Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Wirtschaftsgipfel der "Süddeutschen Zeitung" am 13. November 2018 in Berlin

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Lieber Herr Kister,

lieber Herr Krach,

aber vor allem liebe Kolleginnen,


denn angesichts von fünf Prozent Frauen, die führende politische Funktionen auf der Welt haben, ist es ja ein seltenes Zusammentreffen, dass die kroatische Präsidentin, die isländische Ministerpräsidentin, die serbische Ministerpräsidentin und ich sozusagen als vier Individuen heute Abend hier versammelt sind. Ich glaube, das ist sozusagen der Tribut der „Süddeutschen Zeitung“ an das gestern stattgefundene Ereignis hier im Saal, in dem an die Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren erinnert wurde.


Nun bin ich hier heute Abend in einer ziemlich schwierigen Rolle, weil Sie sich überlegt haben, dass Sie nach mindestens eineinhalb Tagen permanenter Vorträge noch eine Dinner Speech und dann auch noch eine Diskussion brauchen, um dann morgen frohgemut mit weiteren Vorträgen weiterzumachen. Deshalb will ich jetzt auch nicht absolut ins Grundsätzliche und in Zahlendetails gehen, sondern nur ein wenig das betrachten, worüber Sie diskutieren.


Ich habe mich gefreut, dass eine Zeitung das Motto „Vertrauen schaffen!“ gewählt hat. Denn manchmal denkt man sich beim Zeitunglesen, dass mehr mit Misstrauen beobachtet wird; aber das muss sich ja nicht ausschließen. Ich finde dieses Motto jedenfalls sehr richtig und wichtig – wenn ich das sagen darf – für unsere heutige Zeit. Warum? Weil ich glaube, dass wir immer noch ein bisschen im Glück der 90er Jahre verhaftet sind, als wir uns zur Europäischen Union vereint haben, der Kalte Krieg ein Ende gefunden hat und eine demokratische Europäische Union geschaffen wurde. Veränderung hatte damals etwas Gutes bedeutet. Und wir hatten gedacht, dass es doch weniger Probleme gibt als vorher.


Dieses Vertrauen, das wir damals hatten – jetzt einmal aus der deutschen Perspektive und auch aus der Perspektive der deutschen Wiedervereinigung gesprochen –, ist dann aber doch gewichen; Vertrauen ist verlorengegangen. Deshalb ist es richtig, wieder Vertrauen schaffen zu wollen. Wir haben einige Dinge durchlebt, die in unsere relativ heile Welt hineingebrochen sind: die Finanzkrise, die Eurokrise, die Ereignisse von Flucht und Migration, der islamistische Terrorismus, die Herausforderungen einer multipolaren statt einer wie im Kalten Krieg sehr klar aufgeteilten Welt und neuerdings auch die doch sehr vehementen Angriffe auf den Multilateralismus – eine Ordnung, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde und auf die wir vertraut haben, über die es keine großen Diskussionen gab, selbst wenn sie unvollkommen war, und die jetzt wieder verteidigt werden muss, da sie eben von manchen als nicht mehr existent oder als etwas, das zu vernichten ist, bezeichnet wird.


Deshalb ist das Motto „Vertrauen schaffen!“ so wichtig. Mich als Politikerin erinnert es daran, dass wir einen konstruktiven Gestaltungsauftrag haben – jedenfalls wenn wir in der Regierung sind –, und keinen Auftrag haben, davon zu leben, dass es einen Raum gibt, in dem sich Misstrauen ausbreiten kann. Ich verstehe sehr wohl, dass verlorengegangenes Vertrauen weitere Räume geschaffen hat, in denen Misstrauen gedeiht. Aber jetzt müssen wir sie wieder konstruktiv füllen.


Da haben wir das Thema „Was können wir national tun?“ Und da stellt sich die große Frage: Wie sieht das Erfolgsmodell Deutschlands, nämlich die Soziale Marktwirtschaft, im 21. Jahrhundert aus? Können wir das Wohlstandsversprechen, das ziemlich eng – ich würde sogar sagen: sehr eng – mit der Ordnung der Demokratie verbunden ist, weiter halten? Und was fordert uns dabei heraus?


