Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Radboud Universität zu Nimwegen

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Mark Rutte,
sehr geehrte Minister aus Deutschland und den Niederlanden,
sehr geehrter Kommissar des Königs, Herr Cornielje,
sehr geehrte Botschafter,
sehr geehrter Rector Magnificus, lieber Herr Professor Kortmann,
sehr geehrter Verwaltungsratspräsident, Herr Professor Meijers,
verehrte Damen und Herren,
Professoren der Universität,
Studentinnen und Studenten,

die Verleihung einer Ehrendoktorwürde setzt immer auch ein Zeichen des Vertrauens. Deshalb empfinde ich die Verleihung der Ehrendoktorwürde Ihrer Universität als Ehre sowohl für mich persönlich als auch für die Bundesrepublik Deutschland. Ich möchte mich bei Ihnen ganz herzlich bedanken.

Diese Ehre wird noch dadurch unterstrichen, dass Sie den 90. Jahrestag der Universitätsgründung in diesen Tagen feierlich begehen. Sie feiern eine außerordentlich erfolgreiche Entwicklung, wie wir an den einführenden Worten erfahren konnten. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Jubiläum. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen für die nächsten Jahrzehnte ein Konservatorium wünschen soll; das müssen Sie selbst entscheiden. Aber auch die bisherige Bilanz ist schon ausgesprochen erfolgreich.

Ich danke Ihnen dafür, dass ich an den Feierlichkeiten teilhaben darf und dass Sie für den heutigen Festakt diesen wunderbaren Ort, die altehrwürdige Stevenskirche, gewählt haben. In der Tat: ich als protestantische Pastorentochter, Sie als katholische Universität und ein Festakt in einer ökumenischen Kirche – daran lässt sich ein gutes Stück europäischer Geschichte ablesen.

Meine Damen und Herren, Vertrauen ist ein hohes Gut. Auch dafür bietet die europäische Geschichte ein großartiges Beispiel mit der europäischen Einigung. Nach Jahrhunderten von Missgunst, Gewalt und schrecklichen Kriegen kostete es großen Mut, Vertrauen zu wagen. Deutschland, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unsägliches Leid über Europa, auch über Ihr Land, gebracht hatte, durfte das Geschenk neuen Vertrauens erfahren – auch und gerade durch unsere niederländischen Nachbarn. Das werden wir Deutschen Ihnen nie vergessen.

Über den Gräbern und Ruinen zweier verheerender Kriege haben sich die Völker Europas einander die Hand der Versöhnung gereicht. Sie gaben sich damals einen Vertrauensvorschuss. Dieser Vertrauensvorschuss hat über Jahrzehnte reiche Früchte getragen. Dank der europäischen Einigung sind aus einstigen Feinden heute verlässliche Partner und Freunde geworden. Dank der europäischen Einigung gelang der gemeinsame Wiederaufbau eines geschundenen Kontinents. Dank der europäischen Einigung schufen weitsichtige Frauen und Männer auf dem Fundament gemeinsamer freiheitlicher Werte ein Gesellschaftsmodell, das wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung vereint. Es ist ein Gesellschaftsmodell, das über Ländergrenzen hinweg von Freizügigkeit und einem regen Miteinander lebt.

Das ist besonders in den Regionen unmittelbarer Nachbarschaft wie hier förmlich zu greifen. Für viele in Nimwegen und Kleve ist es jedenfalls ganz selbstverständlich, die Sprache des jeweils anderen zu sprechen, sie zumindest zu verstehen. Tagtäglich überqueren Deutsche und Niederländer die Grenze, um auf der jeweils anderen Seite zu arbeiten, einzukaufen oder Freunde zu besuchen.

Wir freuen uns über unzählige Verbindungen – zum Beispiel über junge Deutsche und Niederländer, die an Universitäten im jeweiligen Nachbarland studieren. Allein an der Radboud Universität sind etwa 2.000 deutsche Studenten eingeschrieben. Man studiert nicht nur und bekommt eine hervorragende Ausbildung, sondern jeder Einzelne, der hier studiert und seine Ausbildung bekommt, erfährt auch etwas über die Sprache des anderen, über die Geschichte, die Kultur, die Sichtweisen. Man lernt sich besser kennen, erweitert den eigenen Horizont, knüpft neue Bande, die das vertrauensvolle Verhältnis stärken und bewahren. So wird Schritt für Schritt Europa gelebt.

