Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Arbeitgebertag am 22. November 2018 in Berlin

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Sehr geehrter Herr Kramer,
sehr geehrter Herr Ehrenpräsident, lieber Herr Hundt,
sehr geehrter, lieber Steffen Kampeter,
meine Damen und Herren,

ich bin heute sehr gern wieder bei Ihnen mit dabei. Sie feiern ja im Grunde zwei Jubiläen. Zum 20. Mal tagt der Deutsche Arbeitgebertag. Er ist zu einer der wichtigsten wirtschafts- und sozialpolitischen Veranstaltungen hierzulande geworden. Zu dem anderen Jubiläum können wir uns alle gratulieren – Sie haben es auch schon angedeutet –: Vor 100 Jahren ist nicht nur die Republik ausgerufen worden; bald danach entstand auch die Sozialpartnerschaft – wenige Tage nach Ende des Ersten Weltkriegs in einer sehr unsicheren wirtschaftlichen Situation –, als sich am 15. November 1918 Arbeitgeber und Gewerkschaften auf das Stinnes-Legien-Abkommen einigten.

Das war ein Meilenstein; und ich stimme Ihnen zu: ein Meilenstein auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Es verhinderte damals die Vergesellschaftung privater Produktionsmittel; die Novemberrevolution war ja erst einmal vergleichsweise links ausgerichtet. Deshalb war es wichtig, die Gewerkschaften als gleichberechtigte Vertragspartner der Arbeitgeber anzuerkennen. Es wurden Schlichtungsverfahren eingeführt, um Tarifstreitigkeiten zu lösen. Die Tarifautonomie wurde vereinbart. Sie wurde ja dann später in der Bundesrepublik Deutschland auch im Grundgesetz verankert. Sie ermöglichte den Sozialpartnern, Arbeitsbedingungen eigenständig und ohne staatliche Interventionen zu vereinbaren. Das heißt also: Das Stinnes-Legien-Abkommen schaffte eine völlig neue, bis dahin nicht bekannte Partnerschaft.

Ich persönlich bin der Meinung, dass die Tarifautonomie auch auf Dauer zu den Kernelementen der Sozialen Marktwirtschaft gehört. Aber dazu gehört natürlich auch, dass dieses Kernelement weiter sichtbar bleibt. Wenn heute nur noch knapp 30 Prozent der Betriebe unmittelbar an einen Tarifvertrag gebunden sind, dann ist das eine rückläufige und eine auch schon, wie ich finde, bedrohliche Situation. Sie, Herr Kramer, haben darüber gesprochen, woran das liegt und wer seinen Beitrag dazu leistet; und ich kann darüber auch sehr viel erzählen. Gerade auch in der Zeit nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit hat es im Bereich des Metallgewerbes Entwicklungen gegeben, die diesen Prozess sicherlich beschleunigt haben. Tatsache ist jedenfalls: Wenn dieser Anteil nicht wieder steigt, sondern weiter sinkt – und wenn Tarifautonomie hundertmal im Grundgesetz verbürgt wäre; und wenn wir noch so oft sagen, das sei ein Kernelement der Sozialen Marktwirtschaft –, dann wird das im realen Leben dazu führen, dass der Druck auf die Politik immer größer wird. Das ist im Grunde dann ein Druck, der gar nicht mehr durch Vereinigungen gebündelt ist, sondern ein individueller Druck, bei dem die Gefahr besteht, dass sich dann immer nur der Stärkere durchsetzt und dass nicht das gesellschaftliche Wohl insgesamt im Auge behalten werden kann.

Deshalb freut es mich, dass Sie gesagt haben: Wir wollen Gespräche aufnehmen, um gemeinsam mit den Gewerkschaften zu erörtern, wie wir es erreichen können – durch welche Instrumente auch immer –, die Tarifbindung wieder attraktiver zu machen. Wir beide, Herr Kramer und ich, haben darüber schon viel gesprochen. Ich glaube, angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung, auf die ich später noch zurückkommen werde, und auch vieler Unternehmensgründungen mit teils ganz neuen Strukturen wird es nicht trivial sein, die Tarifbindung wieder zu erhöhen.

