Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Vollversammlung der IHK Nord am 6. Juni 2017 in Greifswald

  • Bundeskanzler ⏐ Startseite
  • Olaf Scholz

  • Aktuelles

  • Kanzleramt

  • Mediathek 

  • Service

Sehr geehrter Herr Blank,
sehr geehrter Herr Vater,
sehr geehrte Magnifizenz, liebe Frau Professor Weber,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Kollege aus dem Landtag, lieber Herr Liskow,
sehr geehrte Vertreter der Universität und vor allem der Industrie- und Handelskammern aus den norddeutschen Ländern,

Sie haben mit der Universität Greifswald einen Veranstaltungsort gewählt, der auf große wissenschaftliche und geistesgeschichtliche Traditionen der Stadt Greifswald verweist, die zu meinem Wahlkreis gehört. Deshalb war es mir eine besondere Freude, hierherzukommen. Ich freue mich darüber, dass sich in diesem Teil des Nordens die Industrie- und Handelskammern aller norddeutschen Bundesländer treffen. Dass Sie diesen wunderbaren Ort gewählt haben – Frau Professor Weber hat dies schon dargestellt –, spricht für sich; denn es handelt sich um eine der ältesten akademischen Bildungsstätten Deutschlands.

Vor 270 Jahren begann der Bau dieser barocken Aula. Die Gründung der Universität lag damals schon 290 Jahre zurück. Damit sind wir inmitten des 15. Jahrhunderts. Die Hanse und der Handel sind heute bereits genannt worden. Die Hanse hatte damals ihre größte Blütezeit schon hinter sich. Der rege Handel aber hatte den Wohlstand der beteiligten Städte kräftig gemehrt. Ein Greifswalder Bürgermeister nutzte die Gunst der Stunde, um die Wissenschaft zu fördern. An diesem Beispiel kann man sehen, dass sich strategische Investitionen als langlebig erweisen können. Die Universität wiederum förderte die weitere Entwicklung der Stadt – auch wirtschaftlich. Das heißt, Wirtschaft und Wissenschaft stehen hier in Greifswald in einer sehr produktiven Symbiose. Wir bemühen uns heute mit allen Kräften, dies für künftige Generationen weiterzuführen. Ich kann also zu der Ortswahl nicht nur wegen der Aula gratulieren. Vielmehr macht auch die Tatsache, dass die IHK Nord an diesem Ort tagt, deutlich, dass Ihnen Bildung ebenfalls etwas wert ist, dass sie wichtig ist, dass sie die Basis für Innovation ist.

Ich fand die Ausführungen von Frau Professor Weber sehr interessant. Sie hat gesagt, dass auch die Zeit an der Universität, wenn man danach in eine berufliche Ausbildung übergeht, nicht per se verschwendet sein muss. Ich muss dazu sagen: Wir haben ein ziemlich geordnetes System, wenn man von der Schule an die Universität geht oder wenn man eine berufliche Ausbildung aufnimmt; wir haben aber noch relativ wenige Erfahrungen – allerdings gibt es schon erste Projekte –, wenn es darum geht, dass Studenten die Universität verlassen und dann in eine berufliche Ausbildung gehen. Es besteht die Gefahr, dass sie nach dem Verlassen der Universität keine berufliche Qualifizierung mehr machen und sie daher im Grunde genommen keinen richtigen Abschluss haben. Da gibt es zum Teil ziemlich große Probleme, weil man nicht ganz genau weiß, wann jemand die Universität verlässt. Ich glaube, bei diesem Thema könnte die Kooperation bundesweit noch verbessert werden, auch wenn die Hochschulgesetze in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich sind. Unser Ziel muss sein, dass jeder, auch wenn er einen Umweg gegangen ist, zum Schluss einen Berufs- oder einen Studienabschluss hat.

Bildung, Forschung, Innovation und wirtschaftlicher Erfolg – das ist eine Kette, die dazu führt, dass wir in Deutschland auch in Zukunft gut leben können. Daher ist es auch gut, sagen zu können, dass sich die Universität Greifswald einer großen Beliebtheit erfreut. Natürlich gibt es auch Unzufriedenheit wie überall; das ist klar. Rund 10.500 Studierende lernen und forschen hier. Das ist eine leistungsstarke, forschungsstarke und international vernetzte Hochschule, die eher zu den kleineren bis mittleren Hochschulen zählt, dafür aber ein sehr intensives Betreuungs- und Lehrverhältnis hat.

