Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum 70. Geburtstag des Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Herrn Romani Rose, am 27. September 2016

  • Bundeskanzler ⏐ Startseite 
  • Olaf Scholz

  • Aktuelles

  • Kanzleramt

  • Mediathek 

  • Service

Sehr geehrte Vorstandsmitglieder des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma,
meine Damen und Herren,

bitte verzeihen Sie mir, wenn ich es angesichts der Vielzahl der Festgäste bei dieser allgemeinen Anrede bewenden lasse, um damit zugleich umso mehr denjenigen herausheben zu können, der heute im Mittelpunkt steht.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Herr Rose, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem runden Geburtstag – nachträglich natürlich, denn Ihr tatsächlicher Ehrentag liegt bereits einen guten Monat zurück. Ich wünsche Ihnen von Herzen Gesundheit, Glück und Segen und alles erdenklich Gute – in einem Wort: persönliches Wohlergehen.

Ich freue mich, dass wir gemeinsam mit Ihnen heute nicht nur das neue Lebensjahrzehnt begrüßen können, sondern dass wir aus diesem Anlass zusammengekommen sind, um auch Ihr jahrzehntelanges Engagement für die Belange der Sinti und Roma zu würdigen. Jeder Tag, der neu hinzukommt, birgt die Chance neuer Verdienste. Denn Sie wirken beharrlich darauf hin, Dinge zum Guten zu wenden.

Gerade eben, als ich zu Ihnen gekommen bin und die wunderschöne Musik gehört habe, habe ich noch einmal nachgedacht: 1982 wurde der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegründet; Sie sind 1946 geboren – ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Von heute aus gesehen mussten Sie etwa ein halbes Leben lang warten, bis anerkannt wurde, was Ihrer Minderheit an Unrecht angetan wurde. Erst die andere Hälfte des bisher Erlebten – grob gesprochen; ich weiß schon, dass 35 und 36 einen Unterschied machen – konnten Sie darauf verwenden, denjenigen, die Ihnen wichtig sind und die Sie vertreten, eine Stimme zu geben.

Das Jahr 1982 war aber auch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Damals wurde eines der wichtigsten Ziele auf dem langen Weg der Aufarbeitung der Verbrechen Deutschlands während des Nationalsozialismus erreicht; und das war die Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma durch Bundeskanzler Helmut Schmidt.

Wir sollten nicht vergessen, dass zwischen 1945 und 1982 fast vier Jahrzehnte lagen, in denen die klare Benennung der Verbrechen an Sinti und Roma auf sich warten ließ. Es gehört zu den traurigen Wahrheiten, dass dies erst nach unermüdlicher Vorarbeit möglich war, an der Sie, lieber Herr Rose, maßgeblich beteiligt waren. Es ist eine traurige Wahrheit, dass erst ein Hungerstreik auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau ein Umdenken auslöste und den Wendepunkt brachte. Wendepunkt heißt aber nicht: Alles ist geschafft. Oft fängt die Arbeit danach erst richtig an. So auch hier; denn Erinnerung und Gedenken mussten erst einen angemessenen öffentlichen Raum finden.

Lieber Herr Rose, zusätzlich zu Ihren Aufgaben im Zentralrat nehmen Sie seit 1991 auch die Geschäftsführung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg wahr. Die Dauerausstellung, die den Völkermord an Sinti und Roma dokumentiert, ist ebenso bedrückend wie beeindruckend.

Auch dass wir inzwischen endlich ein Mahnmal im Herzen der Hauptstadt haben – ich durfte bei der Einweihung dabei sein –, ist ganz besonders Ihnen zu verdanken. Es lädt mit bewegender Symbolik zum stillen Gedenken an das Schicksal der Sinti und Roma Europas ein, die während des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Ich erinnere mich noch gut an die Einweihung vor vier Jahren. Damals haben Sie in Ihrer Rede darauf hingewiesen: „Es gibt in Deutschland keine einzige Familie unter den Sinti und Roma, die nicht unmittelbare Angehörige verloren haben – dies prägt unsere Identität bis heute.“ Auch Sie selbst sind nicht nur durch berufliche und ehrenamtliche Aufgaben betroffen, sondern auch privat. Denn das Leid von damals bleibt für immer Teil der Familiengeschichten – auch Ihrer eigenen.

Es ist und bleibt wahr, dass wir erst im immerwährenden Bewusstsein der Schrecken der Vergangenheit eine gute Zukunft gestalten können. Mit diesem Bewusstsein pochen Sie auch darauf, weniger das Trennende in den Blick zu nehmen als vielmehr das, was uns heute verbindet. Dafür können wir unendlich dankbar sein, denn dazu müssen Sie auch jeden Tag wieder die Kraft aufbringen. Alle zusammen setzen wir uns für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Unablässig gilt es, gegen jegliche Form von Vorurteilen, Hass und Hetze zu kämpfen.