Was natürlich auch wichtig ist, ist, dass man sozusagen auch alle Teile des gewerkschaftlichen Daseins im Auge behält. Denn die klassische deutsche Industrie hat sich ihre Tarifbindung zum Teil sozusagen auch dadurch erhalten, dass man alles, was nicht direkt mit dem industriellen Wertschöpfungsprozess zu tun hatte, outgesourct und anderen Bereichen überlassen hat. Wenn man sozusagen als Gewerkschaftschef Dienstleistungen zu verantworten hat, dann sieht man, dass es in Deutschland durchaus sehr unterschiedliche Lebenssituationen gibt – einerseits im Automobilbau, im Maschinenbau oder in Chemieunternehmen der klassischen Art und andererseits, wenn man sich ansieht, wie der Kantinenbetrieb, der Reinigungsservice und viele andere Dienstleistungen bewertet werden.

Das, lieber Herr Kramer, ist auch einer der Gründe, die dazu führen, dass es eine gewisse Tendenz gibt, immer wieder mehr sozialen Wohlstand zu verteilen, als das wirtschaftliche Wachstum hergibt, was ich grundsätzlich auch für besorgniserregend halte, wenn das zu lange gemacht wird, weil sozusagen die Lücke zwischen dem Dienstleistungsbereich und dem Bereich der industriellen Wertschöpfung nach meiner Empfindung eher größer wird und bei Verteilungskämpfen die einen immer sagen „Wir haben nachzuholen“ und die anderen sagen „Wir müssen auch unsere Beschäftigten am Wohlstand teilhaben lassen“. Dann wird das, was verfügbar ist, im Grunde zweimal verteilt. Das ist das Problem, hinsichtlich dessen ich Sie bitte, das auch wieder zusammenzuführen, in Ihren Unternehmen ganzheitlich zu denken und nicht zu denken „Ja, wenn ich nur mit einem Betriebsrat zu tun habe, der sich dem Kerngeschäft widmet, brauche ich mich um alles darum herum nicht zu kümmern“, sondern das Drumherum auch mit zu sehen. Sonst führt das zu einem tiefen Ungerechtigkeitsgefühl, wird zu einem politischen Thema und landet dann also bei uns.

Meine Damen und Herren, es ist dennoch so, dass wir nun im neunten Jahr in Folge wirtschaftlichen Erfolg haben. Das ist die längste Wachstumsperiode seit den Fünfzigerjahren. Wie es aber mit dem Erfolg so ist: Er treibt sozusagen Fantasien an, was man noch alles tun könnte. Das ist ja gerade das Schwierige. Theoretisch müssten diese guten Zeiten genutzt werden, um die Weichen für die Zukunft zu stellen. Politpraktisch aber ist sozusagen die Versuchung, von dem Vorhandenen noch einmal etwas zu verteilen, natürlich größer. Fast machen sich Reformen in wirtschaftlich schlechten Zeiten besser, obwohl der Preis, den man dann zu zahlen hat, größer ist. Das ist das, mit dem wir uns herumzuschlagen haben. Aber wir können darauf stolz sein, heute so viele Beschäftigte zu haben wie noch nie.

Wir haben auch die Entwicklung – das wird meiner Meinung nach zu selten gesagt –, dass Armut und soziale Ausgrenzung gesunken sind und dass die Tatsache, dass so viele Menschen wie nie auch sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse haben, natürlich ein Faktor ist, der zur Armutsbekämpfung beiträgt und auf die Bildung von Kindern hoffen lässt, die eben in Familien aufwachsen, in denen Menschen nicht arbeitslos sind. Ich meine: Als ich Bundeskanzlerin geworden bin, hatten wir fünf Millionen Arbeitslose. Ich weiß noch, wie im März 2006 die Zeitung, die immer besonders groß titelt, titelte: „Frau Merkel, das sind jetzt Ihre Arbeitslosen“. Da waren es mehr als fünf Millionen gewesen. Da können wir heute schon zufrieden sein, dass wir 2,4 Millionen oder 2,3 Millionen Arbeitslose haben.

