Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Festakt zum 125. Geburtstag von Walter Eucken am 13. Januar 2016

  • Bundeskanzler ⏐ Startseite
  • Olaf Scholz

  • Aktuelles

  • Kanzleramt

  • Mediathek 

  • Service

Sehr geehrte Frau Marianne Eucken und
Herr Christoph Eucken,
sehr geehrter Herr Professor Feld,
Magnifizenz, sehr geehrter Herr Professor Schiewer,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Salomon,
werte Festversammlung,
meine Damen und Herren,

ich möchte mich sehr herzlich für die Einladung bedanken und habe mich sehr gerne auf den Weg hierher gemacht.

Aber bevor ich zum Anlass unseres heutigen Zusammenseins komme, möchte ich doch noch einige Worte über das verlieren, was uns alle gestern mit Schrecken erfüllt hat. Wir alle stehen noch unter dem Eindruck des schrecklichen Selbstmordattentats, das gestern im Herzen Istanbuls – wie wir inzwischen wissen – mindestens zehn Deutsche in den Tod gerissen hat. Ich trauere wie Sie um unsere Landsleute. Wir denken voller Anteilnahme an die Familien, denen mit dem Verlust eines geliebten Menschen so unermesslich viel Leid zugefügt worden ist. Wir denken genauso an die Verletzten, an ihren Schmerz und ihr Leid. Und wir hoffen, dass sie körperlich, aber auch seelisch wieder genesen mögen.

Das, was wir gestern wieder gesehen haben und was an so vielen Stellen der Welt passiert, ist der internationale Terrorismus. Das Ziel des internationalen Terrorismus ist, unser freies Leben in freien Gesellschaften anzugreifen. Aber wir sind überzeugt: Unser freiheitliches Leben ist stärker als jeder Terror. Unsere Entschlossenheit, gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnern gegen Terror vorzugehen, und unsere Freiheit werden sich gegen Terrorismus durchsetzen. Davon bin ich überzeugt.

Meine Damen und Herren, der Gedanke der Freiheit führt uns aber auch zu dem, wozu wir heute in Freiburg zusammengekommen sind. Diese Stadt steht für die wohl wichtigste Wirkungsstätte Walter Euckens. Wie schon gesagt wurde: In wenigen Tagen jährt sich sein Geburtstag zum 125. Mal. Wir gedenken eines überzeugten und überzeugenden Ordnungsökonomen, eines Wegbereiters der Sozialen Marktwirtschaft. Wir gedenken eines mutigen Freiheitskämpfers und großen Menschenfreunds. Das ist auch der Grund, warum ich wirklich sehr gerne hierhergekommen bin.

Walter Eucken war bereits an der Universität Freiburg tätig, als die große Wirtschaftskrise der 20er und 30er Jahre über die Welt hereinbrach. Als junger Professor wollte er ihren Ursachen auf den Grund gehen. Ihn trieb dabei nicht nur sein wissenschaftlicher Ehrgeiz an. Vor allem nahm er Anteil an den Schicksalen der vielen Menschen, die die Krise und die Hyperinflation in Arbeitslosigkeit und Not getrieben hatten. Als wesentliche Ursachen dieser wirtschaftlichen Katastrophe machte Walter Eucken eine Monopolisierung und Vermachtung – also starke Konzentration bzw. Kartelle – in Wirtschaft und Gesellschaft aus.

In der Tat bestimmten nach dem Ersten Weltkrieg auf der einen Seite Kartelle das Wirtschaftsgeschehen in Deutschland. So kontrollierte zum Beispiel das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat 1925 über drei Viertel der deutschen Steinkohleproduktion. Auf der anderen Seite griff der Staat in der Weimarer Republik immer stärker in die Wirtschaftsprozesse ein. Er versuchte diese einzelfallorientiert über konjunkturpolitische Maßnahmen zu steuern. Aber er versagte dabei, die Wirtschaft mit allgemeinen Regeln zu ordnen.

