Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Jahrestagung des Markenverbandes am 23. Oktober 2019 in Berlin

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Lieber Herr Falke,
meine Damen und Herren,

früher bin ich hier immer ins Kino gegangen, jetzt sind Sie hier – das zeigt schon, wie sich die Marken verändern.

„Ein hohes Kleinod ist der gute Name.“ – Sie wissen sicherlich, dass das aus „Maria Stuart“ von Schiller ist. Der gute Name – und nichts anderes ist die Marke – ist aus vielen guten Gründen wertvoll. Wir haben beim Hereingehen gerade darüber gesprochen, dass die Marke „Made in Germany“ ein bisschen um ihre Reputation kämpfen muss. Dafür sind nicht diejenigen verantwortlich, die hier sitzen und Einzelmarken vertreten, aber es gibt Beispiele, wenn auch nur ganz wenige, die zeigen, dass auch Vertrauen eingebüßt wurde. Niemand weiß besser als Sie, wie sehr Vertrauen und Marke zusammenhängen – Vertrauen, das oft über Jahrzehnte aufgebaut wurde und im Grunde immer wieder mit guter Qualität verdient wird.

Das Qualitätsversprechen, das Sie mit Ihren Marken den Kunden geben, ist für Sie natürlich auch eine Verpflichtung, denn es muss dauernd bestätigt und verteidigt werden. Sie wissen ja selbst am besten, dass eine Marke den Ansprüchen der Nachfrager über die Zeit nur dann genügen kann, wenn sie auch deren Interessen, Bedürfnissen und Gewohnheiten entspricht, die Sie also ständig im Blick behalten müssen.

Die Frage, wie sich Produkte und Angebote am besten vermarkten lassen, muss sich jeder stellen, der sich auf dem Markt behaupten will. Deshalb sind Sie auch diejenigen, die sagen: Wir wollen vor allen Dingen einen fairen Wettbewerb haben.

Nun leben wir in einer Zeit, in der sich Gewohnheiten sehr schnell verändern – dramatisch verändern. Da stellt sich natürlich die Frage: Wie muss ich meine Marke entwickeln, sodass sie in den Augen des Kunden immer noch eine ansprechende Marke bleibt, auch wenn sie nicht mehr die Marke ist, die der Kunde irgendwann einmal kennengelernt hat? Das stelle ich mir sehr spannend, sehr aufregend, aber im Augenblick auch sehr schwierig vor, weil die Veränderung des Verbraucherverhaltens so groß ist, dass nicht so ganz einfach zu projizieren ist, was in fünf Jahren oder in zehn Jahren passiert und wie sich dann die Gewohnheiten darstellen werden. Deshalb kann ich mir schon vorstellen, dass Sie auch in einem sehr starken Spannungsfeld leben. Sie haben ja eben zur Methodik, mit der Sie vorgehen, einiges gesagt. Vielleicht hilft Ihnen die Künstliche Intelligenz. Seien Sie also auch offen gegenüber neuen Algorithmen und Fähigkeiten.

Ich war aber beim Thema fairer Wettbewerb. Wettbewerb schafft Vielfalt. Wie vielfältig unsere Wirtschaft ist, können wir an den vielen namhaften Mitgliedern des Markenverbands sehen. Sie vereinen verschiedene Branchen unter einem Dach, Sie vertreten die Anliegen von Unternehmen verschiedenster Größenordnungen – von Mittelständlern genauso wie von großen Konzernen –; und das schon seit 1903. Unsere gemeinsamen Begegnungen beruhen ja auf Ihrer 100-Jahr-Feier. Seitdem habe ich nicht immer abgesagt, weil noch andere Referenten zu Ihnen gekommen sind. Insofern bin ich beständig – ich verhalte mich also markenähnlich.

(Heiterkeit)

Ihre Jahrestagung unter dem Motto „Marke 2030 – Neues Denken!“ wird sicherlich Aufschluss darüber geben, wo Sie Ihre eigenen Herausforderungen sehen. – Herr Falke hat es eben auch schon angedeutet. – Dieses Motto ist ein Appell, aber auch ein Statement, das von Ihrem Selbstverständnis kündet. Einerseits verbindet man mit Marken eine Tradition – und das nicht nur, wenn sie von Familienunternehmen geführt werden. Andererseits denken Sie aber auch an die Zukunft. Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel sind Veränderungen, die neue Herangehensweisen erfordern. Deshalb stellen sich natürlich auch mit Blick auf die politischen Rahmenbedingungen völlig neue Fragen.