Wir haben uns auch dazu bekannt, dass wir die Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent halten. Lieber Herr Kramer, ich erinnere mich an meine ersten Jahre im Deutschen Bundestag. Damals lagen sie häufig über 40 Prozent. Da war das das Topthema. Aber ich verstehe auch, dass Sie mit einer gewissen Sorge auf bestimmte Entwicklungen schauen. Auch da – ich sollte ja heute hier auch ein wenig über den Zusammenhalt in der Gesellschaft sprechen – gibt es natürlich auch für Politiker bestimmte Dinge, die Sorgen machen. Der ganze Bereich der Pflege – dieser wird in einer Gesellschaft, die sich demografisch so wie unsere verändert, natürlich noch gewichtiger werden – ist mit Fragen verbunden, die die Menschen unglaublich beunruhigen. Wenn Sie sich da einmal die Beschäftigtensituationen anschauen, dann sehen Sie, dass die Arbeitszeiten zum Teil dramatisch unsicher sind. Oft gibt es lange, lange Strecken ohne einen freien Tag. Die Tarifbindung ist nicht besonders gut. Die Auszubildenden zahlen heute immer noch Schulgeld – ein Umstand, der auf der Bundesebene viele Jahre lang gar nicht wahrgenommen wurde, weil das eigentlich eine Ländersache ist; ein Paradoxon. Wenn Sie heute in einem Umfeld, in dem Sie überall Fachkräfte suchen, auch für diese Berufe junge Menschen begeistern wollen, dann ist doch klar, dass Sie an dieser Ausbildung etwas ändern müssen.

Wir müssen uns um diese Dinge kümmern. Und da stehen wir bei der Gestaltung des deutschen Sozialsystems vor der Frage: Wie machen wir das, um auf der einen Seite bessere Pflegeleistungen anzubieten und solche Berufe attraktiver zu machen und auf der anderen Seite die Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent zu halten? Als Alternative kommen dann immer nur Steuermittel infrage; und davon fließt schon sehr, sehr viel zum Beispiel in die Rente. Deshalb stehen wir hierbei schon unter Druck, der in den nächsten Jahren sicherlich nicht geringer werden wird.

Wenn wir über den Zusammenhalt in der Gesellschaft sprechen: Wir haben als Bundesregierung eine der kompliziertesten Kommissionen eingesetzt – die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Schauen Sie sich einmal an, wie unterschiedlich die Lebensverhältnisse und die Sorgen der Menschen in Deutschland inzwischen geworden sind. In München etwa gibt es nicht genügend Wohnungen oder die Mieten sind derartig hoch, dass Facharbeiter sie sich kaum noch leisten können. Eigentlich müssen Betriebe und der Staat für sich und die Beschäftigten Wohnungen bauen. Uns fehlen einerseits weit mehr als eine Million Wohnungen und auf der anderen Seite stehen mehr als eine Million Wohnungen leer. Da sitzen Menschen in den ländlichen Regionen, wo auch ich meinen Wahlkreis habe, die ihr ganzes Leben für ihr Häuschen gearbeitet, getan, gemacht haben, die dann erleben müssen, dass ihre Kinder nach Stuttgart, nach München oder sonst wohin ziehen, dass sie auf ihrer Immobilie, die ja nun wirklich nicht wie ihre Kinder mobil ist, sitzenbleiben und dass das Lebenswerk an Wert verliert. Wenn Sie heute als älterer Mensch in ein Pflegeheim gehen und eine Immobilie in Freiburg und eine Immobilie in Höxter besitzen, dann reicht das, was Sie aus der Immobilie ihres alten Hauses in Höxter erlösen – obwohl Sie das Gleiche in Ihrem Leben getan haben, aufgewendet haben, gemacht haben –, vielleicht nur noch für ein Fünftel dessen, was in Freiburg an Wert entsteht. Menschen empfinden das als ungerecht. Das ist ja auch nicht erstaunlich. Aber wir haben darauf keine komplette Antwort.

Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir uns gemeinsam darum bemühen, die wirtschaftliche Entwicklung in allen Teilen Deutschlands vernünftig stattfinden zu lassen. Zum Beispiel in Bayern geht das, weil man da einen guten Kern hat. Aber in allen neuen Bundesländern hat kein einziges DAX-Unternehmen seinen Hauptsitz. Dabei, die DAX-Unternehmen davon zu überzeugen, dass sie sich nun bitte schön auch noch in den neuen Ländern, die sich sozusagen deindustrialisieren, engagieren sollen, helfen selbst super Verkehrsverbindungen nicht. Das bedeutet, dass dann eben die jungen Leute weggehen. Und in dem Moment, in dem die jungen Leute weggehen, sind die älteren total verunsichert. Denn die Tatsache, dass sie ihre Enkel nicht aufwachsen sehen, dass die Kinder weit weg in München leben und in einer klitzekleinen Wohnung wohnen, in der sie dreimal die Augen verdrehen, wenn Oma auch am zweiten Tag noch zu Besuch ist – ja, da ist das Gästezimmer nicht im Mietpreis drin –, das treibt die Menschen um. Das hat alles mit der Tatsache, dass 45 Millionen Menschen einen Arbeitsplatz haben, nichts zu tun, aber es treibt sie eben um. Und damit müssen wir uns auseinandersetzen.