Indem Walter Eucken an diesem Problem ansetzte, ging er zusammen mit seinen Freiburger Kollegen einen akademischen Sonderweg. Das war typisch für ihn. Er wandelte abseits der eingefahrenen Wege, ohne sich aber von Verfechtern extremer Positionen einnehmen zu lassen. Als in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer mehr Menschen den Versprechungen des Nationalsozialismus folgten, suchte Walter Eucken nach einem freiheitlichen Weg. Er suchte nach einer Ordnung, die eine überbordende wirtschaftliche wie auch staatliche Macht beschränkte. Es war für ihn wichtig, beides gleichermaßen in den Blick zu nehmen: wirtschaftliche und staatliche Macht. Denn für ihn kam nicht jedes Mittel in Betracht, um Kartellen und Monopolen einen Riegel vorzuschieben. Er vertrat die Ansicht, dass – ich zitiere ihn – „eine Politik zentraler Wirtschaftslenkung oder der Verstaatlichung das Problem der ökonomischen Macht nicht löst.“

Mit einer solchen Haltung widersprach und widerstand Eucken dem damaligen Zeitgeist. Er beschrieb die wirtschaftliche Wirklichkeit mit klaren, verständlichen Worten ohne Rücksicht auf politische Stimmungen – und das auch in Zeiten totalitärer Herrschaft, indem er zum Beispiel schrieb – ich zitiere ihn nochmals –: „Die Wirtschaftsordnung, wie sie heute in Deutschland vorhanden ist, wird nicht weiterbestehen. Ihr totaler Umbau wird notwendig sein.“ Das brachte Walter Eucken 1942 zu Papier. Wir sind uns alle einig: Es brauchte Mut, um solche Kritik zu dieser Zeit zu äußern.

Auch nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg waren Euckens Ideen kaum weniger verwegen. Als er seine Ordnung der Freiheit beschrieb, konnten viele mit einem solchen Freiheitsverständnis wenig anfangen. Eine freie Wirtschaftsordnung schien vielen Deutschen zu gewagt und zu anspruchsvoll in der angespannten und von Mangel geprägten Nachkriegssituation zu sein. Doch Eucken blieb seinen Überzeugungen treu. Denn er sah die Gefahr, dass eine interventionistische Wirtschaftspolitik durch einen allzu mächtigen Staat zu weniger Freiheit führen würde. Er sah auch die Gefahr, dass fehlender Wettbewerb zu mehr privater Macht führen würde. Im Ergebnis würde die Freiheit des Einzelnen also doppelt bedroht: durch private Macht und zu viel staatliche Macht.

Mit seinem ordnungspolitischen Konzept trat Eucken diesen Gefahren entgegen. Es sah staatliche Eingriffe nur in bestimmten Fällen von Marktversagen vor. Grundsätzlich aber sollte Politik nicht steuernd in die Wirtschaftsprozesse eingreifen, sondern die Wirtschaftsordnung gestalten. Das heißt im Einzelnen: Konkurrenz bzw. Wettbewerb ermöglichen, für ein funktionierendes Preissystem und Geldwertstabilität sorgen, offene Märkte schaffen, Privateigentum und Vertragsfreiheit garantieren, Haftung durchsetzen und durch eine verlässliche Politik Verunsicherung vermeiden.

Walter Eucken erkannte auch die soziale Kraft, die in einer freien und fairen Wettbewerbsordnung liegt. Statt Privilegien für wenige eröffnet ein funktionierender Wettbewerb Chancen für alle. In diesem Sinne bilden seine ordoliberalen Prinzipien die Grundlage, um Wachstum und soziale Gerechtigkeit zu vereinen.

Doch selbst die beste Idee trägt nur dann Früchte, wenn sie sich auch in die Tat umsetzen lässt. Man kann vielleicht sagen, dass es ein Glücksfall der deutschen Geschichte war, dass die richtigen Grundsätze Euckens nach dem Zweiten Weltkrieg auf den richtigen Politiker trafen, nämlich auf Ludwig Erhard. Das von Eucken skizzierte Wirtschaftsmodell erwies sich auch in der Praxis als feste Stütze, als die Bundesrepublik noch in den Kinderschuhen steckte.