Hinzu kommt, dass wir im Augenblick in einer Zeit leben, in der sich die Weltkonjunktur eher verschlechtert als verbessert. Wir haben es mit internationalen Risiken zu tun, die von Unsicherheiten genährt werden – zum Beispiel durch Handelskonflikte, aber auch durch den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union – wobei ich hoffe, dass wir uns jetzt doch dem letzten Teil dieses Prozesses nähern. Wir haben die ganze Zeit versucht, als 27 Mitgliedstaaten Geschlossenheit zu wahren und damit einfach auch ein gutes Bild abzugeben und den Austrittsprozess zu vereinfachen, der im Grunde – das muss man ja sagen – vor allen Dingen deshalb so kompliziert ist, weil es nicht nur um den Austritt eines Mitgliedstaates aus der Europäischen Union geht, sondern weil wir auch ein irisches Problem haben. Dieses Problem ist mit dem Good Friday Agreement verbunden, das besagt: Zwischen der Republik Irland und Nordirland darf es keine Grenzkontrollen geben. Wenn es aber keine Grenzkontrollen geben darf, dann kann man auch das Ende des Binnenmarkts schlecht bestimmen. Denn wenn man die Integrität des Binnenmarkts sichern will und wenn jemand aus dem Binnenmarkt austreten will, dann muss man ja, wenn man nicht nach der Unbestimmtheitsrelation in der Quantenphysik arbeiten will, den betreffenden Raum geografisch lokalisieren. Und das bringt besondere Schwierigkeiten mit sich.

Für Deutschland ist die Frage des Exports natürlich von allergrößter Bedeutung. Deshalb betreffen Friktionen und Unsicherheiten im internationalen Handel uns auch besonders. Wir brauchen deshalb kein System von angedrohten Zöllen, sondern wir brauchen ein regelbasiertes Handelssystem. Wir setzen uns dafür ein, dass die Welthandelsorganisation gestärkt wird, dass das multilaterale Regelwerk gestärkt wird und dass wir im Zweifelsfalle auch bilaterale Handelsabkommen abschließen, die einen fairen Handel möglich machen.

Wir brauchen multilaterale Regelwerke, um Mindeststandards festzulegen – zum Beispiel beim Schutz des geistigen Eigentums. Deshalb ist das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ so wichtig, denn es hilft, die Rechte von Urhebern, Erfindern und Markeninhabern auch im Ausland durchzusetzen und den Handel mit gefälschten Waren zu bekämpfen. Und darauf sind Sie angewiesen. Deshalb haben auch alle von der Europäischen Union verhandelten Freihandelsabkommen regelmäßig Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums. Und deshalb setzen wir uns auch seit langem für Rechtsstaatsdialoge mit Staaten ein, aus denen gefälschte Produkte stammen können, damit wir in diesen Herkunftsländern auch ein entsprechendes Bewusstsein für dieses Problem schaffen. Das heißt, wir gehen auf allen Ebenen – multilateral wie bilateral – gegen Marken- und Produktpiraterie vor. Das ist für Sie als Unternehmen wichtig; und das ist auch für die Verbraucher und deren Vertrauen in die Produkte, die sie kaufen, wichtig.

Meine Damen und Herren, in Ihrem Motto heißt es ja „Marke 2030“; und nicht etwa „Marke 2020“. Wenn Sie also so weit in die Zukunft denken, dann spielt das Thema Nachhaltigkeit für Sie sicherlich eine große Rolle. 2030 ist ja auch das Zieljahr der Nachhaltigkeitsagenda, mit der sich die Vereinten Nationen für alle Länder der Welt 17 Nachhaltigkeitsziele vorgenommen haben, zu denen auch der Klimaschutz gehört.

