Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Reformationsjubiläum 2017 in der Potsdamer Oberlinkirche

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Sehr geehrter Herr Pfarrer Fichtmülller,
Herr Koch,
Herr Professor Weber,
Herr Pfarrer Vogel,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Stolpe,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Oberlinhauses,
meine Damen und Herren,

ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung bedanken, der ich sehr gern gefolgt bin. Wie Sie, Herr Fichtmüller, schon angedeutet haben, bin ich der Diakonie auch dahingehend verbunden, dass sie mich von Kindesbeinen an geprägt hat. Mein Vater hat als Pfarrer in Templin den sogenannten „Waldhof“ geleitet; ich freue mich, dass sein Kollege Peter Freybe heute hier unter uns ist. Auf diesem Waldhof lebten und arbeiteten junge Menschen mit geistiger Behinderung. Und so freut es mich natürlich, dass ich wieder einmal in einer diakonischen Einrichtung zu Gast sein darf. Ich kann ungefähr nachvollziehen, wie viel Einsatz, Leidenschaft und sicher auch Geduld hier für den Nächsten aufgebracht wird. Deshalb möchte ich mit einem herzlichen Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Oberlinhauses für ihre engagierte Arbeit beginnen. Es ist großartig, wie Sie hier wirken und was Sie hier bewirken – und das für über 30.000 Menschen. Herzlichen Dank dafür.

Das Oberlinhaus hat wie jede diakonische Einrichtung sein eigenes Profil. Und doch verbindet sie alle, dass immer der Mensch im Mittelpunkt steht – der Mensch als Geschöpf Gottes mit seiner unantastbaren Würde; der Mensch als Individuum, das für sich selbst verantwortlich und zugleich ein soziales Wesen ist, eingebunden in eine Gemeinschaft und daher auch immer mitverantwortlich für diese Gemeinschaft. Solche Verantwortlichkeit setzt vor allem eines voraus: Freiheit. Damit bin ich bei einem zentralen Begriff der Reformation.

Es ist gerade erst eine Woche her, als wir in Wittenberg an den Thesenanschlag vor 500 Jahren erinnerten. Aus der Kritik Martin Luthers am Ablasshandel der Kirche sprach die Haltung eines Menschen, der seiner Überzeugung und seinem Gewissen verpflichtet war. Seiner selbst bewusst, wenn auch sicher nicht aller Folgen bewusst, die er auslöste, läutete Luther eine geistige Zeitenwende ein. Sie war geprägt von einem neuen Verständnis vom Menschen; und zwar vom Menschen, der mündig und zur Freiheit berufen ist. Dies ermutigt zum selbstbewussten Vertrauen in die Zukunft – eine Zukunft, die gestaltbar ist und nicht einfach ein Schicksal, in das wir Menschen uns zu fügen haben.

Wir Christen sind also berufen, an unserem jeweiligen Platz dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen. Um Luther zu zitieren: „Ein Schuster, ein Schmied, ein Bauer, ein jeglicher hat seines Handwerks Amt und Werk, und doch sind alle gleich geweihte Priester und Bischöfe. Und ein jeglicher soll mit seinem Amt oder Werk den anderen nützlich und dienstbar sein, so dass vielerlei Werke alle auf eine Gemeinde gerichtet sind, Leib und Seele zu fördern, gleich wie die Gliedmaßen des Körpers alle eines dem andern dienen.“ Dieser Perspektivenwechsel eines vermehrt der Welt zugewandten Glaubens bedeutete eine Säkularisierung ganz eigener Art. Denn sie verbannte nicht die Religion aus der Welt, sondern machte sie zu einer Triebkraft in der Welt.

Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist das Wirken des Theologen und Sozialreformers Johann Friedrich Oberlin. Als er die Pfarrstelle in Steintal, einer abgeschiedenen Region in den Vogesen, antrat, begegnete er dort Menschen, die weitgehend isoliert von der Außenwelt ohne jegliche Bildungsmöglichkeit in bitterer Armut lebten. Oberlin machte die Verbesserung ihrer Verhältnisse zu seiner Lebensaufgabe. Den Schlüssel dazu sah er in der Bildung in umfassendem Sinne. Er machte sich daran, ein Schulsystem zu erarbeiten und ein Schulhaus aufzubauen. Er dachte auch an die Kinder im, wie wir heute sagen, Vorschulalter. Für sie schuf er die Gelegenheit, auf spielerische Weise erste Einblicke in die Pflanzen-, Tier- und Erdkunde zu gewinnen. Und so war Oberlin als Wegbereiter der frühkindlichen Bildung seiner Zeit weit voraus. Es sollte bis 1871 dauern, bis der Oberlinverein in Berlin genau mit dem Ziel gegründet wurde, die Betreuung und Bildung von Kleinkindern zu fördern.