Ludwig Erhard hatte allerdings auch sehr spannende Auseinandersetzungen mit den Alliierten, als er sozusagen in Zeiten der Rationierung auf die geniale Idee kam, die Preise freizugeben und damit Knappheitssignale zu senden, um wirtschaftliche Initiativen in Gang zu setzen. Diese Grundsatzentscheidung, aus einer Verteilungs- und Rationierungswirtschaft heraus eine Kehrtwende zu machen und auf freiheitliche Aktivitäten zu setzen, erwies sich als wegweisender Paradigmenwechsel. Das Wunder geschah: Die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft ließen nicht lange auf sich warten. Die Warenregale füllten sich, der Wirtschaftskreislauf kam in Schwung und das deutsche Wirtschaftswunder, wie wir es heute nennen, nahm seinen Lauf.

Mehr noch: Die Soziale Marktwirtschaft sollte sich über Jahrzehnte hinweg bewähren – wenngleich es auch schon zu Beginn beträchtliche Kämpfe gab, was insbesondere die Gestaltung der Sozialsysteme betraf. Auch heute ist sie der beste Rahmen für unsere Volkswirtschaft, der es – Professor Feld hat es auch gesagt – gerade auch im internationalen Vergleich im Augenblick gut geht. Wir sind auf solidem Wachstumskurs. Das sorgt auf dem Arbeitsmarkt für anhaltenden Schwung. Die Arbeitslosenquote ist so gering wie nie seit der Wiedervereinigung. Die Erwerbstätigkeit bricht einen Rekord nach dem anderen. Das ist gut für die Betroffenen, gut für die Binnennachfrage und natürlich auch gut für die sozialen Sicherungssysteme. Wir können – ohne allzu gut in die Zukunft sehen zu können – auch für das Jahr 2016 von einer ähnlichen Entwicklung ausgehen.

Wir sind natürlich in einer Zeit des Umbruchs. Das, was heute unser Denken prägen muss, ist die Tatsache, dass sich die Aktionsräume verändert haben. Es werden zwar weiterhin Entscheidungen in der nationalen Politik gefällt, aber vieles muss europäisch gedacht werden und vieles auch global. Dazu gehört, dass wir internationale Zusammenarbeit hoch schätzen und als Deutsche unseren Beitrag auch zur Bewältigung globaler Herausforderungen leisten; ich will beispielsweise den Klimaschutz nennen, nachhaltige Entwicklung, Konfliktbewältigung, Sicherheit und Stabilität – ich habe ja bereits auf die Gefahren des internationalen Terrorismus hingewiesen.

Wir spüren, dass sich Globalisierung bei uns in Deutschland nicht mehr nur von der Seite zeigt, die wir bislang kannten: Große und mittlere deutsche Unternehmen schwärmen aus in Schwellen- und Entwicklungsländer, gründen dort Unternehmen, machen gute Geschäfte und sichern damit auch Arbeitsplätze in Deutschland. Nun erleben wir, wie Wolfgang Schäuble so schön sagte, ein anderes „Rendezvous mit der Globalisierung“; und zwar in Form des Zustroms von Flüchtlingen.

Weltweit sind wir mobiler geworden, profitieren von den Segnungen der Digitalisierung, haben Smartphones und wissen daher, wie es Menschen anderswo auf der Welt geht. Deshalb muss unser politischer Aktionsraum heute weit über unsere nationalen und auch über die europäischen Grenzen hinausgehen, wenn unsere freiheitlichen Wertvorstellungen – auch vom Wesen des Menschen – Gültigkeit haben sollen. Wir befinden uns mit Blick auf unsere eigenen Werte – von denen ich einmal annehme, dass wir sie nicht auf uns allein beziehen, sondern dass sie für alle Menschen gelten – also in einer Zeit unglaublicher Herausforderungen.