Leistungsstark, forschungsstark und international vernetzt – das sind Eigenschaften, die auch die norddeutsche Wirtschaft auszeichnen; genauer gesagt: die zwölf Kammerbezirke der IHK Nord. Hier sind zahlreiche Weltmarktführer beheimatet. Sie profitieren genauso wie alle anderen von der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Lage. Allerdings haben sie auf einen Punkt aufmerksam gemacht, dem wir durchaus ins Auge sehen müssen: Die Unterschiede bezüglich der wirtschaftlichen Stärke nehmen im Augenblick nicht ab, sondern zu. Natürlich bestünde gerade in guten Zeiten die Möglichkeit, die strukturellen Bereiche, gerade auch im Norden, zu stärken. Das ist einer der Gründe, warum ich heute als Bundeskanzlerin hier bin; nämlich weil ich glaube, dass wir seitens der Politik durch die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen durchaus dazu beitragen können.

Die Konjunktur hat in Deutschland zu Beginn des Jahres noch einmal an Schwung gewonnen. Die allermeisten Unternehmen schauen im Augenblick optimistisch nach vorne. Sie beweisen das auch durch eine gute Investitionstätigkeit. Wir sehen nach wie vor, dass der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt ankommt. Das heißt, die Zahl der Beschäftigten steigt. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist seit dem Jahr 2005 um fast 5,5 Millionen gestiegen. Das ist schon eine unglaubliche Bilanz, wenn man sich einmal überlegt, wie dies die Lebenssituationen von vielen Menschen und Familien positiv verändert hat. Es gibt auch ein Lohnplus. Die Reallöhne wachsen seit 2014 stärker als in den Jahren zuvor, zum Teil auch stärker als die Produktivität. Das geht eine Weile gut, aber natürlich nicht auf Dauer. Aber nach den vielen Jahren eines nicht wachsenden Reallohnniveaus ist das schon eine gute Botschaft.

Die Tatsache, dass die wirtschaftliche Lage ordentlich und gut ist, ist zuallererst den Betrieben, den Unternehmern, aber auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verdanken. Ein Grund hierfür ist aber auch, dass wir vonseiten der Politik versucht haben, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vernünftig zu gestalten.

Heute wurde das Segelsetzen schon erwähnt. Fangen wir einmal mit Handelsfragen an. Ich denke, für uns Deutsche als große Exportnation ist ein freier und fairer Handel von allergrößter Bedeutung. Deshalb widersetzen wir uns protektionistischen Tendenzen. Sie könnten vielleicht kurzfristig zu Erfolgen führen, aber mittel- und langfristig – davon sind wir fest überzeugt – sind sie schädlich. Deshalb sollten wir unsere Stärken im internationalen Handel auch wirklich ausspielen und unsere Spezialisierungen in die Exporte einbringen können.

Da wir hier in einer Hansestadt sind, ist, denke ich, der Wert des freien Handels nicht lange zu begründen. Wir als Bundesrepublik Deutschland sind ein Beispiel, um zeigen zu können, dass Wohlstand und offene Märkte nicht gegeneinanderstehen, sondern sich gegenseitig bedingen. Das heißt, dass offene Märkte und freier Handel die Basis sind, um die gute wirtschaftliche Lage in Deutschland zu erhalten. Sie sind auch die Basis, um die wirtschaftliche Stärke Europas zu verbessern. Sie sind letztendlich auch die Basis für Wachstum und Beschäftigung weltweit.

Deshalb wollen wir, genauso wie Sie es gesagt haben, auch das multilaterale Handelssystem der Welthandelsorganisation stärken. Es baut auf gemeinsamen Regeln auf. Wir werden schauen, inwieweit wir gerade auch bei dem in Kürze stattfindenden G20-Gipfel in Hamburg diese Prinzipien unter den 20 größten Industrienationen wieder verankern können. Wir hatten darüber auch eine sehr intensive Diskussion im Kreis der G7, in dem wir gewisse Fortschritte erreichen konnten. Aber die Frage des Kampfes gegen Protektionismus muss uns alle noch beschäftigen.

