Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 17. April 2018 in Berlin

  • Bundeskanzler ⏐ Startseite
  • Olaf Scholz

  • Aktuelles

  • Kanzleramt

  • Mediathek 

  • Service

Sehr geehrter Präsident, lieber Herr Fabritius,
sehr geehrte Frau Staatsministerin Grütters,
sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesinnenministerium – der Minister verhandelt ziemlich erfolgreich, wie man liest; und von ihm grüßen wir natürlich –,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
Exzellenzen,
liebe Gäste, insbesondere aus Korea,
meine Damen und Herren,

meine Teilnahme gehört fast schon als Tradition zum Jahresempfang, zu dem ich immer wieder sehr gern komme, weil es mir auch ein sehr persönliches Anliegen ist. Mir liegt sehr daran, immer wieder deutlich zu machen, dass der Bund der Vertriebenen bei der Bundesregierung ein offenes Ohr findet und dass das auch in dieser Legislaturperiode genauso sein wird. Damit man uns das glaubt, haben wir das auch im Koalitionsvertrag bekräftigt.

Jede Bundesregierung hat eine besondere Verantwortung gegenüber deutschen Heimatvertriebenen und gegenüber den deutschen Heimatverbliebenen, die als deutsche Minderheiten in ihren Heimatregionen leben. Deren Anliegen zu einem Anliegen der Bundesregierung zu machen, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern ganz praktisch: Wer könnte das besser als der BdV-Präsident selbst? Deshalb bin froh, dass wir Sie, lieber Bernd Fabritius, für das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten gewonnen haben. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Amt. Aber wir können uns auch alle selbst dazu gratulieren und sind froh, dass Sie diese Aufgabe übernommen haben.

Ich möchte noch einen herzlichen Dank an den Parlamentarischen Staatssekretär Günter Krings richten. Zunächst hatte er den Staffelstab von Hartmut Koschyk übernommen. – Man würde diese Sache gar nicht erwähnen, wenn die Phase zwischen Bundestagswahl und Regierungsbildung nicht doch erhebliche Zeit gedauert hätte. – So war für Kontinuität gesorgt.

Das Schicksal von Vertriebenen braucht besondere Aufmerksamkeit. Ihre Lebensleistung und ihr kulturelles Erbe verdienen besondere Wertschätzung. Wertschätzung kommt nicht von ungefähr. Sie setzt Erinnerung voraus. Erinnerung aber läuft Gefahr, mit der Zeit zu verblassen – erst recht, wenn wir immer weniger Zeitzeugen in unserer Mitte haben. Deshalb braucht Erinnerung konsequente Förderung.

Daher ist und bleibt es der Bundesregierung wichtig, dass die „Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ihrem Auftrag gerecht werden kann. Ich begrüße die Chefin dieser Stiftung ganz besonders. Ich darf mit Erleichterung sagen, dass im vergangenen Jahr das Konzept zur Dauerausstellung verabschiedet wurde. Wir sind damit einen großen Schritt zur Eröffnung des Dokumentationszentrums vorangekommen.

Jetzt kommt Alexander Dobrindt, der schon begrüßt wurde. Ich darf sagen, dass er jetzt auch wirklich hier ist. Herzlich willkommen, lieber Alexander Dobrindt.

Wir haben mehr Fördermittel für die Erforschung und Bewahrung, für die Präsentation und Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa bereitgestellt. Seit 2017 stehen jährlich eine Million Euro zusätzlich zur Verfügung. Neben der besseren Ausstattung dieses Förderbereichs ging und geht es uns auch um eine stärkere europäische Ausrichtung.

Ohne Zweifel ist das deutsche Kulturerbe ein bedeutender Teil unserer gesamten europäischen Kultur. Es ist auch ein wichtiger Bezugspunkt für eine gemeinsame europäische Entwicklung. Wir sehen ja, welch integrierende Kraft das kulturelle Erbe auch vor Ort entfalten kann. Die deutschen Minderheiten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa haben solide Brücken des zivilgesellschaftlichen Austauschs errichtet. Sie stärken damit auch immer wieder unsere zwischenstaatlichen Beziehungen.

Auch deshalb habe ich gleich nach meiner Wiederwahl bei meinem jüngsten Besuch in Warschau dafür geworben, wieder am Runden Tisch zusammenzukommen. Ich würde das sehr begrüßen. Denn dieser Runde Tisch soll über, wie es wörtlich heißt, „Fragen der Förderung sowohl der deutschen Minderheit in Polen als auch der polnischstämmigen Bürger und Polen in Deutschland“ beraten. Das liegt mir und uns sehr am Herzen.

Unabhängig von Fragen der Förderung heißt Erinnerung natürlich vor allem auch, individuelle Schicksale in den Blick zu nehmen. Das gilt nicht zuletzt für die zivilen deutschen Zwangsarbeiter. Ihre leidvollen Erfahrungen als besondere Kriegsfolgenschicksale zu würdigen und mit einer Anerkennungsleistung zu verbinden, darauf mussten die Überlebenden lange – man kann auch sagen: allzu lange – warten. Aber immerhin – Herr Fabritius hat es gesagt –: Mehr als erwartet, nämlich über 46.000 Personen, haben bis Ende des vergangenen Jahres einen Antrag gestellt. Es freut mich, dass so viele diese Anerkennung annehmen wollen. Die Bundesregierung – das darf ich Ihnen versichern – wird alles dafür tun, dass so rasch wie möglich über die Anträge entschieden wird.

