Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2018 in Berlin

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Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,
lieber Horst Seehofer,
liebe Julia Klöckner,
lieber Ministerpräsident Woidke,
sehr geehrter Herr Weihbischof,
sehr geehrter Herr Fabritius,
Exzellenzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags und der Landtage,
sehr verehrte Staatsminister,
sehr verehrte Staatssekretäre,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle ganz herzlich.

Lieber Herr Arunagirinathan, das war eben eine berührende Rede. Und ich will Ihnen sagen: Unter den vielen Eichen, Tannen und Fichten freuen wir uns über den Mangobaum mit seinen Wurzeln. Wir merken ja alle: Es sind diese persönlichen Geschichten, die verdeutlichen, dass Flucht eben nichts Abstraktes ist, dass dahinter menschliche Schicksale stehen – leider allzu oft auch solche, die nicht gut enden.

Flucht und Vertreibung sind Erfahrungen, die sowohl unsere Vergangenheit als auch unsere Gegenwart prägen. Vor vier Jahren haben wir im Bundeskabinett entschieden, den Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung einzuführen – und zwar am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen. Es war und ist uns wichtig, an diesem Tag die Stimme der deutschen Heimatvertriebenen der Kriegs- und Nachkriegszeit – so wie wir sie hier auch authentisch von Ihnen gehört haben, Herr Weihbischof – und die Stimme der Menschen, die heute auf der Flucht sind, gleichermaßen zu hören.

Mehr als 70 Jahre liegt der Zweite Weltkrieg nun zurück – eine Zeitdauer von zwei bis drei Generationen. Doch die Katastrophen des Krieges, des Holocaust und der Vertreibung wirken bis in die heutigen Tage nach. Das kann angesichts des Ausmaßes an Leid, Verbrechen und Vernichtung auch nicht verwundern. Es sind auch und gerade die Erfahrungen und Lehren dieser Katastrophen, die die Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland gelegt haben. Sie verpflichten und verändern auch das heutige Deutschland auf seinem weiteren Weg in Europa und in der Weltgemeinschaft.

Ende 2017 waren 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht – eine schier unvorstellbare Zahl; die höchste seit dem Zweiten Weltkrieg. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagte dazu völlig zu Recht: „Welchen Maßstab man auch nimmt, diese Zahl ist nicht zu akzeptieren.“ Besonders bedrückend ist, dass unter den Fliehenden ungefähr die Hälfte Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind. Diese Mädchen und Jungen sollten spielen, sie sollten in die Schule gehen und sich in ihrem Zuhause sicher fühlen können. Sie sollten nicht die Leiden und Ängste einer Flucht durchmachen müssen, die sie durchmachen.

Die erschreckenden Zahlen machen deutlich, dass Flucht eine zentrale globale Frage unserer Zeit ist; eine Frage, die wir in Europa lange Zeit nicht so wahrgenommen, teils auch verdrängt haben – ich habe das auch in meiner Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode gesagt –, und eine Frage, die uns vielleicht auch gerade deshalb jetzt vor besondere Herausforderungen stellt.

Ich möchte noch einmal betonen: Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Deutschland steht sowohl zu seiner humanitären Verantwortung, Menschen zu schützen, die vor Krieg und Terror geflüchtet sind, als auch zu seiner Verantwortung für den Zusammenhalt in Europa. Beides gehört zusammen. Denn wie man es dreht und wendet: Migration ist eine europäische Herausforderung; im Augenblick vielleicht unsere größte Herausforderung. Es geht um den Zusammenhalt der Europäischen Union.

Wir müssen Migration steuern und ordnen. Migration muss nach klaren Regeln erfolgen. Und wir müssen festlegen – möglichst mit gemeinsamen Standards in der Europäischen Union –, wer zu uns kommen und wer bei uns bleiben darf; und wer nicht. Es liegt im tiefsten Interesse unserer Länder, Europa zusammenzuhalten. Aus ureigenem Interesse gilt es, die großen Fragen der Außen-, der Flüchtlings- und Migrationspolitik gemeinsam zu beantworten. Es wäre nicht gut, wenn das jeder zulasten des Anderen täte.

Eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik hat nicht nur eine innereuropäische, sondern auch eine außereuropäische Dimension. Wir müssen die Wurzeln von Flucht und illegaler Migration angehen. Das heißt, Menschen sollten sich gar nicht erst zur Flucht gezwungen sehen. Sie sollten für sich und ihre Familien in ihrer Heimat Perspektiven sehen. Daran zu arbeiten, ist eine der schwierigen, langwierigen, aber unglaublich wichtigen Aufgaben. Man muss keine prophetische Gabe haben, wenn man sagt: Das wird Europa noch die nächsten Jahrzehnte beschäftigen, insbesondere mit Blick auf unseren Nachbarkontinent, den afrikanischen Kontinent.

Deshalb investieren wir in die Förderung von Frieden und Stabilität ausgewählter Herkunfts- und Transitstaaten. Wir fördern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Bildung und Beschäftigung. Und wir befassen uns – jetzt auch während unseres zweijährigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat – mit den Fragen der Flucht und Vertreibung, die durch Klimawandel und Naturkatastrophen hervorgerufen werden.

Kaum eine Krise oder ein Konflikt kann allein mit militärischen Mitteln beseitigt werden. Humanitäre, entwicklungspolitische, wirtschaftspolitische, diplomatische, polizeiliche und manchmal auch militärische Maßnahmen müssen Hand in Hand gehen. Das ist unsere Überzeugung: Es gibt keine Entwicklung ohne Sicherheit – und keine Sicherheit ohne Entwicklung. Das gilt auch für Syrien, wo immer noch eine dramatische Situation herrscht. Viele Syrer sind in Nachbarländer geflohen. Auch dort müssen wir ihre Lage verbessern. Ich werde heute Nachmittag nach Jordanien und in den Libanon reisen – zwei Länder, die eine große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen haben, obwohl die Situation in ihren Ländern schon sehr anspruchsvoll und fragil ist.

Glücklicherweise haben wir jetzt endlich die Bedeutung erkannt, heimatnah die Lager für Flüchtlinge und Bildungsmöglichkeiten für Kinder zu unterstützen. Viele aber haben aus purer Existenznot keinen anderen Weg gesehen, als ihr Heil in der Flucht nach Europa, auch nach Deutschland, zu suchen, selbst auf die Gefahr, dabei ums Leben zu kommen. Uns hilft zum Beispiel die EU-Türkei-Vereinbarung. Die Türkei hat immerhin über drei Millionen Menschen aufgenommen und damit dazu beigetragen, dass nicht noch mehr Menschen auf der Ägäis ihr Leben verloren haben.

Wir verhandeln derzeit die Umsetzung der New Yorker Erklärung vom September 2016 zu einem globalen Flüchtlingsabkommen und einer globalen Vereinbarung zu sicherer, geordneter und regulärer Migration. Ziel ist es, die Erstaufnahmestaaten zu entlasten und Lösungen in Drittstaaten zu ermöglichen. Es geht immer darum, Verantwortung zu teilen. Wir wissen, dass dabei noch unendlich viel zu tun ist. Aber bei allem dürfen wir nie vergessen – und das haben Sie beide uns eben so eindrücklich geschildert –, dass es immer um Menschen geht; um Menschen, die sehr häufig unverschuldet in Not geraten sind.

Deshalb ist unser Gedenktag bewusst den Opfern von Flucht und Vertreibung gewidmet – den Opfern, denn die allermeisten Fliehenden sind Opfer. Die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Angehörigen wissen nur allzu genau um die Tragweite dieses Begriffs. Die Heimatvertriebenen waren Opfer, die bitteres Unrecht erlitten haben. Aber wir verkennen auch nicht Ursache und Wirkung. Vertreibung und Flucht der Deutschen waren eine unmittelbare Folge des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs und der unsäglichen Verbrechen während der nationalsozialistischen Diktatur. Doch das ändert nichts daran, dass es für Vertreibung weder eine moralische noch eine politische Rechtfertigung gab.