Das Interesse vieler Deutscher für die Niederlande speist sich gewiss auch aus der Tatsache, dass Ihr Land geradezu traditionell Weltoffenheit und Toleranz verkörpert. Die Niederlande stehen für die Traditionen der europäischen Aufklärung. Auch wenn in wenigen Tagen König Willem-Alexander und Königin Máxima zu ihrem ersten Staatsbesuch nach Deutschland kommen, können sie davon ausgehen, dass ihnen die Sympathie vieler Deutscher sicher ist. Schon die Feierlichkeiten zur Amtseinführung von König Willem-Alexander haben viele von uns mit freudiger Anteilnahme verfolgt.

Die Verbundenheit unserer beiden Länder findet ihren Ausdruck nun auch in den ersten deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen. Ministerpräsident Rutte und ich sind mit etlichen Mitgliedern unserer Kabinette heute in Kleve zusammengekommen. Lieber Mark, ich danke dir für diese Initiative. Es war ein sehr schönes Erlebnis. Es war vor allen Dingen auch ein wunderschönes Erlebnis, diese deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen in der Grenzregion durchzuführen und gelebte Gemeinsamkeit zu sehen. Herzlichen Dank dafür, dass wir diesen Tag nun auch durch diese Feier hier in Nimwegen ergänzen können.

Wir haben heute in unseren Gesprächen bemerkt, dass wir in sehr vielen Überzeugungen – europapolitischen, aber auch in jeweiligen Landesfragen – doch sehr stark übereinstimmen. Wir sind als Nachbarländer nicht nur wirtschaftlich auf das Engste miteinander verflochten, sondern stehen als Nachbarländer auch vor gleichen Herausforderungen. Das sind Herausforderungen, die neues Denken erfordern: Kann man sie besser lösen, wenn man es gemeinsam versucht?

Für die politische Zusammenarbeit gilt das Gleiche wie für wirtschaftliche und andere Kontakte: Vertrauen ist die Grundlage erfolgreicher Kooperation. Auch die Wirtschafts- und Währungsunion in Europa hat jahrelang von einem Vertrauensvorschuss gelebt – dem Vertrauen darauf, dass Solidität und Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten sich einander annähern oder zumindest nicht auseinanderfallen. Dieses Vertrauen hat sich zum Beispiel auch dergestalt geäußert, dass alle Euro-Staaten für ihre Staatsanleihen annähernd gleich niedrige Zinsen genießen konnten. Mit diesem niedrigen Zinsniveau aber gingen die Länder zum Teil sehr unterschiedlich um – mit den heute bekannten Folgen. Damit kam es zu einer Vertrauenskrise in die gemeinsame Währung. Die Schuldenkrise hat uns also gezeigt, wie Fehlentwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten die Wirtschafts- und Währungsunion insgesamt in Schwierigkeiten bringen können. Das Vertrauen der Investoren brach in kürzester Zeit ein, als die Schuldentragfähigkeit einiger Länder in die Diskussion geriet.

Da musste Europa handeln. Lieber Mark, wir dürfen heute sagen: Europa hat gehandelt. Wir haben eine Strategie entwickelt, um das Vertrauen in die Wirtschafts- und Währungsunion wiederherzustellen und damit die Europäische Union als Ganzes zu stabilisieren. Aber die Arbeit ist noch nicht ganz getan. Im Kern standen und stehen drei Aufgaben im Vordergrund.

Erstens: akutes Krisenmanagement. Es hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, dass europäische Solidarität und nationale Eigenverantwortung Hand in Hand gehen. Wer Reformanstrengungen auf sich nimmt, hat auch unsere Solidarität verdient. Das war und ist unsere Maxime.

