Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung zum 60. Stiftungsjubiläum der Friedrich-Naumann-Stiftung am 10. Mai 2018 in Berlin

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Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck,
sehr geehrter Herr Prof. Morlok,
sehr geehrter Herr Gerhardt,
sehr geehrter Herr Prof. Paqué,
lieber Norbert Lammert,
lieber Christian Lindner,
lieber Taavi Rõivas,
liebe ehemalige und heutige Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und den Landtagen,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bedanke mich, lieber Wolfgang Gerhardt, für diese Einladung. Ich bin gerne hierhergekommen. Trotz Meinungsverschiedenheiten gehört so etwas zu den vornehmen Tugenden der Demokratie. Und um auf das kleine Gedankenexperiment von Christian Lindner einzugehen, ob ich froh oder nicht froh bin, dass ich Alexander Dobrindts konservative Revolution nicht Jürgen Trittin erklären muss, würde ich sagen: Im Fall der Fälle hätte Christian Lindner das charmant, gerne und sehr präzise übernommen. – Meine Damen und Herren, ein bisschen Spaß muss sein. Jetzt wird es aber seriös.

Eine Stiftung für die Freiheit – das ist in der Tat ein großes Versprechen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hält, was sie verspricht – und das nicht erst seit der Ergänzung des Stiftungsnamens vor elf Jahren. Die Stiftung und ihr Wirken zu würdigen – dafür gibt es mehr als genügend Gründe. Einer davon ist gewiss auch, dass Fürsprecher der Freiheit nicht immer einen leichten Stand haben. Denn Freiheit gleicht gewissermaßen der Gesundheit: Erst wenn es an ihr mangelt, dann weiß man sie zu schätzen.

Wir leben heute in einem geeinten Europa, in einem freiheitlichen, demokratischen rechtsstaatlichen Deutschland. Alles in allem leben wir in einem Wohlstand, um den uns viele auf der Welt beneiden. Und da kann es schon passieren, dass der Wert der Freiheit ein bisschen in den Hintergrund tritt. Da ist einem vielleicht nicht immer bewusst, welch zutiefst menschliches Bedürfnis Freiheit ist und was Freiheit deshalb auch zu bewegen vermag. Max Weber beschrieb dieses Phänomen vor über 120 Jahren vor dem Hintergrund der Abwanderung von Tagelöhnern, die der Knechtschaft auf preußischen Landgütern entkommen wollten, und zog das Resümee: „Wer es nicht zu entziffern vermag, der kennt den Zauber der Freiheit nicht.“

Wo könnte man heute den Zauber der Freiheit besser spüren als hier in Berlin – der einst geteilten Stadt, die heute für ein vereintes Deutschland und ein geeintes Europa steht? Mittlerweile ist eine Generation herangewachsen, die die Mauer, Gott sei Dank, nur noch aus Geschichtsbüchern kennt. Nächstes Jahr wird sich der Mauerfall bereits zum 30. Mal jähren. Und ich sage es ganz ehrlich: Vor 30 Jahren schien für mich Bonn, wo die Naumann-Stiftung gegründet wurde, ebenso unerreichbar zu sein wie New York – und der Besuch einer Jubiläumsfeier einer Einrichtung, die liberalen Werten verpflichtet ist, ebenso unwahrscheinlich wie die Deutsche Einheit. Aber ich – und mit mir viele, viele andere – durfte die Erfahrung machen: Nichts muss so bleiben, wie es ist. Die DDR-Parteiführung mochte zwar eine ganze Bevölkerung ummauert haben – in wörtlichem wie in übertragenem Sinne –, doch den menschlichen Freiheitsdrang, den Wunsch, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, konnte letztlich auch keine Mauer aufhalten. Sonst wären wir heute auch nicht hier: in einer ungeteilten Stadt, in einem wiedervereinten Staat, der demokratisch ist und sich nicht nur demokratisch nennt.