Ältere Kinder bzw. Jugendliche schickte Oberlin zur Handwerksausbildung in umliegende Ortschaften. Nach ihrer Rückkehr kam das Fachwissen, das sie sich angeeignet hatten, auch den Steintalern zugute. Und damit nicht genug: Oberlin half beim Aufbau von Betrieben, setzte Verbesserungen in der Landwirtschaft durch, er war Lehrer in Ackerbau und Viehzucht, in Hygiene und praktischer Medizin. Sogar für den Wege- und Brückenbau sorgte er. Zum Lebenswerk Oberlins hieß es vor gut zehn Jahren in einem Artikel der „Zeit“ sehr treffend, dass man daran auch sehen könne –  ich zitiere –, „wie der Glaube eines Menschen wenn nicht Berge, so doch ein Tal voller bettelarm vegetierender Menschen in ein besseres Leben versetzen kann – materiell, sozial, geistig.“

Heute leben wir in Deutschland und Europa in deutlich besseren Verhältnissen als zu Zeiten Oberlins. Zugleich aber erfährt unsere Art zu leben und zu arbeiten in unserer schnelllebigen Zeit tiefgreifende Umbrüche. Wolfgang Schäuble hat das – ich möchte ihn zitieren – als „Rendezvous mit der Globalisierung“ bezeichnet. Wir erleben, dass Krisen und Konflikte in anderen Erdteilen auch Auswirkungen auf uns hierzulande haben. Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch zu uns nach Deutschland sind viele geflohen, um Krieg, Verfolgung und Perspektivlosigkeit hinter sich zu lassen. Wir stehen jetzt vor der großen Aufgabe, diejenigen, die über längere Zeit oder dauerhaft bei uns bleiben, in unsere Gesellschaft zu integrieren.

Meist aber denken wir beim Begriff Globalisierung an zunehmende wirtschaftliche Verflechtungen. Wir profitieren als Exportnation natürlich auch davon. Globalisierung wird vor allem angetrieben durch neue Möglichkeiten der Information und Kommunikation. Dabei spielen Entfernungen kaum noch eine Rolle. Damit gehen auf der einen Seite große Chancen in allen Lebens- und Arbeitsbereichen einher. Auf der anderen Seite müssen wir uns auch in einem Meer an Informationen sowie mit völlig neuen Technologien zurechtfinden. Das heißt, die Anforderungen an die Medienkompetenzen im Allgemeinen und an die Ausbildung und Qualifizierung in der Arbeitswelt im Besonderen werden sich weiter verändern. Einerseits werden bestimmte Tätigkeiten künftig von Maschinen mit künstlicher Intelligenz übernommen, andererseits entstehen neue Arbeitsfelder. Auch die Lebensläufe und Arbeitszeiten ändern sich. Die Anforderungen nehmen zu, flexibler zwischen Familienzeit, Berufstätigkeit und Qualifizierung zu wechseln. Dabei lernen die einen, neue Freiräume zu schätzen, und andere leiden darunter, dass einstige Bindungen in Familie, Gemeinde und Beruf an Beständigkeit und Verlässlichkeit verlieren.

Kurzum: Der digitale und technische Fortschritt wie auch der demografische Wandel bringen grundlegende Veränderungen mit sich. Veränderungen nehmen die einen eher als Chance und andere eher als Bedrohung wahr. In jedem Fall bedeutet Veränderung die Herausforderung, sie so zu gestalten, dass diese Veränderung allen zugutekommen kann. Wir dürfen keinen zurücklassen, der sich verunsichert fühlt, weil wir auch für die Zukunft alles daransetzen müssen, dass es in unserer Gesellschaft gerecht zugeht. Dies ist Voraussetzung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Wir alle wissen, dass ohne Gerechtigkeit und Sicherheit der Zusammenhalt einer Gesellschaft bedroht ist.

