Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 9. Nationalen IT-Gipfel am 19. November 2015

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Sehr geehrter Herr Dirks,
sehr geehrte Frau Senatorin Yzer, sozusagen als Vertreterin des Gastgeberlandes,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und den Parlamenten – wir sind heute viele und könnten fast beschlussfähig im Sinne der Bundesregierung sein –,
meine Damen und Herren,

die breite Anwesenheit von Kabinettsmitgliedern zeigt auch, dass wir ja alle wissen, dass die Digitalisierung sozusagen unser ganzes Leben durchdringt und alle Bereiche erfasst. Es ist der 9. IT-Gipfel; und immer noch habe ich den Eindruck, dass es ein kreatives Forum ist. Deshalb möchte ich mich bei allen, die die Plattform betreuen, ganz herzlich für das bedanken, was wir erreicht haben.

Wir haben die Breite unserer Arbeit um die Anwenderindustrie sowie die Kreativ- und Kulturwissenschaft erweitert. Damit erweitert sich sozusagen der Gipfelhorizont. Der Gipfel dauert diesmal zwei Tage lang. Die Arbeitsstruktur hat sich verändert, weil der Gipfelprozess nun auf die Handlungsfelder der Digitalen Agenda der Bundesregierung ausgerichtet ist.

Dass der IT-Gipfel in diesem Jahr in Berlin stattfindet, hat auch gute Gründe. Denn der Standort Berlin steht wie kaum ein anderer Ort für Wandel und Neuanfang. Hier, an der Arena in Treptow – nur knapp einen Steinwurf von der einstigen deutsch-deutschen Grenze entfernt, von der Mauer, die durch Berlin ging –, sieht man auch, was Geschichte bedeutet. Sie war vor 90 Jahren ein Omnibus-Betriebshof und ist heute ein Ort für verschiedenste Veranstaltungen. Hier spiegelt sich sozusagen das alte Berlin genauso wie das neue Berlin wider. Inzwischen ist Berlin Hauptstadt und ein Zentrum für Startups. Insgesamt ein Drittel aller deutschen Startups hat seinen Sitz in Berlin. Täglich kommen neue hinzu. Das ist schon eine tolle Erfolgsgeschichte.

In der digitalen Wirtschaft gab es hier im Jahr 2014 80.000 Erwerbstätige mit einem Umsatz in Höhe von elf Milliarden Euro. Wir wollen mit unserem IT-Gipfel erreichen, dass die Tendenz nicht nur steigend, sondern wirklich dynamisch steigend ist. Die Wachstumspotenziale liegen ja auf der Hand. Natürlich – auch darüber haben wir heute wieder gesprochen – müssen Wachstumsmöglichkeiten auch durch Kapitalmöglichkeiten geschaffen oder realisiert werden. Berlin lockt zwar schon eine ganze Menge an Wagniskapital an – das hat uns Frau Yzer heute gesagt –, aber wir brauchen diesen Trend auch bundesweit. Und dazu brauchen wir bessere Rahmenbedingungen. Wir kämpfen zum Beispiel auf europäischer Ebene für Verlustabschreibungen. Wir haben auch eigene Verschlechterungen beim Streubesitz verhindert. Aber wir sind immer noch nicht da, wo wir hinwollen. Ich habe immer und immer wieder auch den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker gebeten, endlich sichere Rahmenbedingungen für Wagniskapital zu schaffen, denn das können wir alleine bzw. national gar nicht machen.

Dass der IT-Gipfel in Berlin auch die Möglichkeit bot, Thementouren durchzuführen, war eine spannende Sache. Das Themenspektrum reichte von Smart City über Industrie 4.0 bis zu digitalen Vernetzungen allgemein. Damit wurde besonders klar: Digitalisierung durchdringt den Alltag immer weiter – sei es an Schulen und Universitäten, im Gesundheitswesen, in der Energieversorgung, im Verkehr oder in der öffentlichen Verwaltung. Die Bundesregierung hat im Übrigen etwas realisiert, das viele aus der Wirtschaft jahrelang gefordert haben, nämlich einen Staatssekretär als Ansprechpartner für Fragen der Digitalisierung des öffentlichen Bereichs berufen. Dass unser Innenminister Thomas de Maizière dies jetzt geschafft hat, ist für die ganze Bundesregierung eine wichtige Nachricht und für Sie, die Sie einen Ansprechpartner suchen, auch.

Meine Damen und Herren, die Digitale Agenda ist also die Antwort auf die Herausforderungen, vor der wir stehen. Das Motto des diesjährigen Gipfels „Innovativ, sicher, leistungsstark“ unterstreicht auch, wie wir im gesamten Themenspektrum agieren und uns positionieren wollen.