Wir wissen diesbezüglich in Deutschland um unsere Verantwortung. Wir haben uns vorgenommen, bis zum Jahr 2030 gemessen an dem Wert, den wir 1990 hatten, 55 Prozent unserer Kohlendioxidemissionen einzusparen. Wir wissen also, dass wir uns um den Klimaschutz kümmern müssen. Unsere Emissionen machen zwar nur zwei Prozent der weltweiten Emissionen aus; und man könnte ja fragen: warum strengen nun gerade wir uns so an? Wir haben aber auch nur ein Prozent der Weltbevölkerung. Das heißt, wenn alle sich so verhalten würden wie wir, dann würde die Welt doppelt so viel CO2 emittieren. Deshalb sind wir an dieser Stelle verpflichtet, mit unseren technologischen Fähigkeiten auch wirklich voranzugehen und Möglichkeiten des Klimaschutzes anzubieten, die dann auch von ärmeren Ländern auf der Welt genutzt werden können.

Es geht dabei nicht nur um die Vermeidung wirtschaftlicher Schäden durch den Klimawandel, auch wenn allein das die Anstrengung schon wert wäre, denn wir sehen ja, wie sich Extremwetterereignisse häufen. Es geht aber auch um neue Marktchancen. Ich möchte Sie ermuntern, diese auch zu nutzen und durch neue Effizienztechnologien im Produktionsprozess Ressourcen zu sparen. Ich glaube, wer da Vorreiter ist, kann auch dadurch seine Kunden der Zukunft erreichen.

Wir haben innerhalb der Bundesregierung darüber nachgedacht, wie wir auf die Herausforderungen des Klimawandels reagieren, und wollen neben vielen Einzelmaßnahmen auch das Element der Bepreisung einführen. Wir müssen Menschen die Chance geben, ihr Konsumverhalten zu verändern, ohne sie finanziell zu überfordern. Denn nicht jeder kann sich zum Beispiel sofort ein Elektroauto oder ein Auto mit alternativen Antrieben leisten. Wir wollen deshalb auch Förderungen mit Forderungen verbinden. Und wir werden dem CO2 einen Preis geben, um zu geringeren CO2-Emissionen zu gelangen. Wir setzen also marktwirtschaftliche Anreize. Und wir setzen auf Innovation.

Es hat sich ja schon vor zehn Jahren, in Zeiten der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, aus der wir relativ rasch und recht gut herausgekommen sind, herausgestellt, dass sich dieses Setzen auf Innovationsfähigkeit und auf Unterstützung einer nachhaltigen Entwicklung bewährt hat. Wenn wir jetzt wieder eine Abschwächung der Weltwirtschaft sehen, dann müssen wir genau überlegen, wie wir darauf reagieren. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: als Erstes machen wir neue Schulden. Wir haben im Augenblick einen Investitionshöchststand. Unser Problem ist eher, dass Investitionsgelder zu langsam abfließen, dass unsere Planungsprozesse zu lange dauern, dass die Planungskapazität zu gering ist, dass die Bauindustrie total ausgelastet ist und wir im Zweifelsfalle alles mit höheren Preisen bezahlen, wenn wir da überreizen.

Das heißt, konjunkturelle Strohfeuer sind jetzt nicht die richtige Antwort. Wir müssen vielmehr versuchen, auf Innovation, auf Forschung, auf Entwicklung zu setzen und bestehende Haushaltsspielräume wachstumsstärkend einzusetzen. Dass das in der Koalition immer wieder einmal ein Kampf ist – sollen wir weitere soziale Leistungen schaffen, sollen wir mehr auf Innovation und neue Technologien setzen? –, können Sie sich sicherlich vorstellen. Wir versuchen jedenfalls an einigen Stellen, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern – so zum Beispiel über unser drittes Bürokratieentlastungsgesetz mit einer jährlichen Entlastungswirkung von über einer Milliarde Euro.

Wir haben auch ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den Schutz gegen missbräuchliche Abmahnungen verbessert. Ich glaube, das hilft Ihnen. Abmahnungen sind ein bewährtes Mittel gegen unlauteren Wettbewerb. Und dabei soll es auch bleiben. Missbrauch muss aber wirklich verhindert werden. Ich weiß, dass manche bei Ihnen mit einem Teil dieses Gesetzespakets nicht glücklich sind – insbesondere nicht damit, dass der sogenannte fliegende Gerichtsstand eingeschränkt wird. Kläger können dann den Gerichtsstand nicht mehr frei wählen. Umgekehrt müssen aber Abgemahnte nicht befürchten, vor allen möglichen Gerichten verklagt zu werden. Auch die Bundesländer unterstützen dies. Nun gibt es die Befürchtung, dass der Zugang zu spezialisierten Gerichten versperrt werden könnte. Genau deshalb ermächtigen wir aber die Länder, spezielle Gerichte für Wettbewerbsstreitigkeiten zu bestimmen.