Politik trägt natürlich eine besondere Verantwortung – einerseits für die Möglichkeit der freien Entfaltung des einzelnen Menschen, andererseits auch für die staatliche Ordnung und das Rechtssystem insgesamt. Der Staat ist nach unserem Verständnis zur Humanität und damit zur Fürsorge verpflichtet. Dies entbindet jeden von uns natürlich nicht davon, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten auch selbst Vorsorge für die Zukunft zu treffen.

Umso wichtiger ist es, bereits die Startchancen für ein selbstbestimmtes Leben in den Blick zu nehmen. Wir dürfen uns eben nicht damit abfinden, dass Unterschiede durch soziale oder familiäre Herkunft die Zukunftsperspektiven maßgeblich bestimmen. Daher gehört es zu den vorrangigen Aufgaben, gute Bildung für alle zu gewährleisten – ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ob mit oder ohne Behinderung.

Alles beginnt zunächst in der Familie. Sie ist der erste und wichtigste Ort der Zuwendung und des Vertrauens. Diese Erfahrung machen zu können, ist für viele das wichtigste Startkapital. Die Familie gibt Kindern Halt, sie bedeutet Orientierung, sie stärkt das soziale Verhalten, sie lebt vor, was Verantwortung und Rücksichtnahme, Gerechtigkeit und Solidarität heißen. In diesem Sinne ist die Familie für Kinder auch der erste Bildungsort. Deshalb gehört die Aufgabe, Familie zu stärken, in das Zentrum von Politik, die dem zur Freiheit und Verantwortung berufenen Menschen dienen will. Dazu müssen wir die Herausforderungen sehen, vor denen Familien stehen, und ihnen tatsächlich Wahlmöglichkeiten, also Freiräume, schaffen.

Es hat sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahren einiges bewegt. Beispiele will ich hier nur stichwortartig nennen: Verbesserungen bei Elternzeit und Elterngeld, bessere Unterstützung von Alleinerziehenden, bessere Angebote zur Kinderbetreuung. All das hat auch Auswirkungen darauf, inwieweit sich die Familie als Bildungsort bewähren kann. Die Politik muss natürlich das gesamte Bildungssystem in den Blick nehmen – also vom Kindergarten über die Schule bis zur beruflichen Bildung bzw. zum Studium sowie zur Fort- und Weiterbildung. Hierfür tragen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam Verantwortung. Denn was zählt  und was die Menschen interessiert, das sind natürlich nicht die Zuständigkeiten, sondern die Bildungschancen.

Daher war es ein wichtiger Schritt, dass wir das Grundgesetz geändert haben, um zum Beispiel den Kommunen, die finanziell schwächer sind, gerade auch bei der Sanierung von Schulen zu helfen. Als Bund haben wir auch beim Ausbau der Ganztagsbetreuung mitgeholfen. Sicherlich müssen wir auch daran arbeiten, Bildungssysteme durchlässiger und anschlussfähiger zu machen. Das heißt vor allem, berufliche und akademische Bildung noch besser als bislang kombinieren zu können. Das bedeutet, nicht nur die Durchlässigkeit von der beruflichen Bildung hin zur akademischen zu verbessern, sondern auch denjenigen, die das Studium abbrechen, die Rückkehr in eine gute berufliche Ausbildung zu ermöglichen. Jeder in unserem Land sollte seine Fähigkeiten und Talente bestmöglich entfalten können. Das hat auch Einfluss auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben insgesamt.

Der Zusammenhalt einer Gesellschaft zeigt sich insbesondere, ja fast exemplarisch  daran, wie sehr gerade auch Menschen mit Behinderungen mit ihren Anliegen ebenso wie mit ihrem Wissen und Können wahrgenommen, respektiert und beteiligt werden. Ich habe erwähnt, dass ich meine Kindheit auf dem Waldhof verbracht habe, wo es auch eine diakonische Einrichtung gab. Es war damals bitter zu sehen, wie wenig Unterstützung in der DDR Menschen vor allem mit geistiger Behinderung erhielten. Kirchliche Einrichtungen haben damals getan, was mit ihren beschränkten Möglichkeiten und Mitteln möglich war. Vom Staat kam, wenn ein Kind als nicht bildungsfähig eingestuft war, sehr, sehr wenig. Wer in der DDR als nicht bildungs- und förderungsfähig bezeichnet wurde, hatte weder Anspruch auf Schulbildung noch auf gute pädagogische Förderung. In der alten Bundesrepublik gab es bis 1990 zwar ein differenziertes Sondersystem, das verschiedene Lebensbereiche von Menschen mit Behinderungen umfasste. Aber dieses System war stark auf die Behinderung selbst ausgerichtet und zu wenig auf Teilhabe. Es hat lange gedauert, bis wir einen neuen Ansatz verfolgt haben – auch getrieben durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009. Damit ist Inklusion Teil unserer Arbeit geworden.