Ergänzend arbeiten wir auf europäischer Seite an bilateralen und regionalen Handelsabkommen. Sie wissen, dass für uns die Europäische Union verhandelt. Wir haben das Abkommen mit Kanada abschließen können. Wir sind jetzt dabei, das Abkommen mit Japan voranzutreiben. Als der indische Premierminister in der vergangenen Woche in Deutschland war, haben wir noch einmal ein Bekenntnis dazu abgegeben, dass die Verhandlungen über ein bilaterales Handelsabkommen mit Indien beschleunigt werden sollen. Wir brauchen eine Investitionspartnerschaft mit China. Dabei sind wir auch noch nicht so weit, wie wir es gern wollen.

Von unserer, von deutscher Seite aus sind wir auch offen dafür, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika wieder aufzunehmen. Dabei geht es nicht darum, dass wir unsere Standards absenken, sondern es geht darum, dass wir Vereinbarungen treffen – das Abkommen mit Kanada hat es gezeigt –, die gerade auch soziale, ökologische und Verbraucherschutzstandards festigen können. Moderne Freihandelsabkommen sind längst nicht mehr nur Abkommen über Zollsenkungen, sondern es geht auch um eine Vielzahl von nichttarifären Fragen. Deshalb denke ich: Wenn wir für die großen Märkte – den europäischen und den amerikanischen Markt – miteinander ein solches Abkommen abschließen könnten, würde das auch standardsetzend für weitere Handelsabkommen weltweit wirken.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang oft auch über Handelsbilanzdefizite oder – von Deutschland aus gesehen – über Handelsbilanzüberschüsse. Ich denke, man muss als zusätzliche Größe auch die Direktinvestitionen der deutschen Wirtschaft sehen. Wir haben zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmt achtmal so viele Direktinvestitionen von deutscher Seite in Amerika wie von amerikanischer Seite in Deutschland. Damit tragen wir natürlich auch zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation eben zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika bei.

Aber es geht natürlich nicht nur um Auslandsinvestitionen, sondern es geht auch um Investitionen in Deutschland. Was können wir tun, um die Standortbedingungen hier zu verbessern? Wir haben in dieser Legislaturperiode die Einkommensteuer nicht nur nicht erhöht, sondern wir haben durch Bekämpfung der kalten Progression für eine Entlastung bei der Einkommensteuer um etwa elf Milliarden Euro pro Jahr gesorgt. Wir haben die Regeln für die steuerliche Verlustverrechnung verbessert. Das hilft insbesondere den Start-ups, wenn sie wachsen wollen. Wir haben bürokratische Lasten unter die Lupe genommen und die Bürokratiebremse eingeführt. Das heißt, wir haben, wenn an einer Stelle Lasten durch neue Regeln entstehen, entsprechende Lasten an anderer Stelle abgebaut. Viele haben gesagt: Das werdet ihr gar nicht hinbekommen. Ich darf Ihnen jedoch sagen, dass das für die bundesweite Gesetzgebung seit zwei Jahren funktioniert und wir unser Versprechen eingehalten haben.

Wir wollen auch dadurch entlasten, dass wir den Schwellenwert zur sofortigen Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter anheben; und zwar von 410 Euro auf 800 Euro ab dem 1. Januar 2018. Wir meinen, dass wir auch in der nächsten Legislaturperiode nicht nur grundsätzlich keine Steuern erhöhen wollen, sondern dass wir noch einmal einen Schritt zur Entlastung bei der Einkommensteuer gehen können. Auf der einen Seite wollen wir natürlich ein solides Steueraufkommen haben, um auch Investitionstätigkeiten zu ermöglichen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass das, was Unternehmen an Erleichterungen erhalten, natürlich Investitionen privater Art fördert.