Wir haben vor einem halben Jahr unsere Plattform Industrie 4.0 gestartet. Heute konnten wir uns die ersten Ergebnisse der Arbeit anschauen. Mehr als 100 gute Beispiele, aufgezeichnet auf einer Deutschlandkarte, zeigen, dass das Projekt angenommen wird. Wir wünschen uns natürlich, dass viele, gerade auch Mittelständler und kleine Unternehmen, diese Plattform nutzen. Denn wir wissen ja, dass der Einstieg und der Umstieg hinsichtlich der Akzeptanz dessen, was die Digitalisierung im Produktionsprozess, im Entwicklungsprozess und im Forschungsprozess ermöglicht, nicht für jeden ganz einfach sind. Daher ist es gut, eine Hilfestellung zu haben; eine Plattform, zu der alle Zugang haben. Dieses Angebot soll also dahingehend genutzt werden, dass man sich nicht nur theoretisch informiert, sondern – so wurde uns das heute auch gezeigt – sich auch praktische Anwendungsbeispiele anschauen oder selbst solche einbringen und bestimmte Komponenten von Industrie 4.0 testen kann. Das heißt also, damit haben wir wirklich eine gute Chance für Unternehmen geschaffen, die noch nicht so mit neuen Möglichkeiten vertraut sind. Ich würde mir wünschen, dass, wenn wir nächstes Jahr auf diese Landkarte schauen, eine deutliche Steigerung zu sehen sein wird.

Die Plattform Industrie 4.0 wird auch international sehr stark beachtet. Es ist wichtig – Herr Dirks hat den Bogen gleich noch weiter gespannt –, dass wir auch Hubs, Konzentration und sozusagen Ökosysteme, wie man heute sagt – „Cluster“ sind schon zu statisch; das habe ich verstanden –, brauchen. Aber die erste Voraussetzung für einen Industriestandort, für eine Exportnation wie Deutschland ist, dass nicht nur große Unternehmen die Chancen der Digitalisierung zu nutzen verstehen, sondern dass das tief in die Breite unserer Wirtschaft geht. Wir haben nämlich viele kleine Champions, die ganz wesentlich zu unserer Wirtschaftsstärke beitragen. Wir haben eine breite Palette an Zuliefererindustrie, die sich ja auch auf neue Gegebenheiten einstellen muss.

Wenn wir bei der Digitalisierung industrieller Prozesse vorne liegen, dann wird das sozusagen auch von der Psychologie her seine Wirkung gegenüber denen nicht verfehlen, die unsere Wettbewerber sind und beim Internet und bei der Software vorne liegen. Das ist dann sozusagen eine gute Wettbewerbsansage, die mir wieder Hoffnung darauf macht, dass wir dann auch die Digitalisierungsprozesse so nutzen können, dass wir in Deutschland weiterhin Champions der industriellen Wertschöpfung sind und nicht zur verlängerten Werkbank werden. Das ist nämlich im Kern der Kampf, der zurzeit ausgefochten wird.

Ein Beispiel ist für uns selbstverständlich sehr wichtig, nämlich die Mobilität. Wir haben die Teststrecke auf der A9, die, glaube ich, eine Art Ökosystem werden könnte. Moderne Autos haben bereits heute viele Assistenzsysteme. Aber irgendwann übernehmen die Assistenzsysteme die Herrschaft und der Fahrer wird sozusagen zur Assistenz. Auf jedem Fall sind wir schon auf dem Weg zum automatisierten und vernetzten Fahren. Das sollten wir auch weiterentwickeln. Deshalb ist das digitale Testfeld Autobahn A9 von großer Bedeutung.

Natürlich geht es auch um die Frage: Wie können wir verlässliche Übertragungsstandards sicherstellen? Denn alle Anwendungen – von der Telemedizin bis zum autonomen Fahren – möchte man sich mit Unsicherheiten bei den Übertragungsvorgängen eigentlich nicht vorstellen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir bei der Entwicklung von neuen Standards, insbesondere von 5G, gut dabei sind, dass die Bandbreiten größer und die Übertragungsgeschwindigkeiten höher werden, sodass absolute Verlässlichkeit gewährleistet ist.