Ein besonderes Anliegen ist der Kampf gegen Antiziganismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Hinter jedem dieser Begriffe stehen menschenverachtende Gedanken, Worte und – leider viel zu oft – auch Taten. Sie finden auch in Deutschland in einer Weise Anklang, die erschreckend ist. Denkbar falsch wäre es jedoch, sich angesichts dessen einfach angewidert abzuwenden. Wir müssen vielmehr sehr genau hinschauen. Wir dürfen nicht schweigen, wenn mahnende Worte gefragt sind. Wir müssen uns konsequent rechtsstaatlicher Mittel bedienen, wenn strafrechtlich Relevantes zu ahnden ist. Vor allem aber müssen wir aufklären, vorbeugen und verhindern, dass die Saat rassistischer und antiziganistischer Gedanken aufgehen kann.

Das ist etwas, das nicht nur Sie angeht, sondern das uns alle angeht. Auch dies haben Sie, Herr Rose, treffend beschrieben: „Dieser Rassismus richtet sich vordergründig gegen unsere Minderheit, tatsächlich aber richtet er sich gegen unsere Demokratie und unsere demokratischen Werte.“ – Danke, Sie haben Recht.

Jüngst hat das Bundeskabinett den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit beschlossen. Dieser Bericht gibt nicht nur über beachtliche wirtschaftliche Fortschritte Auskunft, sondern auch über die Gefahr, dass Intoleranz und Menschenhass in Deutschland um sich greifen können. Um es deshalb ganz klar zu sagen: Es sind die Mechanismen der Abgrenzung und Ausgrenzung, der Ablehnung von allem, was fremd erscheint, die unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen, ja, ihn sogar gefährden können, und die obendrein – auch das besagt der Jahresbericht zur Deutschen Einheit – die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes beeinträchtigen. Das ist ein Befund, der uns allen in Deutschland zu denken geben sollte – und natürlich auch über Deutschland hinaus.

Daher begrüße ich es sehr, dass nun geplant ist, in Berlin ein Europäisches Roma Institut für Kunst und Kultur zu errichten. Dahinter steht eine gemeinsame Initiative des Europarats, der Open Society Foundations und der Allianz für das Europäische Roma-Institut. Selbstverständlich wirkt der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma ebenfalls daran mit, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Geschichte, Kunst und Kultur der Sinti und Roma sind fester Teil der Geschichte, Kunst und Kultur Europas. Sinti und Roma sind ein fester Teil unserer gemeinsamen Gesellschaft – in anderen Staaten ebenso wie hierzulande.

Die Bundesregierung setzt sich für ein gleichberechtigtes Miteinander ein. Dabei steht uns auch der Beratende Ausschuss für Fragen der deutschen Sinti und Roma zur Seite. Mit ihm haben wir eine Gesprächsplattform, die gewährleistet, dass ihre Anliegen in der Bundespolitik Gehör finden.

Ein aktuelles Beispiel ist ihr Einsatz für den Erhalt der Gräber von Sinti und Roma, die die Verfolgung während des Nationalsozialismus überlebt haben. Diese Gräber dienen dem ehrenden Gedenken an Familienangehörige, sollen aber auch als Mahnmale für unsere Gesellschaft Bestand haben, wofür die öffentliche Hand Sorge tragen muss. Sie wissen, dass die Bundesregierung dazu einen Vorschlag erarbeitet hat. Wir stehen darüber mit den Ländern in einer konstruktiven Diskussion. Wenn einer einmal nickt, ist schon fast alles gewonnen. Dann haben wir nur noch fünfzehn andere; aber das macht nichts. Ich rechne trotzdem damit, dass wir zu einer guten Lösung kommen werden.

Lieber Herr Rose, ich möchte Ihnen ganz herzlich danken für alles, was Sie für unser Land – ich sage ausdrücklich: für unser Land – tun. Ich wünsche Ihnen weiterhin die Ausdauer und die Kraft, mit der Sie sich und mit der wir uns gemeinsam für die gelebten Grundwerte unserer Demokratie stark machen.

Nun kann ich nur noch sagen – etwas traurig, weil ich bald entschwinden muss –: Genießen Sie mit Ihren zahlreichen Gästen diesen festlichen Abend. Sie haben ihn sich verdient, denn Sie machen sich schon seit Jahr und Tag um unser Land, um unser Zusammenleben verdient. Ein ganz herzliches Dankeschön dafür, dass Sie immer wieder die Kraft dazu aufbringen. Ich wünsche Ihnen viele Freunde, Unterstützer und Gleichgesonnene, um dieses Werk fortsetzen zu können.

Herzlichen Dank.