Das alles findet im Rahmen einer soliden Haushaltspolitik statt. Beim Bund haben wir in dieser Legislaturperiode keine neuen Schulden gemacht. 2014 sind wir im Vollzug schuldenfrei herausgekommen. 2015, 2016 und 2017 haben wir Haushalte vorgelegt, die keine Neuverschuldung ausweisen. Das ist im Grunde auch eine Investition in die Zukunft. Denn wir verschulden uns nicht auf Kosten kommender Generationen. Sie wissen, dass das gerade auch angesichts des demografischen Wandels sehr wichtig ist. Wir müssen auch Investitionsspielräume für die Zukunft erhalten.

Wir haben bei den Möglichkeiten staatlicher Investitionen sehr stark zugelegt. Wir sind im Augenblick in der Situation, dass gar nicht das gesamte Geld umgesetzt werden kann. Zum Beispiel sind wir beim Ausbau von Kitaplätzen nicht in der Lage, die Bundesgelder durch die Länder so in Anspruch nehmen zu lassen, dass sie abfließen. Es gibt dieses Phänomen an verschiedenen Stellen – auch im Hinblick auf die Straßen- und Verkehrsinfrastruktur. Das heißt, unser Nadelöhr sind im Augenblick die Planungskapazitäten, die in den Jahren der Investitionsschwäche abgebaut wurden und die jetzt fehlen. Die Planungsprozesse sind natürlich auch sehr, sehr kompliziert.

Es geht also um Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Seit 2013 haben wir diese um mehr als drei Milliarden Euro auf jetzt fast 14 Milliarden Euro gesteigert. Da gibt es natürlich auch im Norden eine ganze Reihe von Projekten, die vorangetrieben werden können. Sie haben auch selbst angesprochen, dass die Anbindung an die Häfen natürlich von strategischer Bedeutung ist, weil sie unverzichtbare Drehscheiben des nationalen und internationalen Handels sind. Wenn wir an Hamburg denken, dann wissen wir, dass wir uns seit langem mit der Elbvertiefung quälen, sage ich einmal. Das Ganze sieht jetzt relativ positiv aus, aber ich habe schon viele Hinweise aus Panama bekommen, dass wir uns ein bisschen sputen sollen, denn der Ausbau des Panamakanals ist beendet. Wenn man dann noch beobachtet hat, wie schnell der Suezkanal modernisiert wurde, dann wird man doch ein bisschen nachdenklich in Bezug darauf, wie lange die gesamten Prozesse in Deutschland dauern.

Die A 26 soll nach ihrer Fertigstellung die A 1 und die A 7 miteinander und mit dem Hamburger Hafen verbinden. Auch der Ausbau der A 7 geht weiter. Die Küstenautobahn A 20 soll am Ende von der polnischen Grenze durch Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen bis in Richtung Niederlande führen. Im Augenblick ist Bad Segeberg ein strategischer Punkt, wie ich im Landtagswahlkampf in Schleswig-Holstein lernen durfte. Ich habe dann immer gesagt: Wissen Sie, auf dem Teil der fertiggestellten A 20, den wir hier in Mecklenburg-Vorpommern haben, fährt es sich wunderbar; das darf ich Ihnen verraten.

Wir wollen auch auf der Schiene vorankommen, insbesondere natürlich auch bei der Hinterlandanbindung der Seehäfen. Beispiele dafür sind der Aus- und Neubau von Strecken im Raum Hamburg, Bremen, Hannover sowie der Knotenpunkt Hamburg und die Ausbaustrecke Oldenburg-Wilhelmshaven.

Dann sind wir bei den Seeverbindungen, beim Nord-Ostsee-Kanal. Hier haben wir uns ja auch mit jeder Schleuse einzeln befasst. Ich meine, der Nord-Ostsee-Kanal war vor 120 Jahren wirklich eine sehr, sehr strategische Investition; und er ist heute noch die weltweit am meisten befahrene künstliche Wasserstraße. Er ist zum Beispiel stärker als der Suezkanal befahren, was viele gar nicht wissen.