Zweitens: Es hat keinen Sinn, Krisen – und schon gar nicht solche tiefgreifenden Krisen wie diese – an der Oberfläche zu bekämpfen, sondern es muss um die Bekämpfung der Ursachen gehen. Die Ursachen sind in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedlich gelagert. Überhöhte Staatsverschuldung kann ausschlaggebend sein, es können aber auch gravierende Probleme im Bankensektor oder ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit sein. Oft kommen alle Probleme zusammen. Neben den Ursachen in den von der Krise betroffenen Euro-Mitgliedstaaten haben wir es darüber hinaus mit Gründungs- und Konstruktionsfehlern der Wirtschafts- und Währungsunion selbst zu tun. Auch diese Ursache der Schuldenkrise haben wir bekämpft.

Das Ziel wird eine wesentlich stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung in der Eurozone oder in ganz Europa sein. Das Ziel ist heute schon eine sehr viel stärkere Koordinierung der fiskalischen Disziplin. Denn es geht drittens darum, dass sich solche Krisen nie wiederholen.

Deshalb glaube ich, dass sich dann, wenn wir Schritt für Schritt voranschreiten, wenn jeder bei sich zu Hause die Hausaufgaben macht und wir gemeinsam zusammenhalten, wieder Vertrauen in unser Europa gewinnen lassen wird. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das gelingt. Ich sage aber auch: Die Krise ist nicht von vorgestern auf gestern entstanden, sie ist über viele Jahre entstanden. Deshalb liegt vor uns in Europa – und das gilt für alle Länder; auch für Deutschland – noch ein langer und durchaus nicht einfacher Weg, zumal sich die Welt um uns herum verändert. Wenn wir erfolgreich sein wollen, wenn wir in Wohlstand leben wollen, müssen wir uns einem fairen Wettbewerb mit den anderen auf der Welt stellen.

Das heißt, wir müssen nicht nur Haushaltskonsolidierung betreiben, was ja nichts anderes bedeutet, als nicht auf Kosten der Zukunft zu leben – es ist sowieso verwunderlich, wie es geschehen konnte, dass wir ganz selbstverständlich anders handeln als im Grunde wie jede Familie, indem wir Jahr für Jahr mehr ausgeben als wir einnehmen –, sondern es gilt, auch Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Deshalb sage ich auch hier noch einmal, was ich zu Hause immer wieder sage: Es geht nicht allein um Haushaltskonsolidierung – heute im Allgemeinen „Austerität“ genannt, weil sich das noch etwas schrecklicher anhört – oder allein um Wachstum, sondern es geht darum, auf der Basis solider Finanzen Wachstum zu erzeugen und wettbewerbsfähig zu sein.

In den besonders krisengeschüttelten Ländern wird den Bürgerinnen und Bürgern in Europa zurzeit ohne Zweifel sehr viel abverlangt. Das Schwierigste ist, dass eine Generation von jungen Menschen einen Preis für Fehler bezahlen muss, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Deshalb müssen wir immer wieder sagen, dass wir überzeugt sind – ich bin es –, dass sich diese Reformanstrengungen lohnen werden und dass wir da, wo wir helfen können, natürlich auch helfen werden.

Wir arbeiten deshalb an einer gemeinsamen europäischen Agenda für Wachstum. Wir werden auch gemeinsam nach den besten Wegen suchen, um Jugendarbeitslosigkeit in den europäischen Mitgliedstaaten zu bekämpfen. Sowohl die Niederlande als auch Deutschland haben erhebliche Erfahrungen gesammelt. In Deutschland wissen wir gerade auch aus den Zeiten der deutschen Einigung, wie schwierig es ist, durch eine Phase hoher Arbeitslosigkeit zu gehen.

Bei allem, was wir zur Stabilisierung der Wirtschafts- und Währungsunion in Europa tun, wissen wir, dass dies in der Selbsterkenntnis Europas als Schicksalsgemeinschaft geschieht. Deshalb sage ich auch immer wieder: Der Euro ist weit mehr als eine Währung. Europa ist ein Friedenswerk. Für meine Generation ist es selbstverständlich, in Europa ohne Krieg aufgewachsen zu sein und zu leben. Für viele vor uns war es das nicht; und zwar über Jahrhunderte. Wir sind in der Geschichte immer noch im Ausnahmezustand.