Ein Dauerthema sind natürlich Werbeverbote. Oft geht es darum, einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen zu finden. Das muss nicht zwangsläufig in Werbeverboten münden. Ein gutes Beispiel kann die Ende letzten Jahres von der Bundesregierung beschlossene Strategie für weniger Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten werden. Bei diesem Thema tragen beide Seiten Verantwortung: Anbieter und Verbraucher.

Ich möchte nur bitten, dass Sie – Sie befassen sich ja auch mit der Wahrnehmung der Bevölkerung und Ihrer Kunden – sehr sensibel reagieren. Wenn wir immer wieder erleben, dass Verpflichtungen eingegangen werden, die erhofften Wirkungen dann aber doch nicht eintreten, dann haben wir ein Problem und dann wird irgendwann der Ruf nach Ordnungsrecht immer größer. Etwas, das ich im Umgang mit der Wirtschaft beobachte und das für diejenigen, die hier anwesend sind, eben auch beschwerlich ist, ist, dass wenige schwarze Schafe in jeder Branche viel Schaden anrichten können, der zum Schluss mit ordnungsrechtlichen Regelungen für alle endet. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie als Verbände auch versuchen, darauf hinzuwirken, dass die wenigen schwarzen Schafe nicht mehr schwarz sein werden. Das hilft natürlich am besten, wenn es darum geht, das Vertrauen in die Wirtschaft zu festigen. Wir haben uns – das wissen Sie ja auch – jahrelang mit der Automobilindustrie herumgeschlagen, in der viel Vertrauen verspielt wurde. Wenn angesichts dieser Erfahrung Politiker sagen „Ich glaube, dass alle Selbstverpflichtungen eingehalten werden“, werden sie von den Menschen, zu denen sie sprechen, oft ziemlich angegangen.

Um noch einmal auf die Fette, Salze und Zucker zu kommen: Wir arbeiten mit der Lebensmittelwirtschaft daran, die Grundlagen für eine gesunde Ernährung zu verbessern und gesunde Ernährung einfacher zu machen. Dabei werden wir auch aufnehmen, welche Fortschritte wir machen.

Natürlich spielen für den Vertrieb und die Nachfrage von Produkten auch die Rahmenbedingungen, die auf europäischer Ebene gesetzt werden, eine Rolle. Herr Falke hat davon schon gesprochen. Viele von Ihnen verfolgen im Moment sicherlich den „New Deal for Consumers“. – „New Deal“ ist derzeit sowieso ein Modewort. – Darin hat ein Thema Eingang gefunden, das die Öffentlichkeit und auch Sie, den Markenverband, sehr umgetrieben hat: das Thema „dual quality“, insbesondere „dual food quality“. Der Richtlinienentwurf sieht es als irreführend an, wenn in EU-Staaten eine Ware als identisch vermarktet wird, sich in Zusammensetzung und Eigenschaft aber von Land zu Land erheblich unterscheidet.

Ich weiß, dass viele von Ihnen diese Regelung nicht gutheißen. Denn Produktdifferenzierungen zwischen verschiedenen Staaten entsprechen ja häufig regionalen Unterschieden bei Verbraucherwünschen. Der Richtlinienentwurf betont aber, dass sich die Ware „erheblich“ unterscheiden muss; ich glaube, das birgt einigen Spielraum. Nun sagen Sie natürlich, das sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, weshalb der Gang von einem Gericht zum nächsten schon vorprogrammiert sein könnte, um die Frage zu klären, was eine „erhebliche“ Unterscheidung ist. Spielraum besteht auch insofern, als legitime Gründe für Unterschiede geltend gemacht werden können – wenn zum Beispiel lokal produziert wird, was ja wiederum im Interesse der Regionen ist, und hierfür jeweils vor Ort nur unterschiedliche Rohstoffe verfügbar sind. Wir werden weiterhin sehr aufmerksam verfolgen, wie sich die Dinge entwickeln.

Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Als ich zum ersten Mal davon gehört hatte, dass, sagen wir einmal, die Mon-Chéri-Kirsche an verschiedenen Orten Europas anders zusammengesetzt ist, bin auch ich erschrocken und habe gesagt: Es kann doch nicht sein, dass meine Mon-Chéri-Kirsche anders schmeckt, wenn ich sie in Bratislava kaufe. Nun kann es aber sein, dass die Verbrauchsgewohnheiten dort anders aussehen und man zum Beispiel die Bitterschokolade in Bratislava anders einschätzt. Ich weiß das aber gar nicht, ich habe die Mon-Chéri-Kirschen noch nicht europaweit probiert.

(Heiterkeit)

Auf jeden Fall kann man die Sache so oder so darstellen.

Wenn Osteuropäer zu mir kommen und sagen „Wir bekommen immer die schlechteren Waren“, dann ist das eine Rezeption, die nicht dem Grundgedanken entspricht, dass es unterschiedliche lokale Gewohnheiten und unterschiedliche lokale Produkte gibt. Deshalb ist meine Bitte an Sie: Das darf aus meiner Sicht nicht passieren. Sie wissen, wie schnell es passiert – auch bei uns in den neuen und den alten Bundesländern –, dass sich die Betroffenen fragen, ob man jetzt irgendwie abgehängt ist und schlechtere Qualität als andere bekommt. Das ist also auch ein sehr sensibles Thema; und ich glaube, am besten argumentiert man dann mit regionalen Produkten, auf die man ja auch vor Ort in gewisser Weise stolz sein kann. Ich würde aber sagen: Wir werden versuchen, den Begriff „erheblich“ so auszufüllen, dass die regionalen Unterschiede Europas kleiner sind als die Erheblichkeit.

Ein besonderes Anliegen der Modernisierungsrichtlinie ist es, mehr Transparenz bei Online-Plattformen zu schaffen. Dazu enthält die Richtlinie auch Regelungen zum Schutz vor gefälschten Bewertungen. Dies schützt nicht nur den Verbraucher, sondern auch die Marken, deren Qualität für sich spricht und die im Gegensatz zu anderen falsche Angaben erst gar nicht nötig haben.

Wir stehen im Umgang mit Plattformen natürlich vor einem völlig neuen Regelungsbereich. Ich glaube, es stellt sich immer mehr heraus, dass Plattformen, die keinerlei Verpflichtungen und Notwendigkeiten haben, sich nicht als komplett betrachten können. Jeder, der eine Zeitung herausgibt, jeder, der überhaupt irgendein Blättchen Gedrucktes herausgibt, muss sagen, wer für den Inhalt dieses Produkts verantwortlich zeichnet. Diese Verantwortung kann in der digitalen Welt nicht einfach verschwinden.

Ich habe mit der estnischen Präsidentin, die sich wirklich sehr intensiv im digitalen Gedankenraum bewegt, neulich eine längere Diskussion geführt. Die gute Nachricht war, dass sie verlangt hat, dass alles, was wir aus der analogen Welt an Rechtssicherheit kennen, auch in der digitalen Welt eingeführt werden muss.

Sie haben das Thema Datenschutz erwähnt und von einem übertriebenen Datenschutz gesprochen. Die Präsidentin hat mir ganz kühl gesagt: Wissen Sie, warum Sie in Deutschland solche Schwierigkeiten mit dem Datenschutz haben? Sie haben solche Schwierigkeiten mit der Datenschutz-Grundverordnung, weil Sie kaum etwas digitalisiert haben. Die Datenschutz-Grundverordnung ist aber etwas für die digitale Welt. In Estland sind die Angelegenheiten jeder Feuerwehr, jedes Fußballvereins usw. digitalisiert. Jedes Register ist digitalisiert. Alles, worauf sie zurückgreifen müssen, ist digitalisiert. Wenn das so ist, können Sie mit wenigen Klicks alle Angaben zusammensammeln, die Sie angeben müssen. Wenn Sie aber alles noch irgendwo in einem Buch liebevoll aufgeschrieben haben, das der Großvater des heutigen Vereinsführers angelegt hat, dann müssen Sie alles tage- und nächtelang mühselig heraussuchen.

Interessant ist, dass die Esten erforschen, wo wir in Deutschland in Fragen der Digitalisierung stehen, damit sie uns Geschäftsmodelle anbieten können, um uns auf die Sprünge zu helfen. Das ist ein sehr interessanter Vorgang. Ich glaube, dass beispielweise der estnische Botschafter, der auch sehr lange in der Verwaltung in Sachen Digitalisierung gearbeitet hat, hierbei ein sehr, sehr guter Gesprächspartner ist. Ich sage das zur Unterstützung auch Ihrer Digitalisierungsanstrengungen. Das könnte vielleicht einmal eine interessante Gesprächsrunde werden.