Dass wir über 5G nachdenken können, hat auch damit zu tun, dass wir im Bereich der Frequenzen überhaupt sehr gut vorangekommen sind. Die Versteigerung hat für unsere Verhältnisse wirklich schnell und zügig geklappt. Ich möchte daher auch Alexander Dobrindt danken, der das zusammen mit vielen anderen möglich gemacht hat. Und ich möchte auch denen danken, die Frequenzen abgeben mussten und sich darauf eingelassen haben. Wir haben durch diese Versteigerung nicht nur mehr Frequenzbereiche zur Verfügung, sondern wir haben damit auch zusammen mit anderen Mitteln 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung, die wir für die Förderung des Ausbaus der Infrastruktur in ländlichen Bereichen einsetzen können, sodass das Ziel von 50 Megabit pro Sekunde im Jahr 2018 für jeden deutschen Haushalt realisierbar ist.

Nun werden viele unter Ihnen sagen: 50 Megabit pro Sekunde – das ist nicht so toll. Aber wenn Sie heute irgendwo im ländlichen Raum sitzen und – ich spreche einmal als Parteivorsitzende – ihren Parteifreunden eine E-Mail mit drei bewegten Bildern schicken wollen, und die müssen eine halbe Stunde lang laden, dann öffnen die die E-Mails gar nicht mehr. Das heißt also, es ist durchaus auch für viele Anwendungszwecke noch gut, mit 50 Megabit pro Sekunde arbeiten zu können. Ich weiß aber, dass wir für viele technische Anwendungen bedeutend mehr brauchen. Wir werden dann sicherlich bald auch die Ziele über das Jahr 2020 hinaus festlegen.

Um die Potenziale lokaler Funknetze im öffentlichen Raum auszuschöpfen, hat die Bundesregierung das Telemediengesetz geändert. Haftungsregelungen sind klargestellt worden. Für WLAN-Betreiber schaffen wir somit Rechtssicherheit. Und wir erhoffen uns davon in Hotels, in Gaststätten und an anderen Stellen mehr öffentlich zugängliche Hotspots. Dieses Signal ist zum Beispiel auch für eine Stadt wie Berlin dringend notwendig, weil viele europäische Städte das, was wir uns noch mühsam erarbeiten, längst haben.

Meine Damen und Herren, wir können in Deutschland einiges machen, aber wir sind uns einig: mehr Potenziale, auch für Europa, erschließen wir uns nur, wenn wir einen digitalen europäischen Binnenmarkt entwickeln. Ich habe mich gerade eben, Herr Dirks, als Sie gesprochen haben, mit Frau Zypries unterhalten, was man nicht tun sollte, aber es war ein zielführendes Gespräch. Wir haben über die von Ihnen erwähnten Hubs und Ökosysteme und über die Vorteile von Ländern, die noch mehr Einwohner als wir haben, gesprochen. Die sprachliche Fragmentierung der Europäischen Union macht uns natürlich auch zu schaffen. Wir haben Mühe im Wettbewerbsrecht, wobei wir jetzt immerhin so weit gekommen sind, dass die Kommission bereit ist, eine Studie in Auftrag zu geben, die feststellen soll, ob der Wettbewerbsmarkt im Telekommunikationsbereich nicht ein bisschen zu fragmentiert ist. Wenn die Studie dazu dient, eine lautlose Umsteuerung zu ermöglichen, dann, würde ich sagen, ist sie gerechtfertigt. Dass es hier insgesamt eine zu große Fragmentierung gibt, ist offensichtlich.

Wir haben eben auch sprachliche Barrieren und müssen daher auch den Mut haben, wenn man sich verständlich machen will – obwohl ich die deutsche Sprache wirklich liebe; das muss ich jetzt als Bundeskanzlerin vorwegschicken –, uns bei bestimmten Anwendungen vielleicht auch auf Englisch zu einigen. Das findet ja de facto sowieso statt. Insofern könnte uns auch das noch einmal voranbringen.

Wir haben in dieser Periode der Europäischen Kommission mit unserem Kommissar Günther Oettinger eine ganze Menge zu lösen – vom Urheberschutz bis zu anderen Dingen im Bereich der Digitalen Agenda. Im Augenblick steht die Frage der Vereinheitlichung der Datenschutzkulturen durch die Datenschutzgrundverordnung im Vordergrund. Hierbei wird es notwendig sein, dass der Kompromiss, der zwischen Kommission und Rat gefunden wurde, im Parlament nicht zu sehr verwässert wird. Wir müssen hohe Datensicherheit haben, aber wenn wir uns das Big Data Management, wenn wir uns die Möglichkeit der Verarbeitung großer Datenmengen durch einen falschen rechtlichen Rahmen zu sehr einengen, dann wird nicht mehr viel Wertschöpfung in Europa stattfinden. Das wäre für uns von großem Nachteil. Ich wünsche Thomas de Maizière also wirklich viel Erfolg auf dem Weg zu einem fairen und guten Kompromiss.