Die Lebensgeschichten der deutschen Heimatvertriebenen gehören zur deutschen Geschichte, zu unserem kollektiven Gedächtnis. Erinnern und Gedenken haben mit Wahrhaftigkeit zu tun und mit der Kraft, die eigene Geschichte auch anzunehmen. Annehmen – das bedeutet auch für die jungen Generationen, das Geschehen ein Stück weit zur eigenen Erfahrung werden zu lassen, es sich dadurch zu eigen zu machen. Weihbischof Pieschl hat darauf hingewiesen: Es muss weitergetragen werden. Diese Aneignung historischer Erfahrung kann helfen, sich auch heutigen Fragen von Flucht und Vertreibung offen zuzuwenden. Auch deshalb ist es so wichtig, den Erfahrungsschatz der deutschen Heimatvertriebenen zu bewahren.

Zweifellos – das will ich ganz deutlich sagen – kann man die heutige Flucht aus Syrien oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der damaligen Vertreibung, etwa aus Ostpreußen oder Schlesien, gleichsetzen. Sicher nicht – aber die Fluchterlebnisse, der Heimatverlust, die Gefahren und Angstgefühle, sie ähneln sich.

Ab Herbst 1944 zogen lange Flüchtlingstrecks aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Richtung Westen. Auch viele Deutsche, die in anderen Ländern Ost- und Südosteuropas lebten, mussten ihre Heimat verlassen. Millionen von Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Ältere, machten sich auf den beschwerlichen Weg ins Ungewisse. Sie mussten nicht nur Wind und Wetter trotzen, sie waren auch An- und Übergriffen schutzlos ausgeliefert. Bis zu zwei Millionen Menschen sind infolge von Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen. Und bei denen, die es in den Westen schafften, haben Hunger, Erschöpfung, Plünderung und Vergewaltigung oft lebenslange Traumata hinterlassen. Die Neuankömmlinge hatten fast alles verloren: Familie und Freunde, Arbeit und Ansehen, Haus und Heimat. Ein derartiger Verlust lässt sich nicht vergessen und kaum überwinden.

Der Dichter und Denker Johann Gottfried von Herder war der Ansicht: „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss.“ Flüchtlinge und Vertriebene kommen erst einmal als Fremde; sie müssen sich erklären. Von ihnen wird Anpassung erwartet. Auch hiervon können deutsche Heimatvertriebene berichten. Es war ja nicht so, dass die Deutschen im Westen nur auf sie gewartet und sie überall mit offenen Armen empfangen hätten. In den Nachkriegsjahren fühlten sich viele schon allein durch die große Zahl der Neuankömmlinge bedroht. Durch den Zuzug der Vertriebenen wuchs die Gesellschaft um knapp 20 Prozent; man muss sich das einmal vorstellen. Wohin mit all diesen Menschen? Wohnraum war in den ausgebombten Städten sowieso schon zu knapp. Viele wurden in Privathäusern, oft auch zwangsweise, einquartiert. Keine einfachen Voraussetzungen für Integration.

In der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR fürchteten die Machthaber, dass Vertriebene das Verhältnis zu den sozialistischen Nachbarstaaten belasten könnten. Viele Vertriebene hatten erst nach 1989 die Möglichkeit, offen über das Erlittene zu sprechen. Hier hat der Bund der Vertriebenen mit seinen neu gegründeten Landesverbänden unglaublich wichtige Arbeit geleistet, für die ich ganz herzlich danken möchte.

Dass letztendlich in beiden Teilen Deutschlands Integration trotz aller Widrigkeiten gelang, war vor allem ein Verdienst der Vertriebenen selbst. Entwurzelt zu werden, aber in der Ferne einen Neuanfang zu wagen, mit anzupacken und Deutschland hüben wie drüben wiederaufzubauen – das ist eine persönliche, kulturelle und gesellschaftliche Leistung, die zu den großen Erfolgsgeschichten unseres ganzen Landes gehört. Und so möchte ich Johann Gottfried von Herder antworten: Auch da, wo man sich erklären muss, kann man eine neue Heimat finden.