Ja, den Zauber der Freiheit, von dem Max Weber einst sprach, können wir heute verspüren wie wohl nie zuvor in unserer Geschichte. Wer hätte das für möglich gehalten, als das zerstörte Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs, den es selbst entfesselt hatte, am Boden lag – staatlich, wirtschaftlich und moralisch? Nichts, was Deutschland heute auszeichnet, war damals zu erwarten: weder Demokratie noch Rechtsstaat, weder wirtschaftliche Stärke und erst recht keine Partnerschaft auf Augenhöhe in Europa und der Welt. Dennoch dauerte es keine zehn Jahre, bis das sogenannte Wirtschaftswunder in der noch jungen Bundesrepublik seinen Lauf nahm. 1957 wurden die Römischen Verträge unterzeichnet – ein Bravourstück weitsichtiger Europäer, die nur in einer zusammenwachsenden europäischen Gemeinschaft eine dauerhafte Friedensgarantie sahen.

Doch zunächst waren Jahre voller Entbehrungen zu durchleben. Infolge der Kriegszerstörungen herrschte große Wohnungsnot. Millionen von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen aus vormals deutschen Gebieten und Übersiedler aus der DDR suchten ihren Platz in der westdeutschen Gesellschaft. In den 50er Jahren verfestigte sich die Blockkonfrontation. Deutschland und Europa waren geteilt. Das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn war angespannt und von Misstrauen geprägt. Die Niederschlagung des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 hatte Hoffnungen auf mehr Freiheit und Selbstbestimmung zunichte gemacht. Die junge westdeutsche Demokratie musste sich selbst und ihre Institutionen auch erst festigen. Die Westalliierten hatten erst im Mai 1955 das Besatzungsstatut für die Bundesrepublik Deutschland aufgehoben.

Wenn wir in das zeitliche Umfeld der Stiftungsgründung vor 60 Jahren zurückblicken, dann sehen wir, dass viele Deutsche vor allem die beschämende Vergangenheit und die materiellen Entbehrungen der Nachkriegszeit hinter sich lassen wollten. Sie wollten nach vorn blicken und ein Leben in Normalität führen. Doch wie genau sollte dieses Leben aussehen? Die meisten Deutschen waren mit demokratischen Gedanken wenig vertraut. Auch mit der Weimarer Republik verbanden viele eher negative Erfahrungen. Die Deutschen hatten lange in einem totalitären Regime gelebt oder waren darin aufgewachsen. Demokratie musste erst gelernt und geübt werden.

Auch die Partei des Liberalismus in der Bundesrepublik, die FDP, musste erst Schritt für Schritt zu sich finden. Nach Abspaltung und Austritten von Bundesministern und Abgeordneten ging die Bundes-FDP 1956 in die Opposition. Und dort blieb sie auch nach der Bundestagswahl 1957, während Konrad Adenauer mit absoluter Mehrheit von CDU und CSU zum dritten Mal zum Bundeskanzler gewählt wurde.

In dieser Zeit, in der sich die FDP in schwierigem Fahrwasser befand, nahm die Idee einer Stiftung des Liberalismus Formen an. Sie zielte zum einen darauf ab, den organisierten Liberalismus zu modernisieren, um für die FDP neue Wählergruppen zu gewinnen. Das gelang auch ziemlich schnell, wie wir heute wissen. Denn 1961 erzielte die FDP ihr bis dahin bestes Ergebnis, das sie erst 2009 übertreffen sollte. Zum anderen ging es den Stiftungsgründern um mehr als Programmatik. Es ging ihnen auch und vor allem um politische Bildung – darum, die Ideen und Wertvorstellungen des Liberalismus zu vermitteln. So wollten sie mehr Bürger zu politischem Engagement ermutigen und befähigen.

Die parteipolitische Krise als Chance zu sehen, um neue Kräfte zu mobilisieren – dieser Gedanke verdiene Unterstützung, wie der erste FDP-Bundesvorsitzende und erste Bundespräsident Theodor Heuss befand; im Übrigen ein Gedanke, den wir zum Beispiel auch nach 1998 in der CDU sehr stark durchlebt haben. Theodor Heuss jedenfalls – auch bekannt für seine höfliche Zurückhaltung – wollte die neue Stiftung nicht nach sich benannt wissen. Sein akademischer und politischer Lehrer, Friedrich Naumann, sollte der Namenspatron werden. Tatsächlich passte die Namenswahl gut zu den Stiftungszielen, auch wenn Friedrich Naumann neben seinem Reichstagsmandat in seinem Leben nie ein herausgehobenes politisches Amt übernahm. Doch er wusste mit einer bemerkenswerten politischen Schaffenskraft zu beeindrucken. Als Publizist, als Redner und im Kreise politisch Gleichgesinnter entwickelte er viele Ideen, die später in die Strukturen der deutschen Demokratie Eingang finden sollten.