Dazu kommt, dass wir auch ordnungspolitisch vernünftige Antworten finden müssen. Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass durch die fünfte Mietpreisbremse mehr Wohnungen entstehen, sondern ich glaube, dass man Wohnungsmangel nur mit Wohnungsbau bekämpft; das gehört auch dazu. Allerdings muss ich an dieser Stelle auch sagen, auch wenn ich hier keinen persönlich ansprechen möchte: Wenn man in einem Stadtteil wohnt, in dem es noch ein Stück Grünfläche gibt, hält sich das Interesse daran, dass auch dort neue Wohnungen gebaut werden sollen, vor Ort auch sehr in Grenzen. Man kann heute in München leichter Wahlkreise gewinnen, wenn man „Keine neue Bebauung“ sagt. Ich glaube, der Generalsekretär der CSU wird nachher noch kommen. Er hat in Trudering gewonnen, weil er „Keine neue Bebauung“ gesagt hat. Das verstehe ich, weil sozusagen die Packungsdichte in der Stadt ja schon groß ist. Aber wir stehen eben auch vor der Frage: Wo bekommen wir Bauland her? Wie bauen wir systemischer, damit das schneller geht und nicht jeder alles neu erfindet? Das sind auch Fragen, vor denen wir stehen.

Was übrigens die Frage der DAX-Unternehmen und deren Engagement in den neuen Bundesländern angeht, möchte ich auch danke sagen, weil ich zum Beispiel Herrn Kaeser hier gerade in der ersten Reihe sitzen sehe. Denn Görlitz ist so ein Fall, in dem Menschen fragen, was aus ihnen wird. Da sind dann doch auch hoffnungsvolle Antworten gefunden worden.

Nun gibt es auch Verunsicherung angesichts kaum greifbarer Herausforderungen der Digitalisierung. Ich finde es sehr gut, dass Sie heute die Vorsitzende des Digitalrats, Frau Suder, eingeladen haben. Herzlichen Dank dafür. Dieser Digitalrat macht uns als Bundesregierung nämlich wirklich Beine, wenn ich das einmal so sagen darf, weil er uns in einer sehr komprimierten Art und Weise an die Herausforderungen der Digitalisierung heranführt. Da ist das Erste, und darüber sprechen wir in Deutschland viel, die Infrastruktur. Okay, deren Ausbau müsste schneller gehen. Aber ich glaube, da sind wir jetzt auf einem guten Weg. Ende 2019 werden wir 98 Prozent der Haushalte an Breitband angeschlossen haben. Ende 2021 werden wir 99 Prozent angeschlossen haben. Den Rest müssen wir dann sozusagen mit staatlichen Hilfen machen. Wir müssen schon jetzt staatliche Hilfen einsetzen, aber um den allerletzten Haushalt dann noch anzuschließen, werden wir das fast nur staatlich machen müssen.

Wir haben im Übrigen folgende Situation: Jetzt bauen wir großflächig das Breitband aus, aber wir haben einen Flaschenhals bei Tiefbaufirmen, die überhaupt noch zur Verfügung stehen. Die Preise steigen naturgemäß. Jetzt sind die Anschlüsse da. Jetzt gehen Sie einmal in ein vorpommersches Dorf oder ein Dorf in der Eifel und gehen Sie der Frage nach: Wer will denn eigentlich von diesem schönen Glasfaserkabel profitieren? Die Leute sitzen mit DSL zu Hause; viele sind damit ganz glücklich, die Älteren allemal. Dann stellt sich die große Frage: Wie bekommen wir die Refinanzierung der Investitionen hin? Denn es gibt ja keinen Anschlusszwang wie bei Wasser und Abwasser. Wenn man die Leute fragen würde, ob sie einen Abwasseranschlusszwang haben wollen, würden viele Nein sagen. Wir sind durch die private Gestaltung dieser zukünftigen Daseinsvorsorge in einer Situation, in der vielleicht nur 50 Prozent oder 60 Prozent in den ländlichen Räumen überhaupt von den tollen neuen Angeboten Gebrauch machen – natürlich in den Gewerbegebieten, natürlich die Mittelständler, natürlich die Schulen und Krankenhäuser; alles klar. Aber es gibt noch viele andere. Und wie wir damit umgehen, wird eines Tages noch einmal eine sehr spannende Frage werden.