Zum Thema Infrastruktur im klassischen Sinne kommt natürlich das Thema digitale Infrastruktur dazu. Wir haben mit dem DigiNetz-Gesetz den Ausbau beschleunigen können. Es geht dabei um Glasfaserkabel für die Zukunft. Wir haben mit dem Vectoring eine Technologie gewählt, die uns, was den Glasfaserausbau anbelangt, schlechter dastehen lässt, als die reale Situation ist. Dennoch sind die Ausbaumöglichkeiten durch das Vectoring begrenzt. Wir werden zwar die 50 Megabit pro Sekunde 2018 für jeden Haushalt erreicht haben, aber wir müssen vor allem in den Gewerbegebieten für die Unternehmen natürlich in die Gigabit-Zeit vorstoßen. Wir haben jetzt sehr gut die vier Milliarden Euro auf den Weg gebracht, die für den Ausbau der Breitbandverbindungen in den ländlichen Räumen vorhanden sind. Durch die Versteigerung der Frequenzen für den 5G-Bereich werden wir noch einmal Geld bekommen, mit dem wir den Gigabit-Ausbau in den nächsten Jahren erheblich vorantreiben können.

Jetzt komme ich zum Thema „Infrastruktur und Stromnetze“. Dazu muss ich jetzt sagen: Wir sind hier ja sehr harmonisch vereint, aber dass Sie nun von einem Stein gesprochen haben, den wir mit dem EEG in den Weg gelegt hätten, fordert mich doch etwas heraus. Es gibt eine Garantie dafür, dass jeder, der erneuerbare Energien installiert, dafür auch eine Abnahme hat. Diese Garantie können wir natürlich nur geben, wenn der Leitungsausbau auch einigermaßen harmonisch mit dem Ausbau der Windenergie einhergeht. Das haben wir natürlich nicht in der Hand, weil wir – dankenswerterweise, werden die Eigentümer von Windkraftanlagen sagen – nicht jeden zwingen, auch gleich noch ein Stück Leitung dazu zu bauen. Aber vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir mit Blick auf das EnLAG, das Energieleitungsausbaugesetz, Jahre zurück liegen – zum Beispiel gerade auch bei den großen, im westlichen Bereich liegenden Trassen durch Niedersachsen –, kann die Politik natürlich nicht ohne jegliche Reaktion bleiben. Wir können doch, wenn der Strom von Windkraftanlagen auf See nicht in den Süden kommt, wo die Abnehmer sind, nicht sehenden Auges der deutschen Bevölkerung jedes Jahr weitere Umlagen zumuten, ohne dass irgendein Fortschritt zu sehen ist.

Deshalb haben wir Gebiete definiert, in denen erst einmal Leitungen gebaut werden müssen, womit dann die Möglichkeit besteht, wieder die Kapazität für den Ausbau der Windenergie zu erhöhen. Die südlich gelegenen Bundesländer sagen nämlich: Wenn ihr im Norden dauernd Strom produziert, den ihr uns nicht zuleiten könnt, dafür aber die EEG-Umlage permanent steigt, dann wäre es sinnvoller, wir würden in den etwas windschlechteren Gebieten unsere eigenen Windkraftanlagen nahe an den Industriebetrieben bauen, weil das dann in der Summe billiger wäre als ein Ausbau, bei dem der Strom nicht transportiert werden kann.

Deshalb kann ich nur sagen, wenn ich darum bitten darf: Sagen Sie nicht, dass wir Ihnen Steine in den Weg legen, sondern forcieren Sie bei Ihren Landesregierungen, dass diese EnLAG-Ausbaukapazitäten auch wirklich durchgesetzt werden. Auch seitens der Bundesregierung sprechen wir mit den Ministerpräsidenten darüber. Wir wissen, wie schwer es ist, wenn es Gerichtsverfahren gibt. Aber wir müssen auch wirklich gemeinsam sagen: Es müssen Leitungen gebaut werden. – Jetzt habe ich schon länger darüber gesprochen, als ich wollte. Ich bin dann auch bei den Netzentgelten. Da brauchten wir ja gar keinen Stein in den Weg zu legen; der liegt da seit 1990. Und der muss weggeräumt werden.