Naumann war ein leidenschaftlicher Zeitgenosse des Kaiserreichs, der sich aber in seinem Denken und Wirken nicht in verfestigten Strukturen verfing. Nein, im Laufe seines öffentlichen Wirkens blieb er am Puls der Zeit: als Pfarrer und später als freier Schriftsteller, als Gründer des Nationalsozialen Vereins und später als Mitglied der Freisinnigen Vereinigung, als Mitbegründer des Deutschen Werkbunds und später der Deutschen Demokratischen Partei, als Mitglied des Reichstags und später als Mitglied der Weimarer Nationalversammlung.

Naumann ließ sich von festen Überzeugungen leiten, zeigte sich aber weniger idealistisch als vielmehr pragmatisch. In einem Nachruf zu seinem Tode 1919 heißt es entsprechend: „Als Gewissen seines Volkes hat er aber auch sofort alles Neue realpolitisch unter den Gesichtspunkt der Möglichkeiten gerückt und ist stets ein erklärter Gegner aller Ideologien gewesen, die die Erprobung an der Wirklichkeit scheuten; das kleinste Stückchen wirklich gestaltetes Gute wog ihm schwerer als ein ganzer Sack erhabener Gedanken.“

Ja, als Mann der Tat war Naumann der Überzeugung, dass der Mensch fähig ist, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Und er sah es als gesellschaftliche Aufgabe an, den Menschen dazu zu befähigen. Daher setzte sich Naumann für Mitbestimmungsrechte von Fabrikarbeitern ein. Er wollte keine schlichten Sozialleistungen, er machte sich für die Beteiligung der Besitzlosen an der industriellen Macht stark. Die betriebliche Mitbestimmung ist heute ein Eckpfeiler der sozialen Stabilität in Deutschland.

Ebenso entschieden forderte Naumann das Recht der Frauen auf politische Teilhabe ein. Wir erinnern in diesem Jahr an die Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren. Das war vielen engagierten Frauen zu verdanken – zum Glück aber auch männlichen Unterstützern dieser Freiheitsbewegung. Und wenn wir an die Beteiligung der Frauen denken – ich gucke mal Nicola Beer an; sie war als Gast dabei, als wir kürzlich 70 Jahre Frauenunion feierlich begangen haben –: Da haben sowohl CDU als auch FDP noch einiges zu tun.

Friedrich Naumann war sich bewusst, dass eine Gesellschaft nicht auf die Teilhabe der Hälfte ihrer Mitglieder verzichten darf – im Übrigen ebenso wenig wie die Wirtschaft, die auf Fähigkeiten von Frauen nicht leichtfertig verzichten sollte. Dieses Postulat gewann auch dadurch Gewicht, dass während des Ersten Weltkriegs zunehmend Frauen in den Fabriken die Lücken schlossen, die die Männer hinterließen, die in den Krieg gezogen waren.

In jedem Fall aber war Friedrich Naumann niemand, der es bei bloßen Forderungen beließ. Er dachte die praktischen Seiten immer mit. Gegen Ende des Weltkriegs und des Kaiserreichs entwickelte er den Plan einer freien deutschen Hochschule für Politik; davon war heute schon die Rede. Als eine Staatsbürgerschule sollte sie zur Demokratie erziehen. Daraus entstand letztlich das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin.