Hinzu kommt, dass wir in einer Welt leben, in der wir heute über sieben Milliarden Menschen sind. Selbst ein so großes Land wie Deutschland, das über 80 Millionen Einwohner hat, kann allein in dieser Welt von sieben Milliarden Menschen nichts mehr verlangen, bestimmen und erreichen. Aber gemeinsam als Europäer sind wir stark. Wir sind 500 Millionen Menschen. Ich habe heute in Bezug auf die Regierungskonsultationen gesagt: Wir streiten uns manchmal 24 Stunden zum Beispiel über die Frage, ob wir zwischen 2014 und 2020 907 oder 915 Milliarden Euro ausgeben sollen. Das machen wir mit Leidenschaft. Da verzichten wir auch gerne auf Schlaf. Aber worüber wir uns im Allgemeinen in Europa nicht mehr streiten, ist die Frage, dass wir in Demokratien leben wollen, dass wir die Würde jedes einzelnen Menschen anerkennen, dass wir Reisefreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit haben. All das ist selbstverständlich. Darüber muss es keinen Streit geben. Das ist etwas, das wir in die Welt hinaustragen können. Wenn wir das gemeinsam als 500 Millionen Europäer tun, dann tun wir es mit Kraft, mit Überzeugung.

Denn wir wissen: In unserer Welt ist es alles andere als selbstverständlich, dass alle Menschen in Würde leben können. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass alle Menschen ihrer Religion nachgehen, frei reisen, sich künstlerisch frei betätigen und sagen können, was sie möchten. Den jungen Menschen, auch an dieser Universität, rufe ich zu: Es ist wunderbar, dass wir das alles selbstverständlich haben, aber wir dürfen es nie für selbstverständlich halten. Kämpfen wir also dafür, dass es so bleibt und dass mehr Menschen in Würde und Freiheit leben können wie wir.

In unserem deutschen Grundgesetz steht gleich am Anfang – danke dafür, dass Sie auf den 23. Mai hingewiesen haben –, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Die Menschen sind der wahre Reichtum Europas. Deshalb müssen wir auch alles dafür tun, dass die Menschen die besten Chancen bekommen, die möglich sind. Dafür ist es notwendig, dass wir in die Zukunft investieren; das heißt, in Bildung und Ausbildung. Bildung und Ausbildung sind echte Zukunftsinvestitionen. Wir waren uns heute in den deutsch-niederländischen Regierungskonsultationen einig, dass es wichtig ist, besonders in diese Bereiche zu investieren.

„Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint“ – das haben wir am 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge gesagt. Wir, die Europäer, müssen dieses Glück jeden Tag entwickeln und weiterentwickeln. Dafür müssen wir bereit sein, in die Zukunft und damit vor allem in Wissen zu investieren. Dafür müssen wir bereit sein, uns dem Leistungswettbewerb zu stellen. Dafür müssen wir bereit sein, immer wieder neugierig zu bleiben. Dafür müssen wir bereit sein, Geld zu investieren. Dafür müssen wir auch bereit sein, die Menschen zu ermutigen, das Beste zu geben. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass wir dies heute in Deutschland in guter Nachbarschaft mit den Niederlanden tun können.

Ich möchte mich auch nochmals dafür bedanken, dass Sie als katholische Universität an der deutsch-niederländischen Grenze die Idee hatten, mir, der Pastorentochter aus dem Nordosten Deutschlands, die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Sie haben weit über Ihre Grenzen geblickt. Sie sind wirklich eine europäische Universität. Ich werde mit meinen Fähigkeiten, die ich habe, den Ruhm der Radboud Universität in Nimwegen weitertragen. Ihnen, den Lehrern und den Studentinnen und Studenten an dieser Universität, alles Gute. Herzlichen Dank für diese große Ehre.