Nebenbei noch einmal zurück zum neuen EEG: Dieses neue Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Paradigmenwechsel. Denn zum ersten Mal definieren wir Mengen. Diese Mengen werden dann ausgeschrieben. Und die billigsten Anbieter bekommen den Zuschlag – im Übrigen auch Bürgerparks, wie wir kürzlich erlebt haben. Am Anfang wurde gesagt: Das wird sich gar nicht auswirken. Wir haben plötzlich festgestellt, dass die Gebote deutlich unter den heute gezahlten Marktpreisen liegen. Das heißt, die Ausschreibungen erfüllen ihren Sinn. Wir haben auf See Anbieter, wobei man sagen kann: Da ist die Subventionierung fast weg; da könnte man sozusagen fast ohne Subventionen Windkraft erzeugen. Das sind sehr positive erste Impulse durch Ausschreibungen. Mit Ausschreibungsmengen werden wir in Zukunft natürlich auch sehr viel besser kontrollieren können, wie viel Erzeugung aus erneuerbaren Energien wir zubauen; und das ist natürlich wichtig für den Strompreis.

Was die Netzentgelte betrifft, ist es in der Tat so, dass durch die verschiedenen Zonen, in denen die Netzentgelte erhoben werden, der Norden benachteiligt ist – insbesondere auch der Nordosten; aber nicht nur der Nordosten, sondern auch andere Bundesländer. Im Augenblick tobt ein schwieriger Kampf darüber, wie wir denn diese Umlage insgesamt, sozusagen gesamtdeutsch, am besten hinbekommen. Der Gesetzentwurf liegt noch im Deutschen Bundestag. Wir haben noch zwei Sitzungswochen Zeit, um uns eine Lösung zu überlegen. Das Problem besteht darin, dass die großen stromintensiven Industriebereiche zwar von der EEG-Umlage befreit sind, aber nicht von der Netzentgeltumlage. Das heißt, wenn ich von einem Tag auf den anderen sehr viel höhere Netzentgelte zum Beispiel hier aus dem Osten auf ganz Deutschland überwälze, dann habe ich in Nordrhein-Westfalen in allen Aluminiumhütten und in allen Stahlwerken plötzlich signifikant höhere Stromkosten. Das bedeutet dann natürlich eine Situation, die nicht ganz einfach ist. Trotzdem haben wir versprochen, mit den Ministerpräsidenten eine Einigung zu erreichen. Das wird sicherlich nicht von einem Tag auf den anderen gehen, aber wir werden jedenfalls versuchen, noch eine Lösung hinzubekommen. Dass Sie das beschwert, verstehe ich sehr gut. Es ist ein strategischer Nachteil des Nordens, gerade auch im Bereich energieintensiver Industrien.

Meine Damen und Herren, jetzt komme ich zu einem Thema, das auch hier schon angesprochen wurde: Neben Infrastrukturen und neben Rahmenbedingungen für Investitionen geht es auch um die Frage des Zusammenspiels von Forschung und Wirtschaft. Wir haben die Forschungsausgaben seitens des Bundes seit 2005 mehr als verdoppelt, aber natürlich erbringt die Wirtschaft den größten Teil der Forschungsinvestitionen. Was wir hier mit Sorge betrachten – gerade auch angesichts der Digitalisierungsentwicklung; einer disruptiven Entwicklung, wie hier gesagt wurde –, ist, dass die Forschungsausgaben des Mittelstands in den letzten Jahren eher zurückfallen als ansteigen. Deshalb haben wir nach langer Diskussion jetzt doch, glaube ich, ein parteiübergreifendes Einvernehmen, dass wir für mittelständische und kleine Unternehmen eine steuerliche Forschungsförderung brauchen, weil das einfacher ist, als Anträge auf Forschungszuschüsse zu stellen, was bei großen Unternehmen funktioniert, aber nicht bei kleinen und mittleren.

Wir haben in dieser Legislaturperiode sehr viel in die Frage investiert, wie wir die deutsche Wirtschaft bei der Umsetzung dessen, was wir Industrie 4.0 nennen – also bei der Digitalisierung der Wertschöpfungsketten –, unterstützen können. Hierfür haben wir unter anderem Kompetenzzentren für den Mittelstand eingerichtet, die von den Standards bis hin zum Thema Cybersicherheit fachliche Beratung geben. Ich hoffe, dass das auch vernünftig bei den Unternehmen ankommt.