Da sind wir im Gespräch am Tisch soeben sofort auf die Digitalisierung gekommen, die bei Ihnen hier heute sicherlich schon häufig Thema war. Jeder lebt ein Stück weit in einer digitalen Welt – schon allein mit seinem Smartphone und seinem Kommunikationsverhalten. Aber was das für unsere Gesellschaften, was das für das Arbeiten, für die Bildung, für die Presse, für sämtliche Prozesse in unserer Gesellschaft bedeutet, das haben wir alle, glaube ich, noch nicht durchdrungen. Jedenfalls habe ich es noch nicht vollständig durchdrungen.


Deshalb müssen wir daran arbeiten – ich spreche jetzt als Politikerin –, wieder in eine Situation zu kommen, in der wir die Prozesse erfassen können, da wir ja die Leitplanken für unsere Ordnung schaffen müssen. Wenn ich aber nicht verstanden habe, was vor sich geht, dann kann ich auch keine Leitplanken schaffen. Also haben wir jetzt eigentlich eine Zeit engster Zusammenarbeit von Menschen, die Technologien entwickeln, von Menschen, die jünger sind, aber meist noch nicht in politischer oder in wirtschaftlicher Verantwortung sind, und von Menschen, die Gesellschaften beobachten und gesellschaftliche Prozesse kennen.


Aus der Erfahrungswelt der Sozialen Marktwirtschaft würde ich sagen: Unser Grundansatz muss doch sein, dass auch mit neuen Technologien der Mensch der Maßstab dessen sein muss, das wir entwickeln. In Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Der Staat hat sie zu schützen. Das bedeutet: wir müssen vom einzelnen Menschen aus denken, was ja gerade auch die große Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft ausmachte. Man hat nicht in Gruppen gedacht, man hat nicht in Klassen gedacht, man hat nicht eine Gruppe gegen die andere gestellt, sondern man hat vom Individuum her gedacht.


Damit bin ich beim Thema: Was suchen die Menschen? Die Bürgerinnen und Bürger spüren ja, dass sich etwas Gewaltiges tut. Sie wollen erst einmal Sicherheit in der Disruption. Es gibt disruptive Erneuerungen; und in dieser Situation wollen sie Sicherheit. Wie gibt man als Politiker Sicherheit, wenn von einem erwartet wird, dass man eigentlich auf jede Frage eine Antwort hat, aber plötzlich in einer Zeit lebt, in der man ehrlicherweise nicht immer sagen kann, auf Fragen schon Antworten zu haben? Denn ich bin ja auch selbst Lernende.


Ich glaube, die beste Art und Weise der Kommunikation zwischen den politisch Mächtigen, also den Entscheidern, und den Bürgerinnen und Bürgern ist, dass wir ihnen wieder etwas zutrauen – dass wir ihnen nämlich zutrauen, dass sie aushalten, wenn wir ihnen sagen: Wir haben diese und jene Prinzipien zum Wohle des Menschen, aber wir wissen nicht bereits um die Auswirkungen jeder neuen technischen Einzelheit; wir werden immer wieder Schritte vorwärts und Schritte rückwärts machen müssen. Das was wir gewöhnt sind, nämlich ein Gesetz für 10, 20, 30 Jahre zu machen, wird vielleicht für die nächsten 10 oder 20 Jahre nicht mehr richtig sein. Wir müssen vielmehr etwas erproben und dann versuchen, daraus die Lehren zu ziehen. Wir hören auf euch, die Bürgerinnen und Bürger, und auf das, was ihr uns zurückmeldet, und sind dann auch bereit, etwas schnell zu ändern.


Das ist eine vollkommen neue Herangehensweise, mit der wir in der Politik arbeiten müssen – aber auch so wie jeder, ob in der Fabrik, in der Verwaltung oder wo auch immer, neu arbeiten muss. Deshalb ist es eigentlich eine schöne Zeit für eine Demokratie, weil man plötzlich an jedem und seinen jeweiligen Erfahrungen interessiert sein muss. Wir hatten uns ja in der Realität voneinander entfernt. Der eine schreibt Zeitungen, der andere arbeitet in einem Unternehmen, der Dritte macht Politik. Wir hatten uns die Arbeitsteilung gut geregelt. Der eine ist Lobbyist und versucht so lange auf die Politik einzureden, bis das Gesetz so aussieht, wie er es will. Der Bürger weiß auch, wie er sich wehren kann. Und das tut er dann ja auch in Wahlen. Wir hatten also vollkommen klare Strukturen. Diese kommen jetzt aber völlig durcheinander.