In diesem Zusammenhang möchte ich einen Punkt noch kurz ansprechen. Ich kann hier jetzt keine Lektion über Flüchtlinge halten, ich will nur sagen: Ich glaube zutiefst, dass wir bei den Fluchtursachen ansetzen müssen und dass wir die Lebensbedingungen der Menschen verbessern müssen. Das können wir als Deutsche nicht allein. Wir können selbstverständlich auch nicht alle Menschen aufnehmen, die in einer schlechteren Lebenssituation sind als wir. Aber wir werden dafür Sorge tragen müssen, dass wir unserer Verantwortung nicht nur durch Aufnahme von Flüchtlingen gerecht werden, sondern vor allem auch durch unser Eintreten für die Bekämpfung von Fluchtursachen und für die Schaffung von Bedingungen, unter denen Menschen in ihrer Heimat den Eindruck haben, dass sie auch dort gute Lebenschancen haben. Das ist eine Jahrhundertaufgabe, aber in einer offenen Wirtschaft, in einer Zeit der Digitalisierung werden wir uns um diese Aufgabe nicht weiter herumdrücken dürfen. Die Aufgabenlösung kann natürlich nicht so bewerkstelligt werden, dass Flucht im Wesentlichen auf illegalen Wegen stattfindet. Vielmehr müssen wir legale Wege des Austauschs finden. Auch darum geht es bei dem Projekt, das wir zu bewältigen haben.

Ein letzter Satz dazu, Herr Oberbürgermeister Salomon. Ja, ich bin auch der Meinung: Ein Land wie Syrien liegt nicht unendlich weit weg von Deutschland; es liegt jedenfalls näher an Europa als zum Beispiel an Australien. Wenn es in einem solchen Land sieben bis acht Millionen Binnenflüchtlinge gibt und fünf Millionen das Land verlassen haben, wenn wie in Jordanien – die jordanische Königin Rania war heute bei mir zu Besuch – 1,5 Millionen Syrer und insgesamt drei Millionen Flüchtlinge in einem Land von sieben Millionen Einwohnern leben, wenn im Libanon 1,5 Millionen Flüchtlinge bei fünf Millionen Einwohnern leben, wenn in der Türkei über zwei Millionen Flüchtlinge bei 75 Millionen Einwohnern leben, gleichzeitig aber ein Kontinent wie Europa mit 500 Millionen Einwohnern nicht in der Lage ist – temporär vielleicht nur –, zum Beispiel eine Million Syrer aufzunehmen, dann ist das nicht in Ordnung und mit unseren Wertvorstellungen nicht zusammenzubringen. Damit sage ich nicht, dass diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, unser Land nicht auch wieder verlassen müssen – wir haben rechtsstaatliche Verfahren. Aber ich will auf etwas anderes hinaus.

Was bedeutet diese Herausforderung jetzt auch für uns in Europa? Wir haben nicht nur einen deutschen Binnenmarkt, sondern wir haben auch einen europäischen Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung. Die Marktdefinition spielt ja in der Frage „Wie wende ich die ordnungspolitischen Vorstellungen von Walter Eucken an?“ eine sehr spannende Rolle – ich komme nachher noch einmal darauf zurück. Wenn unsere Marktdefinition jetzt erst einmal auf einen europäischen Binnenmarkt und auf eine einheitliche Währung in weiten Teilen dieses europäischen Binnenmarkts abstellt, dann, muss ich sagen, ist es relativ naiv zu glauben, wir könnten einfach wieder zum alten Grenzkontrollregime zurückkehren und bräuchten den Schengen-Raum nicht als Element des gemeinsamen Binnenmarkts. Der Verweis, dass wir vor 20 oder 25 Jahren ja auch schon mit Grenzkontrollen in Europa gelebt haben, greift zu kurz, weil er weder von einer einheitlichen Währung noch von der heutigen Verflechtung wirtschaftlicher Tätigkeiten ausgeht – Sie wissen das hier in Baden-Württemberg ebenso wie andere in grenznahen Regionen. Deshalb lohnt es sich, sehr intensiv für die Beibehaltung der Freizügigkeit innerhalb der europäischen Grenzen zu kämpfen. Bei einem Teil der Suche nach einer europäischen Lösung der Flüchtlingsfrage geht es heute, wenn wir eben auch wirtschaftliche Aspekte einbeziehen, also genau um die Frage des Binnenmarkts, um die Frage der gemeinsamen Währung und um die notwendigen Bedingungen, um beides auch wirklich zur Wirkung kommen zu lassen.