Zweitens geht es uns um flächendeckendes Internet. Das ist auch eine der Aufgaben der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Denn der Mensch will ja nicht nur zu Hause einen Internetzugang haben, sondern er möchte vielleicht auch, wenn er auf der Wiese sitzt und sich ausruht, mit seiner Familie kurze Videos austauschen können. Das heißt, wir brauchen eine flächendeckende Abdeckung. Das verursacht ein etwas größeres Problem. Dazu brauchen wir noch mindestens 10.000 neue Funkmasten. Die Versorgung muss noch nicht unbedingt auf dem Niveau von 5G sein, aber das weiß hier jeder, sondern man wäre schon froh, wenn man permanent 3G hätte. Das wird noch einmal eine große Herausforderung.

Es geht dann aber auch um 5G-Anwendungen – ich sehe Herrn Lutz – entlang der Bahnlinien, entlang der Bundesstraßen, entlang der Autobahnen, entlang der Landstraßen. Da werden wir dann die Möglichkeit der Datenübertragung in Echtzeit haben, zumindest nahezu. Es wird also geringste Latenzzeiten geben. Die 5G-Anwendungen kommen also noch. Sie sind aber natürlich heute noch nicht in umfassendem Maße da. Das heißt, wir brauchen jetzt nicht das ganze Land sofort mit 5G auszubauen, sondern dafür haben wir schon noch ein bisschen Zeit. Das heißt, dabei sind fünf Jahre kein Drama. Aber die, die Echtzeit-Anwendungen brauchen, müssen an diese Anschlüsse kommen. Und das wollen wir auch in diese Richtung bringen.

Aber es gibt auch einen Teil der Digitalisierung, der unser Leben so tiefgreifend verändern wird, dass ich nicht weiß, ob wir alle schon wissen, was auf uns zukommt, oder dass ich weiß, dass wir es nicht wissen. Wie geht man mit so einer Situation um, wenn man Menschen Sicherheit geben will? Man darf ihnen natürlich nichts Falsches versprechen, sondern man muss versuchen, sie auf einem Weg mitzunehmen. Das tun Sie in den Unternehmen. Ich habe Unternehmen besucht, in denen Möglichkeiten der Digitalisierung durch permanente Weiterbildung wirklich hervorragend genutzt werden. Aber das passiert noch längst nicht in allen Bereichen. Die Disruptivität unseres Arbeitsprozesses haben wir, glaube ich, noch nicht vollständig erfasst.

Deshalb lautet meine Bitte auch an Sie: Lassen Sie sich auch auf ein völlig neues Denken ein – auch darauf, weniger in hierarchischen Systemen zu denken. Frau Suder kann Ihnen das besser erklären als ich. Nehmen wir einmal an, unsere große staatliche Herausforderung ist, auf der Grundlage des Onlinezugangsgesetzes das sogenannte Bürgerportal zu schaffen. Das heißt, wir müssen mehr als 500 Funktionen, die der Bürger mit seinem Staat abwickelt – Elterngeld beantragen, Kindergeld beantragen, Umzug melden, Kraftfahrzeug anmelden usw. –, mit einem einzigen Zugang für den Bürger öffnen und ihm die Möglichkeit geben, all diese Dinge digital abzuwickeln. Das führt erst einmal dazu, dass wir völlig anders denken müssen. Wir müssen uns nämlich zuerst in den Bürger hineinversetzen und nicht erst das ganze System aufbauen und dann schauen, ob das Ganze zweckmäßig ist. Wir denken heute, wenn wir etwas planen, nicht unbedingt vom Bürger her. Wir denken vielmehr: 575 Funktionen – die musst du jetzt alle irgendwie planen; und wenn du die fertig hast, dann schaust du einmal, wie der Bürger das dann in Anspruch nimmt. Das neue Arbeiten aber sollte so verlaufen, dass ich mir eine Funktion nehme und erst einmal daran arbeite und ausprobiere, ob sie im Sinne des Bürgers zweckdienlich ist. Dann nehme ich mir eine zweite Funktion hinzu. Und so baue ich das Stück für Stück auf. Vielleicht machen Sie das alles in Ihren Unternehmen schon. Aber der Berliner Flughafen wäre besser gelungen, wenn man diese Form von Processing gleich angewendet hätte; so viel ist sicher.