1958 war es dann soweit: Die Friedrich-Naumann-Stiftung wurde ins Leben gerufen. Mit der Namensgebung bekannten sich die Gründer wie einst Naumann zu der Pflicht, möglichst viele Menschen als mündige Bürger zu unterstützen, die sich vom Staat nicht bevormunden lassen, sondern ihre Freiheit nutzen, um ihren Staat mitzugestalten. Das sagt sich so leicht. Aber im Grunde bedeutet Freiheit ja auch Zumutung – die Zumutung, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, für sich und für andere. Diese Zumutung äußert sich vor allem, wenn von der Qual der Wahl die Rede ist. Schließlich will man sich ja richtig entscheiden. Das erfordert eine Überprüfung der Alternativen. Das mag manchmal unbequem erscheinen. Außerdem: Kennt man denn überhaupt alle Alternativen? Und selbst dann: Kann man sie überhaupt in all ihren Folgewirkungen richtig einschätzen? So kommt also zur Unsicherheit vielleicht auch die Furcht, falsch zu entscheiden und damit Unannehmlichkeiten auf sich zu ziehen. Und wie einfach ist es doch dann, Entscheidungen anderen zu überlassen. Wie einfach ist es doch, sich darauf zu verlassen, dass sich andere um das Gemeinwohl kümmern. Sollte sich deren Entscheidung dann als richtig erweisen, werden die wohltuenden Folgen gerne und selbstverständlich hingenommen. Sollten sich die Entscheidungen als falsch erweisen, wie einfach ist es doch dann, über die Fehler anderer zu schimpfen – hinterher ist man ja sowieso oft klüger.

Deshalb braucht es Mut, Entscheidungen zu treffen – auch und gerade, wenn deren Folgen nicht zweifelsfrei absehbar sind. Es braucht Mut, für seine Entscheidungen geradezustehen und im Zweifelsfall auch Kritik auf sich zu ziehen. Ja, solcher Mut hat etwas mit Zumutung zu tun. Freiheit ist die Zumutung, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und für sein Tun und Lassen auch Verantwortung zu übernehmen.

Aber ein Gemeinwesen kann eben nur mit Menschen bestehen, die solchen Mut haben – Menschen, denen bewusst ist, dass es ein Wert an sich ist, überhaupt zwischen Alternativen wählen zu können; Menschen, die den Wert der Entscheidungsfreiheit nicht erst dann erkennen, wenn man keine Wahl mehr hat, wenn eine Gruppe, eine Partei oder ein Regime den unmäßigen Anspruch erhebt, allein zu wissen, wie die Menschen zu leben haben. Die Politik eines totalitären Systems entmündigt den Menschen, beschneidet die Entscheidungsfreiheit. Das lässt das System erstarren. Es ist zumindest – davon bin ich überzeugt – auf Dauer nicht in der Lage, neuen Entwicklungen und Herausforderungen gerecht zu werden. Und daran sind letztlich auch die Staaten des sogenannten Ostblocks gescheitert.

Andererseits kann aber auch ein Gesellschaftsmodell keine Zukunft haben, demnach Freiheit als Bindungslosigkeit und Grenzenlosigkeit, als Freiheit von allem begriffen wird. Das leuchtet unmittelbar ein. Denn so werden Starke immer stärker zulasten der Schwachen, die immer schwächer werden. Und das zerreißt eine Gesellschaft.

Die Lehre daraus ist: Wer persönliche Entfaltungsmöglichkeiten erwartet und einfordert, muss zugleich selbst bereit sein, im Interesse des Gemeinwohls zu denken und zu handeln. Und hier knüpft die Naumann-Stiftung an, indem sie seit sechs Jahrzehnten Bürgerinnen und Bürger fortbildet und zu Engagement in und für Staat und Gesellschaft ermutigt. So lädt die Stiftung auch jetzt, im Mai, wieder zu zahlreichen Vorträgen, Diskussionen, Lesungen und Schülerveranstaltungen ein. Die Themenpalette reicht von der Schule der Zukunft bis zur Zukunft der Europäischen Union, von der Meinungsfreiheit im Netz bis zur Pressefreiheit in der Türkei. Allein diese wenigen Beispiele zeigen: Die Naumann-Stiftung scheut sich nicht vor schwierigen Themen. Sie mischt sich in aktuelle Debatten ein. Sie zeigt, was liberale Ideen heute bedeuten.