Nun ist es unsere Aufgabe – ich will einmal nicht so viel über nationale Politik sprechen –, ordnungspolitische Grundsätze in Zeiten der Globalisierung zu verankern. Das macht ja auch eine große Diskussion aus. Ich will beginnen bei der internationalen Finanzkrise, die wir in den Jahren 2008/2009 zu bewältigen hatten. Dadurch, dass Finanzmärkte die Möglichkeiten der Globalisierung sehr schnell aufgenommen haben, waren Finanzmärkte sozusagen Vorreiter einer weiteren Globalisierung, die sich derzeit durch die Digitalisierung der Realwirtschaft weiterentwickeln wird. Auf den Finanzmärkten ist ein wesentlicher ordnungspolitischer Grundsatz völlig außer Kontrolle geraten, nämlich das Haftungsprinzip. „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“ – das schrieb Walter Eucken schon vor Jahrzehnten. Doch in der Finanzkrise 2008/2009 blieb der Schaden in vielen Fällen bei den Steuerzahlern hängen – zum allergrößten Teil auch noch bei den Steuerzahlern, die den Schaden gar nicht angerichtet hatten. Handeln und Verantwortung, Gewinnchancen und Haftungsrisiken fielen zu oft auseinander. Wenn das des Öfteren passiert, dann ist sozusagen ein Generalangriff auf die Politik zu erwarten. Politiker müssen dafür Sorge tragen bzw. alles dafür tun, dass das Haftungsprinzip möglichst gut eingelöst wird. Ansonsten wird das Gerechtigkeitsempfinden zutiefst gestört.

Wir bemühen uns, aus den Fehlentwicklungen zu lernen. Das Zustandekommen des Formats der G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs wäre ohne diese Fehlentwicklungen gar nicht denkbar gewesen. Wir bemühen uns, allgemeine Regeln zu entwickeln. Wir müssen Vorsorge treffen. Der Ansatz „too big to fail“ im Zusammenhang mit Banken – also wer zu groß ist, darf nicht untergehen und wird um jeden Preis vom Steuerzahler gerettet – darf nicht Triumphe feiern. Wir spüren aber auch, wie schwierig das ist. Wir haben für systemrelevante Banken internationale Finanzregeln gefunden. Es wird immer wieder versucht, das sogenannte „level playing field“ zu verschieben und auf jeder Seite kleine Vorteile herauszuholen. Ich würde einmal sagen: Die Marktmacht bestimmter Institutionen ist auch heute noch eine gewisse definitorische Macht. Aber insgesamt haben wir durch viel bessere Eigenkapitalvorsorge und auch strengere staatliche Kontrollen, durch Abwicklungspläne und vieles andere mehr, das für systemische Banken gilt, Verbesserungen erreicht. Sorgenkinder sind für mich aber nach wie vor die sogenannten Schattenbanken, deren Regulierung noch nicht so weit gediehen ist wie bei den klassischen Banken.

