Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Treffens mit Vertreterinnen und Vertretern der bei der Flüchtlingsaufnahme engagierten Verbände und gesellschaftlichen Gruppen am 8. April 2016

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Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Treffens mit Vertreterinnen und Vertretern der bei der Flüchtlingsaufnahme engagierten Verbände und gesellschaftlichen Gruppen am 8. April 2016

Freitag, 8. April 2016 in Berlin

Meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett,

Sie sehen, wenn ich das unseren Gästen sagen darf, dass die Bundesregierung nach wie vor in großer Breite dabei ist. Wir freuen uns, dass wir uns heute wieder bei einem Treffen mit Vertretern von Verbänden, Organisationen und Religionsgemeinschaften sehen. Ich bedanke mich bei allen, die sich Zeit genommen haben, um heute mit dabei zu sein. Die Tatsache, dass wir hier in so breiter Runde sitzen, zeigt, in welcher Breite auch die Gesellschaft als Ganzes mit der Frage und der Bereitschaft, Schutzsuchenden zu helfen, gefordert ist, wie sehr sie aber auch bereit ist, dieser Forderung nachzukommen. Deshalb ist es nach wie vor ein sehr schönes Zeichen, dass wir hier nicht nur um einen runden Tisch sitzen, sondern dass sich daraus auch eine große Gemeinsamkeit ergibt.

Ich denke, wir sind heute in unserem Treffen gut beraten, über zwei Dinge zu sprechen – zum einen über die aktuelle Situation. Wir alle spüren auch angesichts der geringer werdenden Zahlen der zu uns Kommenden, aber auch angesichts der großen Zahl derjenigen, die schon bei uns sind, dass zum anderen das Thema Integration immer stärker in den Vordergrund rückt und Platz greift. Wir haben in der Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar leider einen negativen Eindruck davon bekommen, was nicht gelingende Integration an Verunsicherung, Ängsten und Sorgen hervorrufen kann. Auch deshalb nehmen wir das Thema Integration natürlich sehr ernst.

Wir wissen, dass Integration viele Facetten hat. Ich hoffe, dass wir heute Zeit und Gelegenheit haben, diese Facetten etwas genauer zu beleuchten. Die Tatsache, dass wir über Integration sprechen, führt auch dazu, dass die Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters, und der Chef des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, heute zum ersten Mal dabei sind. Das heißt, wir spannen einen Bogen von rechtlichen Fragen der Integration bis hin zu Fragen der kulturellen Bedeutung von Integration.

Wir alle sind uns vom ersten Tag an einig gewesen, dass eine wichtige Facette die Frage ist, wie wir den Prozess steuern und ordnen können, und dass wir Fluchtursachen bekämpfen. Hierbei ist in den vergangenen Monaten einiges geschehen. Wir hatten die Konferenz in London, die in den wesentlichen Fragen der finanziellen Ausstattung der in Jordanien, im Libanon, im Irak und auch in der Türkei lebenden Flüchtlinge Fortschritte erbracht hat. Hinzu kommt der politische Prozess, der wesentlich auch vom Bundesaußenminister begleitet wird – zum Beispiel die Verhandlungen in Syrien. Die Tatsache, dass wir seit einigen Wochen einen zwar fragilen, aber immerhin einen Waffenstillstand in Syrien haben, hat durchaus auch zu einer gewissen Beruhigung der Lage im Augenblick geführt, zumindest nicht zu der Angst, Hunderttausende neuer Flüchtlinge zu bekommen.

Wir haben unsere Entwicklungszusammenarbeit, unsere Zusammenarbeit mit den Nachbarn Europas verstärkt und intensiviert – sowohl auf der Seite der Europäischen Union als auch auf deutscher Seite. Der Bundesinnenminister zum Beispiel war in Marokko, Tunesien, Algerien und Ägypten.

Es lohnt sich ein Blick auf die Landkarte. Ich habe mir eine Landkarte erstellen lassen, in der der Schengen-Raum in einer Farbe und die Nachbarländer in einer anderen Farbe dargestellt sind. Sie sehen, dass Europa mit vielen Nachbarn gesegnet ist – von Grönland über Russland, die Ukraine und Georgien bis zur Türkei und interessanterweise – das ist mir persönlich gar nicht so klar gewesen – dazu, dass ein Nachbar von Zypern, das ja auch zum Schengen-System gehört, Syrien ist. Das heißt, Syrien ist direktes Nachbarschaftsland des Schengen-Raums. Von da an wird es dann sozusagen noch interessanter – mit dem Libanon, mit Israel, mit Ägypten, mit Libyen, mit Tunesien, mit Algerien und mit Marokko. Dann sind wir ungefähr einmal um Europa herum. Dann kommt ein Stück Atlantik. Mit Blick auf die Kanarischen Inseln können Sie die Westsahara noch hinzuzählen. Das ist die Nachbarschaft Europas.