Wir haben in diesem Geiste in der vergangenen Legislaturperiode das Bundesteilhabegesetz entwickelt. Wir haben es nach einem langen und breiten Beteiligungsprozess verabschiedet. Ich weiß, wie viel Unzufriedenheit bleibt, und glaube trotzdem, dass wir einiges erreicht haben. Manche fürchten, dass für die, die für die Leistungen aufkommen, wieder eine neue Kostendynamik entstehen könnte. Auf der anderen Seite können sich Menschen, die mit einer Behinderung leben und ihren Alltag meistern, noch erheblich weiterreichende Leistungsverbesserungen vorstellen. So ist auch die Diskussion geprägt, wenn man mit Bürgermeistern oder Vertretern von Behindertenverbänden spricht. Wir als Politiker haben dann die Aufgabe, einen Kompromiss zu finden. Ich glaube, dass wir einen tragfähigen Kompromiss gefunden haben. Es wird zwei weitere Reformstufen – 2018 und 2020 – geben. Und wir werden genau hinschauen, wie sich das Gesetz in der Praxis auswirkt und welche Erfahrungen Menschen mit Behinderungen konkret machen. Ich werde auch selbst weiter das Gespräch dazu suchen. Dann müssen wir natürlich Schlussfolgerungen ziehen, wenn wir sehen, dass es an manchen Stellen nicht so funktioniert, wie wir es uns erhofft haben.

Ich bin überzeugt, dass wir letztlich beides brauchen: sowohl Inklusion als auch die Fördereinrichtungen, die seit Jahrzehnten hervorragende Arbeit leisten. Aber auch darüber findet derzeit eine sehr konträre Diskussion statt. Viele Menschen mit Behinderungen wollen und können auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Das sogenannte Budget für Arbeit kann hierbei den Einstieg erleichtern. Andere wiederum arbeiten lieber in einer geschützten Werkstatt oder versuchen es in einem Integrationsbetrieb. Manche Kinder mit Behinderungen können in einer Inklusionsschule, manche in einer Förderschule gute Ergebnisse erzielen. Aber wo immer es möglich ist, sollten Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen sein. Davon profitieren alle. Jeder lernt vom anderen.

Das oberste Kriterium muss sein: Was will und was braucht der einzelne Mensch? Das ist die Kernfrage, der sich auch das Oberlinhaus seit seinen ersten Anfängen stellt. Offensichtlich haben Sie hier überzeugende Antworten gefunden, denn aus dem einst kleinen Verein ist ein großes diakonisches Unternehmen geworden. In Ihren verschieden Einrichtungen bilden, begleiten und behandeln Sie Menschen. Darauf konzentrieren Sie sich voll und ganz und machen damit, so glaube ich, Ihrem Namensgeber Oberlin alle Ehre, der seiner Überzeugung gefolgt ist: „Lernen muss man mit dem ganzen Körper.“ Das ist für uns alle gut zu wissen. Oft wird ja leiblichen Genüssen Vorrang eingeräumt, bevor man anfängt, den Kopf zu gebrauchen und zu lernen. Das kennt ja jeder: Noch ein paar „Ersatztätigkeiten“, bevor es wirklich losgeht.

Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen eine glückliche Hand auch für Ihr weiteres Engagement. Es ist abzusehen, dass es dieses Engagements im 21. Jahrhundert auch weiterhin bedarf – eines Engagements, das aus christlicher Verantwortung darauf ausgerichtet ist, eine wirklich inklusive Gesellschaft, eine Gesellschaft des Zusammenhalts, zu gestalten.

Herzlichen Dank.