Unmittelbar nach der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise kam es – im Grunde als Reaktion darauf – sozusagen zu einem Stresstest für das Euro-System und zu dem, das auch als Euro-Krise bezeichnet wurde. Wieder stand die Frage einer Krisenlösung im Raum. Im Grunde ist die Krise entstanden, weil die Grundsätze des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht ausreichend eingehalten worden waren, auch weil die Hoffnung bestand, dass sozusagen eigene Risiken, die ein Staat eingeht, eines Tages vielleicht von der Gemeinschaft insgesamt getragen würden, und weil auf den Finanzmärkten die Grundstruktur des Systems – wer tritt denn nun für wen ein, wer haftet denn nun für wen? – getestet wurde.

So haben wir dann über viele Monate hinweg Diskussionen geführt: Warum keine Euro-Bonds; warum einerseits Solidarität, um das Finanzsystem zusammenzuhalten, aber auf der anderen Seite eigene Anstrengungen? Wir haben gesehen: Die meisten Länder sind inzwischen aus den Hilfsprogrammen herausgekommen. Griechenland ist noch im Programm drin. Aber insgesamt, würde ich sagen, hat sich der Ansatz durchaus bewährt. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, dann würde mit einer Vergemeinschaftung aller Risiken, ohne den Unterbau dazu zu haben, ohne sozusagen eine europäische Verantwortlichkeit für nationale Haushaltspolitik und für nationale Sozialpolitik zu haben, das alles wieder so auseinanderfallen, dass nach Walter Eucken völlig klar ist, dass daraus nichts Vernünftiges und nichts Gutes werden kann.

Die Deutschen sind ja manchmal auch sehr kritisiert worden wegen ihrer Regelbewusstheit. Manch einer hat uns vielleicht sogar Besessenheit unterstellt. Aber ein gewisser Rahmen, ein gewisses Ordnungsprinzip, vor allen Dingen auch Haftungsnotwendigkeit, also Einstehen für die Risiken, sind aus meiner Überzeugung absolut notwendig. Ohne dieses Grundprinzip von Walter Eucken hätte man diesen Pfad gar nicht gefunden – wenngleich er in der Praxis auch immer nur mit endlicher Präzision gegangen wird; da bleiben immer noch genügend Abweichungen für diejenigen, die etwas kritisieren wollen. Wir müssen uns jedenfalls auf gemeinsame Absprachen und Verpflichtungen verlassen können; das gilt national, das gilt europäisch.

Verlässlichkeit, Vertrauen – das spielt im Übrigen in der Konzeption von Eucken generell eine zentrale Rolle. Denken wir an das Ziel der Geldwertstabilität: Die Menschen sollten darauf vertrauen können, dass ihr Eigentum nicht zu sehr an Wert verliert. Oder denken wir an den Schutz des Privateigentums und an die Freiheit, Verträge abschließen zu können: Das Vertrauen darauf ist nach Walter Eucken eine grundlegende Voraussetzung für eine funktionsfähige Wettbewerbswirtschaft. Und Vertrauen seinerseits hängt wesentlich von der Befolgung des Euckenschen Prinzips einer konstanten Wirtschaftspolitik ab. Das sagt sich leicht, aber in Demokratien mit regelmäßigen Regierungswechseln, neuen Koalitionsbildungen und verschiedenen Interessen ist das durchaus eine Herausforderung. Naturgemäß gerät die theoretisch-ökonomische Wissenschaft mit der realen Politik in ein gewisses Spannungsfeld; das bleibt nicht aus. Ich glaube aber, dass es in der Bundesrepublik Deutschland über die Jahrzehnte hinweg im Großen und Ganzen immer wieder gelungen ist, sich auf bestimmte Prinzipien zurückzubesinnen. Dass wir mit Euckenscher Ordnungspolitik einen roten Faden haben, bietet, glaube ich, durchaus eine große Sicherheit.

Walter Eucken ging es immer um Verlässlichkeit, Kalkulierbarkeit und Planungssicherheit. Das bedeutet aber nicht, im Althergebrachten zu erstarren. Es geht vielmehr um einen verlässlichen Kompass, mit dem man auch neue Herausforderungen bewältigen kann. Das heißt, diesen Kompass kann ich auf den nationalen Markt, auf den europäischen Markt und auf den globalen Markt anwenden. Damit bin ich auch beim Prinzip der offenen Märkte. In Europa sehen wir, dass wir in einer Zeit der Globalisierung die Binnenmarktpotenziale noch besser erschließen müssen.

