in Bürgerforen erfahre ich immer wieder, dass es vielen sehr bewusst ist, welche praktischen Vorteile die Europäische Union bietet: beim Reisen, beim Preisvergleich, beim Bezahlen in derselben Währung.

Aber manchmal frage ich mich – und ich weiß, dass dies bei der heutigen Veranstaltung fast eine unerlaubte Frage ist –: Sehnen sich die Bürgerinnen und Bürger wirklich nach einer neuen und gar großen Erzählung? Brauchen sie vielleicht nicht einfach nur Raum und Gelegenheit, um von ihren Erfahrungen mit Europa zu erzählen? Das Projekt „New Narrative“ hat ja darauf abgestellt, dass sich Bürgerinnen und Bürger in den Foren, die sie gebildet haben, an den Orten, wo sie getagt haben, von Europa erzählen konnten. Wenn sie sagen, dass sie über das gestritten haben, was für sie Europa ausmacht, dann ist das ja nichts anderes, als aus der eigenen Erfahrungswelt zu berichten. Deshalb schließt sich beides für mich nicht aus, sondern im Gegenteil: Es lohnt sich, noch genauer hinzuhören, was uns die Menschen sagen, was sie sich gegenseitig zu erzählen haben.

Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung haben die Ostdeutschen sehr oft beklagt, dass die Westdeutschen nicht bereit seien, ihnen zuzuhören, wenn sie von ihrem Leben erzählen. Diese Erfahrung kann ja auch für unser Miteinander in Europa gelten. Umso wichtiger ist es, von Europa erzählen zu können. Dazu hat Ihr Projekt einen wertvollen Beitrag geleistet. Ich kann Sie nur ermutigen, das nicht einschlafen zu lassen, sondern immer wieder weiterzuführen. Wir sind sehr häufig in den – mir fällt dabei das Wort „cosy“ ein – außerordentlich gemütlichen Räumlichkeiten gefangen, die Brüssel zu bieten hat. Das sind nicht die Restaurants, in die ich gerne einmal gehen würde, sondern das sind perfekte Sitzungssäle, in denen man alles in viele Sprachen munter übersetzen lassen kann, was ja auch für die Verständlichkeit wichtig ist. Wenn ich dort ein- und ausgehe, wird mir immer wieder bewusst, dass wir zwar sicherlich Wertvolles getan haben, aber dass das europäische Leben weiß Gott glücklicherweise weit mehr ist.

Deshalb danke ich Dir, lieber José Manuel, und den Parlamentariern im Europäischen Parlament für die Initiative. Diese ermuntert mich, weiter von dem zu erzählen, was Europa für mich geworden ist. Wir in Deutschland wissen: Ohne Europa könnten wir unser Glück der Wiedervereinigung niemals leben. Deshalb werden wir uns in Deutschland bemühen – auch wenn es nicht jeder jeden Tag merkt –, gute Europäer zu sein.

Herzlichen Dank.