Wenn man sozusagen die Außenhaut des Schengen-Raums schützen will, dann muss man Wege dafür finden, ansonsten wird jeder wieder anfangen, sich seine eigene Grenzsicherung aufzubauen – mit all den negativen Implikationen, die das auch zur Folge hat. Das heißt, wir werden unsere Nachbarschaftspolitik noch einmal ganz anders ausrichten müssen und uns überlegen müssen: Wie können wir eben auch bei unseren Nachbarn – sozusagen in einem konzentrischen Kreis um die Europäische Union herum – für Stabilität und für Frieden sorgen? Eine große, neue Aufgabe neben Syrien stellt sich uns in Libyen, wo wir an der Festigung einer Einheitsregierung arbeiten, die es jetzt immerhin bis Tripolis geschafft hat und die wir unterstützen. So werden wir noch viele, viele Probleme haben.

Im Zentrum der gegenwärtigen Diskussion steht – das ist ja einer der Beiträge, die geleistet wurden, um die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, stark zu reduzieren – die Abmachung mit der Türkei. Sie wird hoch diskutiert. Ich glaube, dass es im Sinne der Lastenteilung richtig war und ist, diese Absprache mit der Türkei zu treffen. Die Türkei beherbergt 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge und noch 300.000 Flüchtlinge aus anderen Ländern. Dass das Land finanziell von der Europäischen Union unterstützt wird, ist, glaube ich, unstrittig. Dass man versucht, die Anbindung an die Europäische Union zu festigen, ohne damit gleich die Vollmitgliedschaft vor Augen zu haben, die Beitrittsprozesse voranzubringen und über Visafragen sowie Visafreiheit zu sprechen, ist bei allen Problemen, die es dabei gibt, auch richtig.

Deutlich zu machen, dass wir uns der illegalen Migration entgegenstemmen, ist nach meiner festen Auffassung auch richtig. Wir dürfen nicht vergessen, dass allein in diesem Jahr schon 400 Menschen in der Ägäis umgekommen sind. Es kann eigentlich nicht sein, dass man zuschaut, wie Schlepper und Schmuggler dort sozusagen das Wort und die Feder führen, und dass wir als Staaten – im Übrigen zwei Staaten, die auch NATO-Mitglieder sind und sich auf bestimmte gemeinsame Werte berufen – dem einfach zusehen und sagen: da können wir halt nichts machen. Das kann so nicht sein.

Jeder Migrant wird eine individuelle Prüfung bekommen. Wir sind mit den NGOs in einem, sagen wir einmal, kritischen Dialog, aber durchaus in einem Dialog, damit möglichst viel Zusammenarbeit erfolgen kann.

Wenn wir Illegalität gestoppt haben werden – vor allem darum geht es im Augenblick –, wird die Frage natürlich sein: Zu was ist Europa bereit, wenn es darum geht, auf freiwilliger Basis Flüchtlinge auch weiterhin aufzunehmen? Das Ergebnis kann ja nicht heißen, dass sich – egal, wie viele Flüchtlinge in der Türkei sind – der Nachbar Syriens, also Europa mit seinen 500 Millionen Einwohnern, überhaupt nicht beteiligt. Ich habe das jetzt etwas ausführlicher dargelegt, damit wir dann gleich zu den Innenwahrnehmungen kommen können.

Wir haben zwischendurch auch eine NATO-Mission eingesetzt – die Bundesverteidigungsministerin hat daran sehr intensiv mitgearbeitet –, um die türkische Küstenwache zu unterstützen. Dabei haben wir auch gelernt, wie viele Probleme es zwischen Griechenland und der Türkei heute noch gibt. Vielleicht hilft die Herausforderung ja auch dabei, dass die Kooperation zwischen diesen beiden Nachbarn besser wird. Es gab jedenfalls sehr hoffnungsvolle bilaterale Regierungskonsultationen der türkischen Regierung und der griechischen Regierung. Auch das hilft sicherlich der Stabilität der Region.

Ich bedanke mich noch einmal dafür, dass Sie gekommen sind. Ich glaube oder hoffe, dass es Ihre Zustimmung findet, dass wir jetzt als Teil 1 über die aktuelle Situation sprechen, wozu ich zuerst dem Bundesinnenminister das Wort geben würde, und dass wir uns dann in einem zweiten und etwas länger andauernden Teil mit dem Thema Integration mit all seinen Facetten und dem befassen, was in Arbeit ist und in den nächsten Wochen, hoffe ich, sozusagen das Licht der Welt erblicken wird – sowohl gesetzliche als auch staatliche Maßnahmen. Ihnen allen noch einmal herzlichen Dank.

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