Wir brauchen zum Beispiel eine Kapitalmarktunion. Es ist ja ein interessanter Befund, dass in einem europäischen Binnenmarkt, in dem viele Mitgliedstaaten dieselbe Währung haben, die Kapitalmärkte im Grunde weiter separiert sind und es kaum grenzüberschreitende Kreditvergaben gibt. Das wird sich auch nur dann wirklich ändern, wenn die Risikoverteilung in den einzelnen Segmenten des Euro-Markts ähnlich verlässlich geregelt ist.

Wir brauchen eine Energieunion, die europaweite Versorgungssicherheit gewährleistet. Mit den Pyrenäen haben wir quasi eine geografische Grenze, an der es noch heute kaum Interkonnektion zwischen den Energiesystemen der Iberischen Halbinsel und dem anderen Teil des Kontinents gibt.

Wir brauchen einen digitalen Binnenmarkt, der die Attraktivität des Standorts Europa für digitale Akteure erhöht. In der Frage, wie wir diesen digitalen Binnenmarkt gestalten sollen, haben wir im Augenblick mit die langwierigsten Auseinandersetzungen. Es ist den Justiz- und Innenministern jetzt nach langen Diskussionen gelungen, mit dem Europäischen Parlament einen einheitlichen europäischen Datenschutz zu vereinbaren. Ob er genügend Freiheit für das Big Data Management zulässt, wird sich zeigen. Angesichts der Tatsache, dass der Rohstoff des 21. Jahrhunderts Daten sein werden, sind wir mit Sicherheit eher am unteren Ende dessen, was ich für notwendig halte.

Natürlich geht es auch darum, dass sich Europa in ein freies weltweites Handelssystem einbringt. Ein klassisches Beispiel für große Diskussionen ist das geplante transatlantische Handels- und Investitionsabkommen. Interessant ist die Frage, warum es so hart umkämpft ist. Ich glaube, es ist deshalb so hart umkämpft, weil dieses Abkommen mehr regeln soll als nur den Abbau von Zöllen. Es beinhaltet vielmehr auch Regelungen von sozialen und Verbraucherschutzstandards, also von sogenannten nichttarifären Handelshemmnissen. Damit ist ein sehr interessanter Prozess verbunden, weil man natürlich – aber das fordert die Soziale Marktwirtschaft von uns – sagen muss, wie man Barrieren abbauen will, ohne sein eigenes Schutzniveau abzusenken.

Mich persönlich bedrückt es, dass gerade dieses Freihandelsabkommen zwischen den größten freiheitlichen Binnenmärkten, die es auf der Welt gibt, so umkämpft ist. Denn wenn es uns gelingen sollte, Regelungen von nichttarifären Hemmnissen – die also Verbraucher-, Umwelt- und andere Schutzbereiche betreffen – in klassische Freihandelsabkommen mit einzuführen, dann hätten wir natürlich eine unglaubliche definitorische Macht für gerechtere Abkommen auf der Welt. Denn ein einfaches Zollabbau-Freihandelsabkommen ist eigentlich noch kein gerechtes Abkommen, wenn dann sozusagen um Löhne und Umweltstandards konkurriert wird. Insofern ist ein größer angelegtes Abkommen sehr viel wertvoller und könnte Maßstäbe für viele andere setzen. Deshalb werde ich mich auch weiter dafür einsetzen.