Dann komme ich zum Thema Künstliche Intelligenz – ein Punkt, bei dem wir erkennbar nicht vorne liegen. Wir haben sozusagen Inseln, die gute Beiträge leisten können, aber die gesamte Breite wird nicht ausreichend abgebildet. Unser Vorteil ist, dass wir eine starke Industriesäule haben. Mit Industrie 4.0 wird es uns gelingen, gute Anwendungen hinzubekommen.

Wir haben aber einen unglaublichen Kampf um die besten Fachkräfte auf der Welt mit sehr flexiblen Bezahlmöglichkeiten überall. Insofern wird man sich sicherlich auch in Deutschland an Max-Planck-Instituten und außeruniversitären Forschungs-einrichtungen noch einiges überlegen müssen.

Wir wollen 100 neue Professuren einrichten. Wir haben zwölf Zentren identifiziert, die miteinander vernetzt werden und die auch mit Frankreich vernetzt werden. Wir werden unsere Agentur für disruptive Innovationen, die wir sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene haben, sich auch sehr stark im KI-Bereich engagieren lassen. Wir werden unserem Bundesrechnungshof sagen: Seid ganz ruhig, denn wir werden zwangsläufig mehr Geld versenken, bevor einmal eine große Innovation herauskommt. Das alles fordert ein völliges Umdenken.

Wir erleben im Augenblick in unserer Verwaltung – ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist –, dass wir, wenn wir digitale Projekte auf die Schiene setzen wollen, sehr lange brauchen, bis wir das durch haben. Wenn wir uns hingegen 50 junge Leute von irgendeiner Universität holen und sie bitten, zwei Themen zu bearbeiten, dann haben wir nach zwei Monaten eine Antwort. Das heißt, wir werden auch mehr outsourcen müssen, mehr junge Menschen heranziehen müssen. Aber das sind natürlich auch alles Menschen, die nicht als erstes an einen Tarifvertrag denken – um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukommen. Das dann zusammenzubringen, ist natürlich schwierig.

Zum Thema Fachkräfte: Ja, wir haben jetzt ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Ich bitte Sie, nachdem wir nun das Wort „Einwanderung“ als CDU-Mitglieder in den Mund nehmen, das Gesetz nicht wieder „Zuwanderungsgesetz“ zu nennen. Es ist ein Einwanderungsgesetz. Ich weiß nicht, ob Sie die Tiefen und Feinheiten solcher Diskussionen genau verfolgen können; aber egal. Jedenfalls haben wir wichtige Weichen gestellt und versuchen auch, das möglichst unbürokratisch zu machen. Bei der Umsetzung werden wir das in den Auslandsvertretungen nicht alleine wuppen können, sondern wir brauchen die Unterstützung der Wirtschaft. Ich bedanke mich dafür, dass diese Bereitschaft vorhanden ist. Wir werden auch bei der Vergleichbarkeit der Abschlüsse darauf setzen müssen, dass wir mit Ihnen in Form einer Clearingstelle oder ähnlichem zusammenarbeiten, um zu versuchen, unbürokratisch vorzugehen. Es geht letztendlich ja um die Fähigkeiten und Fertigkeiten und nicht um die formalen Abschlüsse.

