Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Forschungsgipfel 2021 am 19. Mai 2021 (per Video)

Herr Professor Barner,
Herr Professor Haug,
Herr Professor Cantner,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, dass es in diesem Jahr zumindest virtuell wieder einen großen Forschungsgipfel gibt. Ich bin fast geneigt zu sagen: der Pandemie zum Trotz. Denn gerade in dieser schwierigen Zeit zeigt es sich ja, wie bedeutsam Wissenschaft und Forschung für unser aller Leben und unseren Alltag sind. Wenn sich der Pandemie mit all ihren schmerzlichen Folgen überhaupt etwas Positives abgewinnen lässt, dann ist es der Praxisbeweis, dass Deutschland in der Gesundheitsforschung ganz vorne mitspielt. Der erste in der EU zugelassene Impfstoff wurde hierzulande entwickelt. Diese großartige Leistung wirft auch ein Licht auf unsere Forschungslandschaft insgesamt.

Ich hatte vor wenigen Tagen die Gelegenheit, mich mit Expertinnen und Experten über Zukunftsfelder in der Medizin und Biotechnologie auszutauschen. Ob es um die mRNA-Technologie geht oder um das Thema CRISPR/Cas ‑ besser bekannt als Gen-Schere ‑, ich bin zutiefst davon überzeugt: Der Biotech-Standort Deutschland hat hervorragende Chancen, bei bahnbrechenden Neuerungen in der Medizin eine maßgebliche Rolle zu spielen. Allerdings gilt es auch möglichst schnell die Voraussetzungen zu schaffen, um neue Technologien möglichst gut wirtschaftlich verwerten zu können. Die sogenannte Translation ist ein Thema.

Auch in anderen vielversprechenden Bereichen stehen wir immer wieder vor der Herausforderung, Forschungsergebnisse in die praktische und wirtschaftliche Anwendung zu überführen. Dabei kommt es uns in Deutschland sehr zugute, auf ein hervorragendes Ingenieurwesen zählen zu können. Kaum ein anderes Land ist so prädestiniert dafür, Industrie 4.0, Automatisierung und Künstliche Intelligenz mit medizinischen Zukunftstechnologien wie der Gen- und Zelltherapie zusammenzubringen. Oder nehmen wir die Quantentechnologie: Beim Quantencomputing befinden wir uns zwar im Windschatten der USA, aber in der Quantensensorik und -kommunikation sind wir führend. Das wünsche ich mir auch, wenn es darum geht, die wirtschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten zu nutzen.

Klar ist: Wünsche allein helfen nicht weiter. Vielmehr setzen Innovationen auch Investitionen voraus. Bund und Länder haben ihr Budget zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren kontinuierlich gesteigert, genauer gesagt um 72 Prozent von 2009 bis 2019. Staat und Wirtschaft haben zusammen zuletzt 3,18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investiert. Damit zählt Deutschland weltweit zur Spitzengruppe. Und ich wünsche mir, dass das auch so bleibt. Das heißt, auch bei höherem Bruttoinlandsprodukt in wirtschaftlich besseren Jahren soll der prozentuale Forschungs- und Entwicklungsanteil nicht sinken, sondern sich vielmehr der 3,5-Prozent-Marke annähern. Die Bundesregierung investiert in Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz, Wasserstoff- oder Quantentechnologien und deren Anwendungsfelder - zum Beispiel im Bereich der Industrie 4.0, der Mobilität oder der zivilen Sicherheit.

Bei all dem wissen wir natürlich: Das wichtigste Kapital unseres Forschungsstandortes sind und bleiben kluge Köpfe. Daher helfen wir auch beim Aufbau von Kompetenzen und unterstützen Fachkräfte, indem wir etwa den Anspruch auf Ganztagsbetreuung für ihre Kinder einführen und vor allem erhebliche Beiträge zur digitalen Bildung leisten. Denn gerade auch die Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, dass wir noch agiler, flexibler und digitaler werden müssen, um als moderne, technologieaffine Gesellschaft auch künftig mit Innovationen made in Germany punkten zu können.