Friedrich-Naumann-Stiftung – das bedeutet auch Stipendien für begabte und engagierte Studierende. Viele könnten ohne Stipendium gar nicht studieren. In jedem Fall bietet die Stiftung ihren Stipendiaten neben einem breit gefächerten Programm auch ein Netzwerk. Das garantiert interessante Begegnungen. Das hilft, den eigenen Horizont zu erweitern. Das schließt geradezu wörtlich den Blick über Landesgrenzen hinaus mit ein. Es werden also auch ausländische Studierende und Promovierende gefördert. Diese profitieren von den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Arbeit hierzulande. Umgekehrt profitieren wir vom Austausch mit klugen Köpfen aus aller Welt.

International denkt und agiert die Friedrich-Naumann-Stiftung schon lange. Seit den 60er Jahren hat sie ein weltweites Netz von Regional- und Länderbüros aufgebaut. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kooperieren mit lokalen Partnerorganisationen, die sich wie sie den Werten von Freiheit und Demokratie verbunden und verpflichtet sehen. Nicht immer ist das Umfeld für einen offenen Gedankenaustausch, für die Förderung eines lebendigen demokratischen Miteinanders ideal. Deshalb verdient das Engagement umso mehr Wertschätzung. – Ich grüße alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Naumann-Stiftung wie auch der anderen Stiftungen, die in einem teils wirklich schwierigen Umfeld herausragende Arbeit leisten.

Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist mit ihrem Auslandsengagement auch ein wichtiger Partner für unsere Botschaften und Konsulate. Wie auch andere deutsche politische Stiftungen wirbt sie weltweit für ein plurales Gesellschaftsmodell. Es ist eine drängende Aufgabe, für bürgerliche Rechte und Freiheiten einzutreten. Wir sehen aber, dass auf Menschen, die dies tun, an vielen Orten der Welt Restriktionen und Repressionen einwirken. Nichtregierungsorganisationen werden, teils auch per Gesetz, in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, manchmal gar nicht zugelassen. Im schlimmsten Falle werden engagierte Bürgerinnen und Bürger persönlich drangsaliert oder verfolgt. Die deutschen politischen Stiftungen können diese Entwicklung nicht distanziert verfolgen. Es geht um ihre Partner. Und es betrifft sie oft selbst. Die Bundesregierung setzt sich daher bei den Regierungen anderer Staaten – wo auch immer es erforderlich ist – für eine sichere Arbeitsgrundlage politischer Stiftungen ein.

Die Stiftungen sind nicht an das staatliche Neutralitätsgebot gebunden. Sie arbeiten nach dem Maßstab ihrer Überzeugungen. Damit bilden sie die Vielfalt unseres politischen demokratischen Systems ab. Es ist richtig, die politischen Stiftungen und die Parteien organisatorisch zu trennen. Doch es geht gewiss nicht darum, die Nähe zu einer bestimmten politischen Strömung bzw. Partei zu verleugnen. Die weltanschauliche Überzeugung einer politischen Stiftung darf und soll sogar deutlich werden. Es sollte nicht gleichgültig sein, ob eine Veranstaltung von der Friedrich-Naumann-Stiftung oder der Konrad-Adenauer-Stiftung konzipiert wird, ob ein Verein oder eine Initiative von der Hanns-Seidel- oder der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert wird. Denn in der Arbeit der Stiftungen spiegelt sich in besonderer Weise die Lebendigkeit unserer Demokratie und die Vielfalt unserer Diskussionskultur wider – und das unabhängig vom Stimmungshoch oder -tief der jeweiligen politischen Parteien, die ihnen nahestehen. Ihre politische Bildungsarbeit ist und bleibt nach Wahlen genauso wichtig wie vor Wahlen.

Viele der Freiheiten, die Naumann wortgewandt einforderte und pragmatisch vertrat, haben wir heute erreicht: Deutschland ist ein Rechtsstaat, eine gefestigte Demokratie. Die Bürgerinnen und Bürger genießen politische Teilhabe. Wir können uns glücklich schätzen, eine offene Gesellschaft zu sein, die auf Dialog setzt. Dialog macht auch einen wesentlichen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur aus. Nur über Dialog kann Politik Menschen erreichen und sie auf dem Weg auch mühsamer, aber eben chancenreicher Entscheidungen mitnehmen.