Meine Damen und Herren, neu und spannend ist auch das Thema Wandel in der Arbeitswelt durch Digitalisierung. Ministerin Nahles hat hierzu ein Grünbuch aufgelegt. Es gibt auch eine intensive Diskussion mit den Gewerkschaften. Ohne jetzt irgendeine Gewerkschaft zurückzustufen – ich glaube, die IG Metall, die ja auch in den entsprechenden Bereichen im Maschinenbau und Automobilbau sehr stark tätig ist, hat diesbezüglich schon sehr viel gearbeitet. Ich bin sehr froh, dass diese Themen auch hier wahrgenommen werden und in diesem Jahr zum Beispiel das Thema Flexibilität am Arbeitsplatz durchleuchtet wird. Daraus ergeben sich sehr spannende und sehr interessante Erkenntnisse. Ich glaube, darüber wird im Anschluss an diese Rede auch noch einmal diskutiert.

Auch hierbei ist es wie eigentlich immer in der Sozialen Marktwirtschaft: Es muss die richtige Balance gefunden werden – zum einen zwischen der Freiheit der Datennutzung und der Sicherheit der Daten, zum anderen zwischen der Flexibilität in der Arbeit und der persönlichen Souveränität über die eigene Zeit. Ich bin sehr hoffnungsvoll, dass wir mit unserer großen Erfahrung in der Sozialen Marktwirtschaft auch diese Konflikte so lösen werden, dass es für alle von Vorteil ist. Ich bin auch der Meinung, dass es in diesem Zusammenhang sehr gut ist, dass wir Tarifpartner haben, die über diese Zukunftsfragen reden können.

Ich bin auch sehr froh, dass das Thema Bildung heute in den verschiedensten Bereichen – gerade auch das Thema Bildung im Bereich des Arbeitsprozesses – immer wieder eine Rolle gespielt hat. Wir haben uns überlegt, dieses Thema im nächsten Jahr zu einem Schwerpunkt zu machen. Minister Gabriel hat das vorgeschlagen. Und ich glaube, das sollten wir auch tun. Wir müssen uns des Weiteren einer Vielzahl von ethischen, juristischen und sozialwissenschaftlichen Fragen widmen. Ich denke hierbei beispielsweise auch an medizinische Anwendungen, die in Zukunft möglich sein werden.

Meine Damen und Herren, ein großes Thema war auch das Thema Sicherheit im Bereich der Digitalisierung. Wir haben das IT-Sicherheitsgesetz verabschiedet und haben dabei einen kooperativen Ansatz etabliert. Mindeststandards, Prüfsysteme, Meldewege – all das wird gemeinsam mit der Wirtschaft entwickelt. Ich habe sowieso den Eindruck, dass die kooperative Entwicklungsform, wie sie sich im IT-Gipfel-Prozess in den vergangenen Jahren gezeigt hat, etwas ist, das wir in anderen Bereichen unserer Zusammenarbeit mit der Wirtschaft nicht in diesem Maße haben. Das gemeinsame Beschreiten von Neuland führt auch zu ganz neuen Formen der Interaktion. Ich finde, das macht Spaß und ist ausgesprochen erfreulich.

Meine Damen und Herren, vor uns liegt viel Arbeit – Herr Dirks hat vorhin schon einmal eine Runde weiter geschaut. Ich glaube, dass wir Ansätze solcher Ökosysteme oder Hubs, wie sie angesprochen wurden, ja schon haben. Die Frage ist: Mit welchen Fördermöglichkeiten kann man das unterstützen? Wie können wissenschaftliche Institutionen, Forschungseinrichtungen, Unternehmen, Startups und Kapitalgeber möglichst gut zusammengebracht werden? – Wenn sie nicht nebeneinander sitzen, können sie sich ja digital vernetzen. Allerdings scheint es ab und zu, wenn es um richtig viel Kapital geht, auch noch notwendig zu sein, dass man sich persönlich sieht. Auch das ist ja nicht schlecht.

Meine Damen und Herren, es ist viel zu tun. Wir sind allerdings auch ganz schön vorangekommen. Nächstes Jahr wird es wieder einen IT-Gipfel geben. Wir haben schon festgelegt, dass er in Saarbrücken stattfinden soll. Damit keiner enttäuscht ist, haben wir auch gleich noch den Ort für das übernächste Jahr festgelegt; dann wird der Gipfel nämlich in Rheinland-Pfalz stattfinden. Ich hoffe, so sind noch mehr Leute hier im Saal zufrieden, als wenn ich nur eine Stadt genannt hätte.

Danke für Ihr Mitmachen, danke für Ihre Anwesenheit. Alles Gute. Und lassen Sie uns nach vorne schauen.