Wir müssen in Europa die Digitalisierung vorantreiben. Wir müssen lernen, uns in die digitale Welt hineinzudenken. Dabei darf man weder überreagieren noch unterreagieren. Ich freue mich, dass Ursula von der Leyen als künftige Kommissionspräsidentin dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat. Es ist auch richtig, dass wir die inzwischen schon 20 Jahre alte E-Commerce-Richtlinie auf einen neuen Stand bringen. Es soll ein neues Regelwerk zu digitalen Diensten geschrieben werden. Wir müssen hierbei auch prüfen, ob die Hostprovider-Haftung weiterentwickelt werden muss. Wir diskutieren zum Beispiel darüber, wie wir Anreize für Online-Plattformen setzen, damit diese mehr Verantwortung für das Verhalten ihrer Nutzer übernehmen. Dabei halten wir an der bewährten abgestuften Haftungsprivilegierung fest. Online-Plattformen sollten für ein rechtswidriges Verhalten ihrer Nutzer auch weiterhin nur dann verantwortlich sein, wenn sie hiervon Kenntnis erlangen und nicht unverzüglich tätig werden – also nicht generell, sondern nur, wenn sie davon Kenntnis erlangen.

Aber Online-Plattformen verändern natürlich die Wettbewerbsstrukturen. Hier braucht es neues Denken, um Marktmacht zu bestimmen und einzudämmen. Das Wettbewerbsrecht muss meiner Meinung nach nicht nur in der analogen, sondern auch in der digitalen Welt angewandt werden. Auch hierzu arbeiten wir sehr intensiv an neuen Leitlinien.

Im Übrigen will ich sagen – ich weiß nicht, wie Sie es hier im Verband handhaben –: Mir macht das gesamte Datenmanagement der deutschen Wirtschaft doch erhebliche Sorgen, weil wir im gesamten Cloud-Bereich, im gesamten Datenspeicherbereich eine Tendenz erleben, nach der viele Unternehmen ihre Daten bei amerikanischen Firmen speichern, weil diese grandiose Mengen in eine Art der Speicherung der Daten investieren, um sie dann für Algorithmen der Künstlichen Intelligenz verfügbar zu machen. Wenn Sie verschiedenen Anbietern Ihre Daten geben, werden Sie sozusagen mit schönen Ordnungsalgorithmen angefüttert, die Ihnen vielleicht auch neue Produktwege aufzeigen. Meine feste Überzeugung ist: Wenn Sie da einmal sitzen, wird man Ihnen für weitere Produktanwendungen – das liegt in der Natur der Sache – immer mehr Geld abknüpfen. Am Anfang müssen Sie wenig bezahlen, aber eines Tages werden Sie nicht mehr Herr über Ihre Kunden sein. Das ist ein Prozess, der uns zur verlängerten Werkbank machen könnte.

Deshalb überlegen wir jetzt – das macht vor allem der Wirtschaftsminister –, wie wir europaweit einen sogenannten Hyperscaler aufbauen können; und zwar nicht, indem wir eine Zentrale aufbauen, sondern indem wir Standards festlegen, nach denen die einzelnen Dateninhaber ihre Daten zusammen speichern und diese nach bestimmten Algorithmen verarbeitet werden können, wenn sie das wollen – aber unter den Bedingungen des Datenschutzes der Europäischen Union und nicht unter den Bedingungen des Datenschutzes von anderen –, um dann natürlich auch eigene Leistungen der Künstlichen Intelligenz entwickeln zu können. Wir, insbesondere der Wirtschaftsminister, stehen hier zu weiteren Gesprächen bereit.