Politik sollte aber keinesfalls so tun, als sei alles möglich. Damit wäre einerseits Enttäuschung vorprogrammiert. Andererseits würde sie nur einer Haltung Vorschub leisten, in der bürgerliche oder gar mitmenschliche Verantwortung einfachheitshalber an den Staat delegiert wird. Das fängt schon bei kleinen Dingen an – und wenn es nur weggeworfener Müll im Park ist; dafür gibt es doch eine Stadtreinigung. Oder für die Erziehung und Bildung der Kinder gibt es doch Kindergärten und Schulen; warum sollte ich mich denn noch extra um die Hausaufgaben meines Kindes kümmern? Und für unsere pflegebedürftigen Angehörigen suchen wir uns ein Heim – wofür zahlen wir denn Pflegeversicherungsbeiträge?

Natürlich ist es aus verschiedensten Gründen nicht jedem möglich, diese oder jene soziale oder gesellschaftliche Verantwortung zu schultern; das ist auch nicht mein Punkt. Anlass zur Sorge besteht vielmehr dann, wenn Verantwortung mehr oder weniger schleichend abgeschoben wird, obwohl eine eigenständige Übernahme möglich und zumutbar ist. Denn wir sollten uns stets bewusst sein: Freiheit birgt in sich die Gefahr, sich selbst zu beschränken – sei es aus Bequemlichkeit, Desinteresse oder Eigennutz.

Das gilt auch mit Blick auf die wirtschaftliche Freiheit, die durch Wettbewerb bewahrt wird bzw. bewahrt werden sollte. Wir brauchen einen funktionstüchtigen Wettbewerb, der uns anstachelt, immer wieder Innovationen zu schaffen, die letztlich unseren Wohlstand in einer globalisierten Welt sichern. Lange bevor Ludwig Erhard um ein Kartellgesetz kämpfte, sprach sich schon Naumann dafür aus, dass – ich zitiere – „alle demokratischen Kräfte an der Umgrenzung der Übermacht der Kartelle arbeiten müssen.“ Er erkannte also die demokratische und soziale Dimension eines funktionierenden Wettbewerbs, der Chancen für viele eröffnet, statt Privilegien für wenige zu festigen.

Für uns heute bildet die Soziale Marktwirtschaft den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Rahmen, der die Ziele „Wachstum“ und „soziale Gerechtigkeit“ miteinander versöhnt. Wir wissen: Wirtschaftlicher Erfolg beruht auf vielen Faktoren. Sozialer Friede und gesellschaftlicher Zusammenhalt gehören dazu. Aber ebenso wissen wir: Nur ein freiheitlicher Staat, der Luft zum Atmen lässt und bürgerliches Engagement unterstützt, kann ein gerechter und damit menschlicher Staat sein.

Meine Damen und Herren, was wir nicht wissen, ist, ob Friedrich Naumann mit der Namenswahl der Stiftung einverstanden gewesen wäre. Aber ich glaube, er wäre stolz auf das, was in den vergangenen 60 Jahren in seinem Namen erreicht worden ist. Er wäre stolz auf die vielen engagierten Mitstreiter, die in Deutschland und der Welt die Ideen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der freien Entfaltung des Individuums vermitteln.

Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit – sie wird auch in Zukunft gebraucht, um Menschen zu befähigen, sich mit politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit bewusst auseinanderzusetzen. Weltanschauliche und politische Überzeugungen gibt es viele. Aber in einer Demokratie sollte es immer auch einen Grundkonsens geben. Dieser Konsens sieht den Menschen und seine individuelle Würde im Zentrum allen politischen Tuns und Lassens. Nur dann kann der Zauber der Freiheit seine segensreiche Wirkung entfalten. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hält das Erbe ihres Namensgebers in Ehren. Sie hält es in Ehren, indem sie mit ihrem Engagement dem Namenszusatz „für die Freiheit“ alle Ehre macht. Dafür bin ich sehr dankbar. Und dafür wünsche ich Ihnen auch in Zukunft eine glückliche Hand.

Herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag. Und herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.