Aus Ihrem Blickwinkel sind wir an mancher Stelle zu zögerlich, weil wir sagen: Der heute gebrauchte Arbeitnehmer ist nach einem Jahr, spätestens nach eineinhalb Jahren, jemand, der auf Dauer in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen hat; zumindest gilt das für viele davon. Das ist unser Problem; und deshalb sind wir so vorsichtig. Denn wir wissen: Wir stehen vor disruptiven Umbrüchen. Kein Mensch kann ganz genau voraussagen, wie sich die Bedürfnisse in den nächsten Jahren entwickeln. In diesem Jahr haben wir 1,24 Millionen offene Stellen, die wir besetzen müssen. Dafür brauchen wir Fachkräfte. Aber wenn wir einmal ganz ehrlich sind, brauchen wir sehr unterschiedliche Fachkräfte. Wir brauchen an der einen Stelle den Spezialisten für Digitalisierung und KI und an anderer Stelle brauchen wir – wenn ich einmal in meinen Wahlkreis gucke – auch hundert Bäcker und hundert Köche in den Hotels. Die Frage ist also: Wie wird sich das entwickeln und was bedeutet das? Diese Herausforderung können wir nicht so bewältigen, dass wir dann, wenn jemand arbeitslos wird, anschließend von Ihnen wieder kritische Bemerkungen bekommen, warum dauernd die Lohnzusatzkosten steigen. Deshalb haben wir das einfach im Blick.

Wir müssen vor allen Dingen auch darauf achten, dass unsere eigenen Arbeitskräfte in vernünftiger Weise weitergebildet werden. Das ist auch eines der großen Themen, denen sich die Bundesregierung verschrieben hat. Hier sind wir auf Sie angewiesen. Wir dürfen nicht zu sehr eine theoretische Weiterbildung machen, die allein von der Bundesagentur ausgesucht wird, sondern wir müssen, wo immer möglich, Weiterbildung im Betrieb vornehmen. Ich glaube aber, die Möglichkeit, von der Bundesagentur Zuschüsse zu bekommen, wenn aus Gründen der Digitalisierung eine betriebliche Weiterbildung angeboten wird, könnte insbesondere für mittelständische Unternehmen sehr zielführend sein. Da mischen wir uns nicht in die Inhalte ein, sondern bezuschussen das. Ich glaube, das ist eine vernünftige Sache.

Dann haben wir natürlich den Punkt der Flexibilität des Arbeitsrechts. Hier würde ich persönlich an manchen Stellen weitergehen. Mein Kampf darum – auch wenn ich heute 13 Jahre im Amt bin –, das europäische Arbeitszeitgesetz eins zu eins in Deutschland umzusetzen und wenigstens die darin vorhandenen Flexibilitäten auszuschöpfen, ist bisher weitgehend erfolglos geblieben. Da, wo es Tarifverträge und Vereinbarungen mit dem Betriebsrat gibt, haben wir Öffnungsmöglichkeiten innerhalb der Experimentierklauseln. Nutzen Sie das, damit wir da gute Erfahrungen sammeln. Aber wir haben ein Arbeitszeitgesetz, das für Start-ups und für junge Unternehmen, die im Digitalisierungsbereich leben, sehr wenig geeignet ist. Wir brauchen deshalb Flexibilitätsinstrumente wie zum Beispiel Zeitarbeit; das ist ganz wichtig. Ich weiß, dass wir Ihnen auch noch einiges zumuten werden, wenn wir erst an die sachgrundlose Befristung herangehen. Frau Nahles kommt heute ja noch; sie kann darüber vielleicht berichten.

Ich muss Ihnen aber sagen: Es gibt auch unglaubliche Dinge. Wenn man liest, dass im öffentlichen Dienst zum Teil 17 Mal befristet wird und dann wieder Leuten gekündigt wird, dann wundert man sich. So etwas gibt es auch im Dienstleistungsbereich; machen Sie sich da keine Illusionen. Insofern kann ich immer wieder nur bitten: Je verantwortlicher Sie mit Ihrer Freiheit umgehen, umso weniger müssen wir uns als Staat in die Dinge einmischen.

Abschließend noch etwas zu Europa. Danke für Ihr klares Bekenntnis zu Europa. Europa ist eine Quelle unseres Wohlstands; das ist vollkommen klar. Wer sich eine solche Quelle erhalten will, muss in sie auch etwas einbringen. Wir können aber nicht davon ausgehen, dass die Perspektive, auf die Welt zu blicken, in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die gleiche ist. Deshalb brauchen wir ein bestimmtes Maß an Regeln; auch das ist vollkommen klar. Wir müssen uns aber auch auf die Wünsche und die Vorstellungen anderer ein Stück weit einlassen. Für uns ist ein starkes Frankreich konstitutiv, um Europa voranzubringen. Deshalb haben ich und die ganze Bundesregierung ein maximales Interesse am Erfolg des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit seinen Reformen, die im Übrigen zum Teil sehr mutig sind und zum Teil, etwa im Bereich der Berufsausbildung, auch sehr von deutschen Erfahrungen profitieren. Diesen Erfolg wollen wir wirklich unterstützen.

