Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festkonzert Wolf Biermann & das ZENTRALQUARTETT anlässlich 25 Jahre Mauerfall am 8. November 2014

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Lieber Wolf Biermann,
liebe Gäste,
lieber Norbert Lammert,
sehr geehrter Herr Sejm-Marschall, lieber Radosław Sikorski,
Herr Botschafter Handelsman,
Herr Bundespräsident Köhler,
meine Damen und Herren
und vor allen Dingen die Künstler Wolf Biermann und die Mitglieder des Zentralquartetts,

im November 1976 hätte sich wohl kaum einer vorstellen können, dass es einmal ein solches Konzert wie das heute Abend geben würde, hier im Theater am Schiffbauerdamm mit Wolf Biermann, der damals gerade ausgebürgert war, wie es offiziell hieß, und einem Publikum, das die DDR-Führung teils zu Staatsfeinden, teils zu unerwünschten Besuchern der BRD abgestempelt hätte. Ich glaube, das hätte so gut wie niemand voraussehen können – und das noch nicht einmal in den ersten Novembertagen 1989, obwohl damals die Zeichen des Wandels immer sichtbarer wurden.

Das, was morgen vor 25 Jahren, am 9. November 1989, geschehen ist, hat die Welt verändert. Es war der Anfang vom Ende der Teilung Berlins, der Teilung Deutschlands, der Teilung Europas und der Teilung der Welt in zwei Blöcke. Viele haben daran mitgewirkt. Norbert Lammert hat gestern daran erinnert: Es waren nicht nur wir Deutschen, sondern auch Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn und viele andere mehr.

Obwohl der Wandel immer sichtbarer wurde, waren am Abend des 9. November doch viele überrascht, was eine Pressekonferenz auslösen konnte. Es erwies sich, dass der stete Tropfen doch den ganzen Mauerstein ausgehöhlt hatte. Der Mauerfall war im doppelten Wortsinn der Durchbruch der Friedlichen Revolution – die überaus verdiente Krönung von Zivilcourage.

Dass wir uns heute mit diesem Festkonzert auf das Jubiläum morgen einstimmen, halte ich für eine wunderbare Idee. Musik war ja in der DDR nicht nur eine künstlerische, sondern oft auch eine hochpolitische Angelegenheit. Schon allein mit Instrumenten konnten politische Statements abgegeben werden.

Über das Zentralquartett wurde einmal sinngemäß gesagt, es habe den „Soundtrack einer Subkultur“ geschrieben. Das ist das beste Kompliment, das jeden Musikpreis damals aufgewogen hat. Das Ensemble hat Swing mit Volksmusik und Free-Jazz mit Musik von Hanns Eisler und Kurt Weill vermischt. Es wagte einen musikalischen Ausbruch aus Enge und Zwängen. Es brachte scheinbare Widersprüche zusammen und verwirklichte das, was Wolf Biermann im Rückgriff auf die Wurzeln des Begriffs Konzert auch auf seine eigene Musik bezogen beschrieb: „Konzert, also lateinisch concertare, bedeutet ja zusammenwirken, übereinstimmen. Aber auch genau das Gegenteil: con – zusammen, certare – streiten, bedeutet also auch wetteifern, sich streiten.“

Dem Zentralquartett gelang es also, so etwas wie demokratische Streitkultur zu intonieren, Freiheit und Weltoffenheit ebenso wie Lebenslust hörbar zu machen. Auf diese Weise haben das Ensemble und eine ganze Reihe befreundeter Musiker Jazzgeschichte geschrieben. Auch Kenner weit jenseits der DDR-Grenze wussten ostdeutschen Jazz sehr zu schätzen.

Lieber Wolf Biermann, es wundert uns nicht, dass Sie mit solchen Künstlern befreundet sind. Und es verwundert auch nicht, dass das Konzert hier im Berliner Ensemble stattfindet. Hier hat Wolf Biermann 1957 als Regieassistent angefangen und Bühnenluft geschnuppert. Hier verliefen die Verbindungslinien zu Bertolt Brecht, der ein Jahr zuvor gestorben war, und Hanns Eisler, der Wolf Biermann in seinem Wirken immer wieder bestärkte. Und von da an gab es kein Halten mehr. Wolf Biermann begann, Gedichte und Lieder zu schreiben und sie auch selbst vorzutragen. Was aus ihm wurde, das wissen wir alle: einer der größten Dichter und Liedermacher unserer Zeit.

In der Tat, der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Und er ließ sich auch leicht an der Anerkennung nach typischer DDR-Manier ablesen: am vollständigen Publikations- und Auftrittsverbot. Das aber machte Wolf Biermann erst richtig bekannt. Die Lieder erreichten unzählige Hörer, die feststellten: Da traut sich jemand was; da sagt jemand, was andere nur insgeheim denken; da gibt es jemanden, der mit deutlichen Worten das auf den Punkt bringt, woran das ganze System krankt. Es waren die Enge, das Eingrenzen des Gestaltungsdrangs, das ewige Besserwissen der Funktionäre, das Bevormunden der Bürgerinnen und Bürger, das Gängeln, Überwachen, Drangsalieren und für viele auch das Wegsperren. Als Provokateur galt schon, wer die Zeile des russischen Liedermachers Alexander Galitsch zu seinem Programm machte: „Ich wähle die Freiheit, einfach ich selbst zu sein.“ – Das war schon zu viel.

Einige, die bittere Erfahrungen machen mussten, gingen und verließen ihre Heimat. Manche wurden rausgeworfen. Dafür steht der Name Wolf Biermann wie kaum ein zweiter. Die SED-Führung wollte ihn einfach weghaben. Doch dadurch wurde er nur noch präsenter. Wolf Biermann hat den längeren Atem bewiesen. Er hat die „verdorbenen Greise“, wie er die Machthaber der DDR nannte und nennt, in den intellektuellen Bankrott gezwungen. Die Ausweisung war nichts anderes als genau das.

Wolf Biermann hat Heinrich Heine als Vorbild und Bruder im Geiste zu schätzen gelernt. In einem Sammelband mit Heines Gedichten, verlegt im DDR-Aufbauverlag der 70er Jahre, findet sich ein Werk mit dem Titel „Warnung“. Die erste Strophe lautet:
„Solche Bücher lässt du drucken!
Teurer Freund, du bist verloren!
Willst du Geld und Ehre haben,
Musst du dich gehörig ducken.“

Dass dies vielleicht doch nicht sein muss, hat Heinrich Heine im Folgenden auf den Punkt gebracht, indem das Gedicht mit der Beobachtung endet, dass das Volk „lange Ohren“ habe. Die Warnung Heines wechselte also sehr gewitzt ihren Adressaten. Ob die DDR-Zensur das volle Potenzial von Heines Gedicht erkannt hat, mag dahingestellt sein. – Offensichtlich nicht. Heute wissen wir aber, dass die Ohren des Volkes länger sein können als der Arm der Staatsmacht. Dies hat sich nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann gezeigt. Es hat sich immer wieder gezeigt, wenn das Regime versuchte, jeden Anflug von Kritik im Keim zu ersticken. Und so hat es sich letztlich selbst überlebt. Der Drang nach Freiheit brach sich Bahn. Nicht weniger als das wollen wir heute feiern, gerade auch hier mit diesen Künstlern. Ich freue mich, dass ich dabei sein kann. Herzlichen Dank.