Digitalisierung entscheidet wesentlich mit, wie und was wir arbeiten und womit wir in Zukunft unseren Wohlstand sichern können. Auch deshalb hat die Bundesregierung eine Datenstrategie vorgelegt, um die Möglichkeiten der Datennutzung und der digitalen Wertschöpfung weiter zu verbessern.

Fortschritte in der Digitalisierung lassen sich zweifellos auch für Fortschritte im Klimaschutz nutzen. Auch im Sinne von Nachhaltigkeit gilt es also, noch innovativer zu werden. Es geht um neue Marktchancen - sowohl für Anbieter als auch für Nachfrager etwa von Effizienztechnologien, die Ressourcen und damit Kosten einsparen helfen. Denken wir etwa an den Gebäudebereich und den Verkehrssektor, wo die Entwicklung und Anwendung intelligenter Lösungen ökonomischen und ökologischen Zielen gleichermaßen dienen.

Ähnliches gilt auch mit Blick auf die Energiewende. Auch deren Erfolg hängt vom Forschungsfortschritt ab. Hohe Erwartungen richten sich hierbei auf den grünen Wasserstoff. Mit der Nationalen Wasserstoffstrategie der Bundesregierung haben wir eine solide Grundlage, um die Energieversorgung nachhaltiger zu gestalten und gleichzeitig neue Märkte zu erschließen. Dabei blicken wir auch über unsere Landesgrenzen hinaus. Als Hightech-Land haben wir die Möglichkeiten, Vordenker und Vorreiter einer globalen Energiewende zu werden.

Meine Damen und Herren, gerade in Krisenzeiten wie diesen entscheidet es sich, wie die internationalen Wettbewerbsverhältnisse in den Folgejahren aussehen werden. Wir sehen, dass vor allem die USA und China derzeit gewaltige Summen in den Wiederaufschwung nach der Krise investieren; und sie setzen dabei eigene Standards. Daher dürfen auch wir uns nicht mit kurzfristiger Krisenbewältigung begnügen, sondern müssen uns strategisch auf mehr Kompetenzen und technologische Souveränität einstellen und darauf hinarbeiten, also Schlüsseltechnologien erforschen, entwickeln und anwenden. Das bedeutet für uns auch, im Fall von Krisen widerstandsfähiger zu werden, die ja erfahrungsgemäß wieder auftreten werden.

Zudem ermöglicht oder erleichtert Technologieführerschaft eine Mitgestaltung globaler Entwicklungen nach eigenen Vorstellungen. Denn trotz der Agenda 2030 und ihrer Nachhaltigkeitsziele, auf die sich die Weltgemeinschaft verständigt hat, ist es doch keineswegs so, dass sich unsere Vorstellungen von Nachhaltigkeit mit denen von allen anderen decken. Umso wichtiger ist es, gerade auch als Europäer Kräfte zu bündeln und eben auch in Forschung und Innovation gut zusammenzuarbeiten. Es ist keine neue Erkenntnis, aber wir müssen uns eines immer wieder in Erinnerung rufen: Wenn wir uns mit unserem europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, mit unseren Vorstellungen von Nachhaltigkeit und lebenswerter Zukunft behaupten wollen, dann müssen wir innovativer und produktiver als andere Teile der Welt sein und in vielem auch schneller werden. Das ist unser Anspruch. Dafür gilt es die Weichen immer wieder richtig zu stellen. Wir müssen eben heute schon das Morgen denken.

Daher bin ich mit der Meinung der Initiatoren für diesen Forschungsgipfel einverstanden, dass wir uns kümmern müssen; und ich bin dankbar dafür, dass sie diesen Gipfel durchführen. Sie führen hier Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zusammen. Diesen engen Schulterschluss brauchen wir, um Deutschland und Europa im weltweiten Innovationswettbewerb als treibende Kraft in möglichst vielen Sektoren zu etablieren. Deshalb freue ich mich nun auf eine anregende Gesprächsrunde und wünsche Ihnen dann auch für Ihren weiteren Gipfeltag einen guten Gedankenaustausch. Vielen Dank.