Noch einmal zu einem Thema, das mich sehr beschäftigt – ohne dass ich das immer in den richtigen ökonomischen Termini ausdrücken könnte –: Welche Marktdefinition setze ich für einen fairen Wettbewerb an? Darüber gibt es eine große Auseinandersetzung in der Europäischen Union. Die Frage ist: Wie muss ich in der Globalisierung handeln, wenn ich auf der Welt sozusagen Marktmächte habe – zum Beispiel zwei oder drei große Telekommunikationsunternehmen in einem Land wie China mit über 1,3 Milliarden Menschen –, und wie definiere ich „Markt“ innerhalb der Europäischen Union, wo wir mehr als 20 Telekommunikationsunternehmen haben und trotzdem bei jeder europäischen Fusion Angst haben müssen, dass dadurch eine beherrschende Marktmacht definiert wird?

Das heißt, der Raum, in dem ich sozusagen meine Marktdefinition ansetze, ist von allergrößter Bedeutung. Man weiß ja auch aus anderen Wissenschaften, dass das Randsystem die Resultate verändern kann. Ich fürchte – und darüber würde ich mich gerne einmal mit Walter Eucken unterhalten, wenn er denn noch lebte –, dass unsere Marktdefinition zu eng gefasst ist und in der Globalisierung selbst die europäische Marktdefinition nicht ausreicht, um für den weltweiten Wettbewerb die richtigen Strukturen zu schaffen.

Wenn man an anderen Stellen die Euckenschen Prinzipien nicht genauso einsetzen kann wie bei uns – denn wir können ja die amerikanischen und sonstigen Märkte nicht definieren –, dann müssen wir uns aufgrund der Interdependenzen in der Globalisierung an einigen Stellen vielleicht noch mehr auf eine globale Perspektive einstellen. – Aber es muss ja auch noch etwas für das Walter Eucken Institut übrigbleiben, womit es sich beschäftigen kann. – Darauf würde ich jedenfalls gerne einmal verstärkte Forschungsanstrengungen lenken.

Ich bin also fest davon überzeugt, meine Damen und Herren: Die ordoliberalen Grundsätze der Freiburger Schule haben nichts an Aktualität und Bedeutung verloren. Das Haftungsprinzip, ein funktionierendes Preissystem, Währungsstabilität, Schutz von Privateigentum und Vertragsfreiheit, offene Märkte und die Konstanz der Wirtschaftspolitik – diese Prinzipien sind und bleiben Erfolgsfaktoren für, wie Eucken es ausdrückte, „eine funktionsfähige und menschenwürdige Wirtschaftsordnung“. Es wäre auch spannend zu wissen, wie Walter Eucken auf disruptive technologische Innovationen reagiert hätte. Wie schaffe ich ein Breitband-Infrastruktursystem, das nicht unter die Daseinsvorsorge fällt, also nicht mehr einfach vom Staat investiert wird; wie oft darf ich da subventionieren und wo darf ich da subventionieren, sodass sich faire Wettbewerbsbedingungen ergeben? – Also Fragen über Fragen.

Vieles, was heute aktuell ist, baut auf der Arbeit großer ökonomischer Vordenker auf, unter denen Walter Eucken zweifellos eine ganz besondere Rolle einnimmt. Seine ordnungspolitischen Grundsätze helfen immer wieder, den Blick für das Ganze nicht zu verlieren. Sie sind verständlich und geben Orientierung. Das ungebrochene Interesse an der Arbeit von Walter Eucken und an der Freiburger Schule ist daher nicht verwunderlich. Das ist vor allem auch dem Walter Eucken Institut zu verdanken, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Erbe seines Namensgebers zu bewahren und seine Vorstellungen der Ordnungspolitik in die heutige Zeit zu übersetzen.

Walter Euckens Frau, Edith Eucken-Erdsiek, schrieb nach seinem Tod: „Ich bin zufrieden, wenn Walter Euckens Gedanken zu weiteren Überlegungen und zu neuer Untersuchung der Wirklichkeit anregen und wenn sie so im Laufe der Jahre und Jahrzehnte wirken.“ Ja, wir könnten Walter Euckens Andenken kaum besser in Ehren halten, als diesem Wunsch seiner Frau gerecht zu werden.

Vielen Dank.