Ich habe den Eindruck, dass gerade in den letzten zehn Jahren, in denen wir eine sehr gute Konjunktur hatten und die Auftragsbücher voll waren, der Innovationsdruck nicht allzu groß war. Aber in diesen zehn Jahren ist auf der Welt sehr, sehr viel passiert. Wir sind als Bundesregierung offen, aber wir können ja nicht an Sie die Frage herantragen: Wollen wir uns nicht einmal gemeinsam mit dem Datenmanagement beschäftigen? Eigentlich bin ich es gewöhnt, dass die Wirtschaft kommt und sagt: So, wir brauchen hier und da und dort Unterstützung. Aber bitte versäumen Sie dies nicht mit Blick auf die Pflege der Businessbeziehungen, die von existenzieller Bedeutung ist. Wer den Zugang zum Kunden hat, ist unter den Anbietern der König. Das war schon immer so; und das wird auch in der digitalen Welt so sein. Die Frage ist nur, ob Sie es dann noch sein werden. Das ist ein ganz wichtiges Thema.

Eine Bemerkung zum Wettbewerbsrecht im Zusammenhang mit Plattformen und Netzwerken: Mit der 10. GWB-Novelle wollen wir einen großen Schritt weitergehen. Das betrifft insbesondere die Weiterentwicklung der Missbrauchsaufsicht, denn bei bestimmten digitalen Geschäftsmodellen – so unsere Überzeugung – kann schon unterhalb der Marktbeherrschung wettbewerbsschädliche Marktmacht entstehen. Hier wollen wir gegensteuern.

Das Wettbewerbsrecht muss auf nationaler wie europäischer Ebene Grenzen setzen, damit die Märkte offen bleiben. Wir wissen aus der Gründungszeit der Sozialen Marktwirtschaft, dass das kein Widerspruch zur Marktwirtschaft ist, sondern dass das eine Garantie ist, dass sich auch neue Anbieter durchsetzen können. Die Kämpfe, die Ludwig Erhard damals gekämpft hat, müssen heute im Grunde in der digitalen Welt wieder von neuem gekämpft werden. Dazu brauchen wir auch klare ordnungspolitische Leitgedanken. Denn wir sind davon überzeugt: Nur ein funktionsfähiger, fairer Wettbewerb setzt die Kräfte frei, die wir brauchen, um immer wieder Innovationen zu schaffen und neue Lösungen zu entwickeln. Deshalb ist der Wettbewerb ein zentrales Element unserer Sozialen Marktwirtschaft. Daher wollen wir das, was uns stark gemacht hat, bewahren. Auch in Zukunft müssen viele mittelständische Anbieter eine Existenzchance haben.

Die Soziale Marktwirtschaft bietet hervorragende Möglichkeiten, auch neue Marken zu etablieren. Die Soziale Marktwirtschaft selbst ist ja auch eine Marke, die für eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte spricht. Wir begehen in diesem Jahr viele 70. Jubiläen. Sie als Verband sind älter; und das ist gut. Aber wir blicken auf 70 Jahre zurück. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Bund der Steuerzahler und andere – sie alle werden 70 Jahre alt. Man sieht also, dass unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland die Vielfalt dessen entstanden ist, was uns auch stark gemacht hat.

Ich möchte gerne, dass das Markenzeichen „Made in Germany“ stark bleibt. Das hängt in der Summe ja auch von all Ihren Angeboten ab. Deshalb danke, dass Sie für Ihre Marken arbeiten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Abenteuerreise durch eine neue Welt. Denn man muss einfach sagen: Die digitale Welt wird nahezu alles umstürzen – viele Konsumgewohnheiten, viele Produktnachfragen. Trotzdem gibt es sicherlich auch ein paar Konstanten – Gewohnheiten, die Menschen haben. Aber die Menschen der Zukunft werden auch neue Gewohnheiten entwickeln. Und wir leben eher in disruptiven als in evolutionären Zeiten.

Insofern wünsche ich Ihnen eine glückliche Hand. Lassen Sie sich nicht auseinanderdividieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir gerade in der Interaktion von Politik und Wirtschaft Verbände brauchen. Keiner wird allein stärker sein, als wenn er in einem Verband versucht, sich mit anderen zusammenzuraufen. Wenn wir in der Politik aber einmal mit allen Akteuren einzeln zu tun haben, werden wir völlig konfus. Deshalb ist Ihre Aufgabe, das Gemeinsame aus Ihren Gesamtinteressen, die ja auch unterschiedlich sind, herauszufiltern und uns zu konsultieren, von entscheidender Bedeutung. Deshalb komme ich immer wieder gerne zu Ihnen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit und den Herausforderungen, vor denen Sie stehen.

Herzlichen Dank.