Wir wissen um die Herausforderungen gerade auch in Handelsfragen. Ich will einmal sagen: Wenn man sich vorstellt, Deutschland wäre den Betrachtungen der Vereinigten Staaten von Amerika in Handelsfragen und insbesondere in Zollfragen alleine ausgesetzt, dann hätten wir sehr viel schlechtere Karten. Die Tatsache, dass Jean-Claude Juncker und die Kommission für uns alle in der Europäischen Union die Handelsfragen bearbeiten, ist natürlich manchmal mühselig, weil man immer ein Mandat von 28 – in Zukunft 27 – Staaten braucht. Es führt aber auch dazu, dass wir geschützter sind, weil es immer um die ganze Europäische Union geht. Das war in den letzten Monaten jedenfalls eine ganz wichtige Sache, um Gespräche mit den Vereinigten Staaten von Amerika über Handelsfragen zu führen.

Da wir als große Volkswirtschaft, als Volkswirtschaft mit einem hohen Handelsbilanzüberschuss, natürlich besonders im Fokus sind, wollen wir mit den Vereinigten Staaten von Amerika auch bilateral sprechen und deutlich machen, dass wir – gerade auch für amerikanische mittelständische Firmen –, ein Land mit offenen Märkten sind. Bei uns wird niemand abgewiesen, wenn er zu uns exportieren will. Vielleicht ist manches auch noch nicht ausreichend bekannt. Insofern bemühen wir uns, maximale Transparenz zu zeigen und das auch deutlich zu machen, da wir ein Interesse daran haben, dass es keine Verunsicherung gibt. Wir spüren, dass durch die Handelskonflikte zwischen Amerika und China viel Verunsicherung auch für deutsche Unternehmen entsteht. Alles, was wir tun können, um eine offene Ordnung zu schützen und wieder praktikabel zu machen, ist von großer Wichtigkeit.

Für eine weitere Verunsicherung sorgt natürlich auch die Frage des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union. Großbritannien soll Partner bleiben, soll Freund bleiben, Großbritannien soll engste Wirtschaftsbeziehungen zu uns haben. Großbritannien bestimmt selbst darüber. Wir sind uns ja im Kern einig, dass am Ende des Weges ein sehr umfassendes Freihandelsabkommen stehen wird, wobei wir – das muss man ehrlich sagen – im Dienstleistungsbereich nicht sehr viele Erfahrungen mit internationalen Abkommen haben. Das wollen wir aber als zukünftige Beziehung sehen.

Der Austritt Großbritanniens gestaltet sich schwieriger als ein fiktiver Austritt irgendeines anderen Mitgliedslandes, und zwar wegen der innerbritischen Situation mit Blick auf Irland. Die Tatsache, dass durch das „Good Friday Agreement“ Nordirland und die Republik Irland im Grunde wie ein Binnenmarkt miteinander verbunden sind und dass diese beiden Gebilde nun voneinander getrennt werden, aber trotzdem keine Grenze entstehen soll, stellt uns vor große – sagen wir einmal, geistige – Herausforderungen, weil es dabei um die Frage geht: Wie soll man erreichen, dass da, wo keine Grenze sein soll, der Binnenmarkt trotzdem endet? Darum rankt sich im Grunde die gesamte Diskussion, die wir führen. Wenn es ein solches Problem nicht gäbe, dann hätten wir das Austrittsabkommen bereits bewerkstelligt.

Ich darf Ihnen sagen: Ich werde alles daransetzen, dass wir ein Abkommen hinbekommen. Ein ungeordneter Austritt ist sowohl für die Wirtschaft als auch für die mentale Situation unseres zukünftigen Verhältnisses der schlechtestmögliche Weg. Wir sind schon ein Stück vorangekommen, aber es bedarf sicherlich noch vieler Diskussionen, insbesondere auch in Großbritannien. Wir können als 27 Mitgliedstaaten nur zwei Dinge tun: Erstens Großbritannien partnerschaftlich und freundschaftlich begegnen und zweitens als 27 Mitgliedstaaten zusammenhalten und nicht noch unter uns Unruhe aufkommen lassen. Beides ist bis jetzt gelungen. Und so werden wir auch weitermachen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.