Deshalb erfordert diese Aufgabe, in einer neuen Zeit wieder Vertrauen zu schaffen, von uns Politikern, dass wir deutlich machen, dass auch wir neu denken, dass wir wahrscheinlich in viel flacheren Hierarchien arbeiten müssen, dass wir Gruppen brauchen, zu denen wir Kontakt haben, und dass wir auch zugeben, dass wir Ratgeber brauchen; und diese finden wir nicht immer in unserer Verwaltung. Da sei mir eine kleine Anmerkung erlaubt: Jedes Mal, wenn wir uns Berater von irgendwoher holen, heißt es: Die Regierung hat wieder outgesourct und hat sich irgendwie von der Wirtschaft abhängig gemacht. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir werden es nicht anders machen können. Ansonsten sind wir Ignoranten. Wir brauchen Weiterbildung durch Menschen, die in der Digitalisierung arbeiten und die neue Erkenntnisse haben. Denn wir finden in unserer eigenen Verwaltung niemanden mit diesen Erkenntnissen; und das ist auch natürlich. Also müssen wir sozusagen einen Merger machen, so wie das etwa bei der Firma Bosch gemacht wird. Da bekommt jede ältere Führungskraft einen jungen Nerd zur Seite, um zu lernen, was Sache ist. Wenn man diese Offenheit nicht hat, wird man in der neuen Zeit nicht überleben. – Jetzt will ich hier aber nicht zu ausführlich werden.


Die schlechte Nachricht für uns in Deutschland und in Europa ist: Wir sind nicht mehr, was wir vor 100 Jahren noch ziemlich häufig waren: die Technologietreiber. Vielmehr erreichen heute uns Technologien. Wir können keine Batteriezelle produzieren. Wir machen noch die Maschinen, die Chips produzieren, aber die Chipfabriken sind weitestgehend außerhalb Europas. Wir sind beim Quantencomputer sicherlich nicht vorne mit dabei. Aber bei der Künstlichen Intelligenz sind wir aufgewacht. Wir werden morgen eine Digitalisierungsklausur unserer Regierung haben. Das ist das erste Mal, dass wir für zwei Tage ganz konzentriert an Fragen zur Digitalisierung arbeiten werden.


Digitale Erfindungen kommen derzeit vor allem aus Asien und aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Das darf uns nun aber nicht gleich pessimistisch machen. Manchmal leben wir ja sozusagen digital in der Art und Weise, dass wir dual leben – also null oder eins, betrübt oder euphorisiert, aber nichts dazwischen. Wir müssen vielmehr einfach eine realistische Analyse machen und uns fragen: Wo stehen wir? Wir haben meiner Meinung nach mit unserer industriellen Grundlage, mit unserer industriellen Stärke zumindest eine sehr gute Ausgangsposition bei dem, was man auf Plattformen B2B nennt. Bei B2C findet jetzt aber die eigentliche Schlacht statt. Gewinnt der, der die Customer in der Hand hat, oder gewinnt der, der die industrielle Produktion in der Hand hat? Da findet im Augenblick zum Beispiel in der Automobilindustrie weltweit eine scharfe Auseinandersetzung statt. Diese Herausforderungen werden wir – Deutschland oder irgendein anderes europäisches Land – gegen Länder wie China oder die Vereinigten Staaten von Amerika nicht alleine gewinnen. Das heißt, wir müssen uns in Europa zusammenraufen.


Dabei wird eine kulturelle Komponente eine Rolle spielen, die wieder mit der Sozialen Marktwirtschaft zu tun hat. In den Vereinigten Staaten von Amerika geht der technische Fortschritt sehr schnell voran, aber mit der Tendenz, dass die Daten, die dabei aggregiert werden, im Grunde in privater Hand sind und dass erst dann reguliert wird – wenn überhaupt – oder entschieden wird: Was passiert damit? In China – wir haben uns hier über alles schon offen ausgetauscht – ist es so, dass die Daten auf scheinbar natürliche Weise dem Staat gehören. Mit keinem der beiden Modelle wird Europa glücklich werden, eben weil wir aus der Tradition einer Sozialen Marktwirtschaft kommen. Deshalb müssen wir einen eigenen Weg finden.