Ich glaube, dass in der deutschen Wirtschaft inzwischen klar geworden ist, wie wichtig digitale Fertigung, Entwicklung und Planung sind, und dass jeder weiß, dass sich Abläufe im Betrieb auf dramatische Weise verändern. Dennoch mache ich mir um einen Punkt Sorge. Sie haben mit etwas spitzer Zunge das Thema Datenschutzgrundverordnung genannt. Die deutsche Wirtschaft war, als diese beschlossen war, erst einmal der Meinung, dass das besser ist, als wenn wir überhaupt keinen Rechtsrahmen für das Management von großen Datenmengen haben. Dennoch hat sie viele Unzulänglichkeiten, viele unbestimmte Rechtsbegriffe. Wir müssen sehr darauf achten, dass wir das richtig auslegen. Wir müssen ein positives Verhältnis in Europa und insbesondere in Deutschland zum Verarbeiten großer Datenmengen entwickeln. Denn ich glaube fest daran, dass die Digitalisierung nicht dazu führt, dass wir per se weniger Arbeitsplätze haben werden. Wenn aber die Arbeitsplätze, die wegfallen, nicht durch neue Arbeitsplätze ersetzt werden, die aus dem Management großer Datenmengen entstehen, weil dafür die Rahmenbedingungen nicht gut sind, dann werden wir natürlich Probleme haben. Wenn wir künstliche Intelligenz oder das Big-Data-Management auf europäischem und auf deutschem Boden nicht vernünftig entwickeln können, dann haben wir ein Problem.

Meine Sorgen bestehen darin, ob die Wirtschaft schon erkannt hat, dass die eine Disruption die ist, dass ich in der Wertschöpfungskette des Industriellen vieles digital abbilden kann, dass aber die vielleicht noch größere Disruption ist, dass sich meine Geschäftsbeziehungen mit dem Kunden völlig verändern. Der Kunde wird in der Zukunft mit keinem Produkt von der Stange mehr zufrieden sein. Vielmehr will der Kunde sein individualisiertes Produkt. Und am liebsten will er, dass schon bekannt ist, was er will, bevor er es überhaupt ausgesprochen hat. Die große Frage ist, ob die, die alles über uns wissen, also sozusagen die Internetanbieter, die deutsche Wirtschaft beim Schlafittchen packen und zum Schluss zu einer verlängerten Werkbank machen oder ob wir, die wir eigentlich die industrielle Hoheit haben, auch diejenigen sein werden, die das Produktdesign machen und die Kontakte zum Kunden aufbauen, die viel breiter, viel verwobener sein werden, als wir das heute in den Kundengeschäftskontakten kennen.

Letzte Woche führten wir mit einer chinesischen Delegation ein Wirtschaftsgespräch. Daran hat auch der Chef von Alibaba teilgenommen; und der hat gesagt: C2B – Kunde zu Business; das wird die eigentliche Herausforderung sein; und wer diese Schlacht gewinnt, der wird sozusagen der Weltmarktführer in der Zukunft sein. Da mache ich mir doch ein bisschen Sorgen, ob wir das schon in der vollen Breite erkannt haben und ob wir das Werkzeug haben, das auch wirklich umzusetzen, oder ob wir uns doch wieder in die Abhängigkeit großer Internetunternehmen begeben müssen, die nicht in Deutschland und nicht in Europa lokalisiert sind.

Ich wollte gar keine depressive Rede halten, aber es ist ja doch immer wieder wichtig, dass man die Herausforderungen definiert. Ich wollte Ihnen vielmehr sagen, dass wir insgesamt mit Weltoffenheit auf die Herausforderungen antworten wollen. Wir werden mit dem G20-Gipfel in Hamburg Gastgeber sein und haben uns das Motto gegeben: „Eine vernetzte Welt gestalten“. Wir haben uns dazu als Symbol einen Kreuzknoten aus der Schifffahrt genommen, der, je größer die Spannung bzw. die Zugkraft, die an ihm wirkt, ist, umso fester ist.

In diesem Sinne wünsche ich dem Norden viel Erfolg bei seiner weiteren wirtschaftlichen Entwicklung – ob disruptiv oder nicht disruptiv, sei dahingestellt – und freue mich jetzt auf die Diskussion.