Wer aber Flucht und Vertreibung nicht selbst durchmachen musste, kann kaum ermessen, was diese Erfahrungen bedeuten. Aber wir können versuchen, sie zu begreifen. Wir können zuhören und lernen, auch damit kein neues Leid durch Leugnung, Verdrängung und Nichtbeachtung entsteht. Auch deswegen ist es uns als Bundesregierung wichtig, Erinnerungskultur zu stärken. Deswegen bin ich auch froh, dass wir die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung haben. Und ich bin froh, dass wir der Eröffnung des Dokumentationszentrums deutlich nähergekommen sind, auch wenn sich die Zeit hinzieht. Im letzten Jahr wurde nämlich das Konzept zur Dauerausstellung verabschiedet.

Wir wollen auch die Erinnerung an die deutsche Kultur- und Siedlungsgeschichte im östlichen Europa wachhalten. Deshalb haben wir die Fördermittel für ihre Erforschung und Vermittlung erhöht. Seit 2017 steht jährlich eine Million Euro zusätzlich zur Verfügung. Für uns steht der Gedanke von Versöhnung, Verständigung und Verstehen im Mittelpunkt. Indem wir die vor Ort lebenden deutschen Minderheiten unterstützen, schärfen wir zugleich den Blick dafür, wie viel uns in Europa miteinander verbindet.

Der Versöhnungsgedanke leitet uns auch bei der Anerkennung des individuellen Schicksals durch die Gesellschaft. Allerdings hat es sehr lange gedauert, bis wir 2016 eine Anerkennungsleistung für ehemalige zivile deutsche Zwangsarbeiter beschlossen haben. Über 46.000 Personen, die nach dem Krieg in den ehemaligen Ostgebieten Zwangsarbeit leisten mussten, haben daraufhin einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Ich bin froh, dass so viele dieses Angebot angenommen haben. Verantwortung tragen wir auch für die Aufnahme und Integration von Spätaussiedlern. Mehrere Tausend von ihnen kommen weiterhin jedes Jahr nach Deutschland. Seit 1950 hat die Bundesrepublik etwa fünf Millionen Aussiedler, Spätaussiedler und Familienangehörige aufgenommen.

Meine Damen und Herren, Flucht und Vertreibung gehören zu unserer deutschen und europäischen Geschichte. Wir wollen die Erfahrungen der Geflüchteten, der Vertriebenen und der deutschen Minderheiten hören, ihre Kultur und ihre Erinnerung pflegen. Wir wollen daraus lernen. Denn Flucht mit all ihren Facetten und Folgen gehört auch zur deutschen und europäischen Gegenwart.

Migration und Integration sind drängende Fragen unserer Zeit. Wir brauchen konstruktive, humane und europäische Antworten. Das alles ist leichter gesagt als getan. Aber es geht um Menschenleben. Es geht um Perspektiven in den Herkunftsländern. Es geht um den Kampf gegen die menschenverachtenden Machenschaften von Schleppern und Schleusern. Es geht um die Bekämpfung von illegaler Migration. Es geht um eine geordnete und gesteuerte, legale Zuwanderung. Es geht um gelungene Integration. Und es geht um Zusammenhalt. Kurzum: Es geht um sehr viel, für das es sich lohnt, sich einzusetzen, und an das uns auch dieser Gedenktag mahnt.

Ich möchte mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. Die Entscheidung vor vier Jahren war eine ganz wichtige. Dieser Gedenktag zeigt auch, was wir in der Vergangenheit bewältigt haben, wie Vertriebene dazu beigetragen haben, diese Bundesrepublik Deutschland zu formen, und wie wir unsere Verantwortung auch in Zukunft leben müssen.

Herzlichen Dank.