Aus der Erinnerung erwächst immer auch Verantwortung für die Zukunft. Dieser Verantwortung will sich die Bundesregierung weiter stellen; und zwar auch ganz konkret. Ich denke zum Beispiel an die Alterssicherung für Spätaussiedler. Mit dem neuen Koalitionsvertrag haben wir uns darauf verständigt, durch eine Fondslösung einen Ausgleich für Härtefälle zu ermöglichen. Ich bin zuversichtlich, dass wir eine gute Lösung finden werden.

So wichtig das Thema Alterssicherung auch ist, so steht es doch nur beispielhaft für den Dialog mit Vertriebenen und Spätaussiedlern insgesamt – und zwar für einen Dialog, den wir unbedingt pflegen müssen, den wir pflegen wollen und der täglich gepflegt wird. Denn diese Menschen verfügen über einen ganz besonderen Erfahrungsschatz. Für sie spielen Werte und Begriffe wie Familie und Gemeinschaft, Tradition und Glaube häufig eine zentrale Rolle. Es sind Werte, die auch mit dem Begriff Heimat eng verbunden sind.

Heimatbewusstsein ist uns auch deshalb so wichtig, weil es etwas mit Selbstbewusstsein zu tun hat. Heimat ist Teil persönlicher Identität. Heimat ist zugleich Zugehörigkeit. Sie bedeutet Zusammenleben und Zusammenhalt in einer Gemeinschaft, die sich gleichen Werten verpflichtet sieht. In diesem Sinne sind unter Heimat nicht nur bestimmte Orte und Landschaften zu verstehen. Es geht auch und vor allem um Menschen und ihre Gemeinschaft, um ihre Sehnsucht nach einem friedlichen und gedeihlichen Miteinander.

Das ließ auch Papst Franziskus in seiner Grußbotschaft zum Tag der Heimat 2017 anklingen – ich möchte ihn zitieren –: „Der Sehnsucht der Menschen nach Heimat, nach Geborgenheit und Überschaubarkeit Raum zu geben, ist eine Grundaufgabe jeder Politik.“ In den Räumen der Katholischen Akademie ist das, denke ich, auch passend.

Papst Franziskus schreibt uns diese politische Aufgabe zu einer Zeit ins Stammbuch, in der weltweit so viele Menschen auf der Flucht sind wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Niemand gibt seine Heimat leichtfertig auf. Auch zu uns nach Deutschland sind viele geflohen, oft unter Todesgefahr, weil sie sich in ihrer Heimat ihrer Zukunft beraubt sahen. Diejenigen, die deshalb länger oder für immer bei uns bleiben werden, sollen bei uns auch ein neues Zuhause finden können. Ein Bleiberecht ist natürlich die formale Voraussetzung dafür. Aber es braucht auch Offenheit auf beiden Seiten: bei den Flüchtlingen wie auch in der deutschen Gesellschaft. Offenheit, die Bereitschaft zur Verständigung und die Einhaltung von Recht und Ordnung – das sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass Verbundenheit überhaupt wachsen kann.

Wir alle wissen, dass die Fluchtbewegungen heute und Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg nur sehr bedingt vergleichbar sind. Aber es gibt auch Übereinstimmungen. Denn Vertriebene wissen aus ihrer eigenen Geschichte, wie wichtig Heimat für den Menschen ist. Sie wissen, was es bedeutet, seine Heimat zu verlieren, und wie schwierig es sein kann, sich ein neues Zuhause aufzubauen. Ihre Erinnerung an die Vergangenheit prägt in besonderer Weise auch ihr Verantwortungsbewusstsein für die Gestaltung der Zukunft. Das sage ich nicht einfach nur so dahin. Wir sehen ja, dass sich ihre Erfahrung und ihr Wertebewusstsein in einem vielfältigen Engagement als Brückenbauer in unseren Ländern und auch zwischen Ländern widerspiegeln. Das macht Vertriebene und Spätaussiedler zu Partnern einer Politik, die nicht abgrenzt, die nicht ausgrenzt, sondern auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein gutes Zusammenleben in Europa abzielt – und das seit Jahrzehnten auf der Grundlage ihrer Charta, einem wirklich historischen Dokument.

Ich bin für ein solches Engagement sehr dankbar, und möchte jedem Einzelnen von Ihnen danken. Wenn man miteinander im Gespräch steht, dann weiß man, was Sie an Arbeit, an ganz spezifischer Arbeit für jede Gruppe, leisten, was Sie auf die Beine stellen und was Sie immer wieder bewegen, das für viele Menschen wichtig ist. Deshalb freue ich mich von ganzem Herzen auf unsere Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode mit den Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, mit der Bundesregierung, mit der Staatsministerin, mit den Staatssekretären und natürlich mit dem Beauftragten.

Meine Damen und Herren, herzlichen Dank dafür, dass ich heute wieder mit dabei sein darf.