Ich sage dazu: Die Datenschutz-Grundverordnung war eine gute Entscheidung, auch wenn sie uns in einzelnen Fällen in den Wahnsinn treiben kann. Wenn ich meine eigenen CDU-Mitglieder nicht mehr einladen darf, weil sie erst eine Einwilligung geben müssen, dass sie wieder von mir eingeladen werden wollen, dann fragt man sich natürlich, ob wir noch alle Tassen im Schrank haben. Aber das können wir in einem Lernprozess dann wieder neu regulieren.


Dass wir ein level playing field, ein gleiches Niveau in allen europäischen Ländern haben und dass es eine Souveränität für den Bürger gibt, zu wissen, was mit seinen Daten passiert, kann ein Zukunftsmodell sein. Die Schlacht ist aber noch nicht geschlagen. Nach dem Ende des Kalten Krieges dachten wir ja auch, die Demokratie habe gesiegt und dagegen werde sich nichts mehr aufstellen. Das ist aber nicht so; und da sind wir herausgefordert. Deshalb ist ohne die europäische Dimension jeder von uns im Gebiet der Europäischen Union verloren, wenn er glaubt, er könnte das alleine schaffen. Deshalb müssen wir uns zusammenraufen – und nicht nur, weil ich heute in Straßburg eine Rede gehalten habe.


Mein letzter Punkt: Nun gerät etwas ins Wanken, worüber auch ich erstaunt bin und ich mich frage, wie das passieren kann. Wir haben kürzlich des 100. Jahrestags des Endes des Ersten Weltkrieges gedacht. Wenige Jahre später ist der Zweite Weltkrieg entstanden. Im Grunde wissen wir, warum das passiert ist, nämlich weil nach dem Ersten Weltkrieg Völker einander nicht respektiert haben, sondern einander weiter gedemütigt haben, und weil das, was der damalige amerikanische Präsident Wilson initiiert hat – die Bildung einer Gemeinschaft der Völker, die dann im Rahmen des Völkerbunds entstanden ist –, gescheitert ist. Zusammen mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist daraus ein Krieg entstanden, den die Deutschen zu verantworten haben. – Ich will nichts relativieren; damit das nicht falsch ankommt. – Aber die Lehre, die daraus gezogen wurde – mit dem Marshallplan, mit der Gründung der Europäischen Union und vor allen Dingen mit der Gründung der UNO –, war eindeutig: Nur dann, wenn wir als Völker zusammenarbeiten und uns auf gemeinsame Wertegrundlagen einigen, werden wir die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus hinter uns lassen.


Dass ausgerechnet in der jetzigen Zeit, in der die Zeitzeugen immer weniger werden, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch erlebt haben, starke Strömungen aufkommen mit der Botschaft „Leute, lasst das alles sein; unser eigenes Land ist uns doch am wichtigsten“, macht mich sehr unruhig. Das fordert uns heraus. Denn aus meiner Sicht – das sage ich jetzt zu Deutschland – ist jetzt und in den nächsten wenigen Jahren die Stunde da, zu zeigen, ob wir etwas aus der Geschichte gelernt haben oder ob wir doch wieder nichts aus der Geschichte gelernt haben.


Wenn ich jetzt manchmal sehe, wie verächtlich über die Vereinten Nationen geschrieben wird, muss ich sagen: Ich kann Ihnen viele Sachen sagen, die komplett unvollkommen sind, aber die Frage ist doch nicht „Wie unvollkommen sind die?“, sondern die Frage ist: Warum ist es 1948 gelungen, die Charta der Menschenrechte zu vereinbaren; und könnte so etwas heute wieder gelingen oder fühlen wir gar keine Notwendigkeit, uns auf so etwas einzulassen? Deshalb sage ich: Zerstört ist schnell, aufgebaut ist langsam. Deshalb heißt „Vertrauen schaffen!“ für mich: Das, was wir uns nach den Schrecknissen der Weltgeschichte geschaffen haben, nicht zerstören, sondern geduldig fortentwickeln – aber niemals vergessen, was der Welt passiert ist, als man das alles nicht hatte. Dann wird es uns auch wieder gelingen.


In diesem Sinne freue ich mich jetzt auf die Diskussion mit Herrn Kister.