Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung „100 Jahre Frauenwahlrecht“ am 12. November 2018

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Sehr geehrte, liebe Frau Bundesministerin Giffey,
liebe Frau Ministerpräsidentin,
liebe ehemalige Frauen- und Familienministerinnen,
liebe Parlamentarische Staatssekretärinnen und -sekretäre,
liebe beamtete Staatssekretäre,
liebe Oberbürgermeisterinnen,
meine Damen und Herren,

als Marie Juchacz im Februar 1919 als erste Abgeordnete in der Nationalversammlung ans Pult trat – wir haben heute schon von ihr gehört –, begann sie ihre Rede mit „Meine Herren und Damen“. Allein diese Anrede sorgte für Heiterkeit. Dass Frauen sich ihren Platz in der Politik eroberten, verlangte, wie wir gehört haben, viel Mut, denn noch 1902 erklärte der preußische Innenminister – Neuseeland hatte damals schon das Frauenwahlrecht –, Frauen hätten in der Politik nichts zu suchen.

Zur Jahrhundertwende waren Frauen rund um den Globus in den Kampf um ihre eigenen Rechte gezogen. Sie haben sich vernetzt, haben sich gegenseitig unterstützt. Und man muss sagen: es war ein mühseliger, kräftezehrender, aber am Schluss erfolgreicher Kampf. Am 12. November 1918, heute vor 100 Jahren, war es dann soweit: Frauen waren endlich auch in der deutschen Politik angekommen. – Eine Sternstunde in der Geschichte der Demokratie.

Ich werde nie vergessen: Als ich mit dem früheren saudischen König – er ist bereits verstorben – über die Frage der Gleichberechtigung in Saudi-Arabien sprach, stellte er mir als erstes die Frage, seit wann eigentlich Frauen in Deutschland schon wählen dürfen. Und als ich sagte, seit weniger als 100 Jahren, guckte er mich ziemlich mitleidig an und meinte, wir hätten aber auch sehr, sehr lange gebraucht. Und Recht hatte er.

Daher freue ich mich über die zahlreichen Jubiläumsveranstaltungen, die es jetzt gibt. Und ich freue mich über die Würdigung von Frauen wie Marie Juchacz und Hedwig Dohm, die wirklich viel Mut bewiesen haben. Wir wissen: Der Blick in die Geschichte gibt auch immer wieder Kraft, Zukunft zu gestalten. Deshalb ist diese Rückbetrachtung sehr, sehr wichtig. Diese Frauen haben ja nicht etwa nur für das Recht einer Gruppe, einer bestimmten Klientel gekämpft, sondern sie haben für ein Menschenrecht gekämpft. Es ging und es geht immer wieder um die Gleichwertigkeit eines jeden Menschen. Nur eine Gesellschaft, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern lebt, kann eine gerechte Gesellschaft sein. Deshalb steht es uns wirklich gut zu Gesicht, unseren Wahlrechtskämpferinnen ein ehrendes Gedenken zu bewahren. Sie haben viel auf sich genommen und mussten viel ertragen, bis ihnen der Durchbruch gelang. Eine umso größere Ehre ist es mir als deutsche Bundeskanzlerin, die Festrede zu 100 Jahren Frauenwahlrecht zu halten. Denn das Wahlrecht war ja nur ein Anfang, wenn natürlich auch ein sehr wichtiger.

Fortschritte für Gleichberechtigung, Gleichstellung und Gleichbehandlung ließen und lassen oft lange auf sich warten – zu lange. Aus heutiger Sicht ist ja kaum noch zu glauben, dass erst seit 1977 eine Frau nicht mehr das Einverständnis ihres Ehemanns einholen muss, wenn sie arbeiten möchte. Und Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar.

In den letzten Jahrzehnten haben sich gesellschaftliche Vorstellungen deutlich gewandelt. Vorbilder wie Sie, Frau Peschel-Gutzeit, oder auch wie Rita Süssmuth, Frau Lehr und Frau Bergmann, die Sie alle heute hier bei uns sind, haben viel nach vorn gebracht. Niemand lacht ein junges Mädchen heute mehr aus, wenn es sagt, dass es später einmal Ministerin oder sogar Bundeskanzlerin werden will. Es soll sogar schon Fragen geben, ob es auch ein Mann werden darf, wie mir manchmal berichtet wird; das habe ich mir nicht ausgedacht.

Ende letzten Jahres waren in Deutschland über 71 Prozent der Frauen erwerbstätig – zwölf Prozent mehr als 2005. Elternzeit, Elterngeld, der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz erleichtern es den Müttern, wieder in den Beruf einzusteigen. Und es sind eben auch, wie ich schon sagte, Regelungen für Männer hinzugekommen, denn Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen wird nur, wenn beide ihr Rollenverhalten ändern, überhaupt möglich sein.

Aber wir haben noch viel zu tun. Die gleiche Bezahlung ist eine der Fragen, die in der Tat im Raum stehen. Hierbei gibt es zwei Sorten von Fragen. Die eine Frage ist: Wie werden welche Berufsgruppen bezahlt; und was bedeutet das, wenn es typische Frauen- und typische Männerberufe gibt? Und die andere ist, dass es immer noch – insbesondere im außertariflichen Bereich – verdeckte Ungleichbezahlungen gibt. Deshalb fand ich es ganz toll, dass Frau Rein darauf hingewiesen hat, dass in ihrem Unternehmen absolute Transparenz geübt wird. Das ist ganz wichtig.

Wir müssen natürlich auch noch viele Rahmenbedingungen verbessern. Das „Gute-KiTa-Gesetz“ haben wir jüngst auf den Weg gebracht. Wir wollen bis 2022 noch einmal 5,5 Milliarden Euro in die Qualität der Kinderbetreuung investieren. Wir brauchen sehr variable und flexible Strukturen, um eben möglichst jeder Frau und jedem Mann eine echte Wahlmöglichkeit zu geben.

Wir können Gerechtigkeit und Fairness in unserer Gesellschaft nur miteinander und nicht gegeneinander erreichen. Jede Frau in Deutschland soll ihren Weg gehen können – ob mit oder ohne Kinder, ob alleinerziehend oder in einer Partnerschaft, ob in Vollzeit oder Teilzeit arbeitend – und auch wieder zurückkehren können; Frau Peschel-Gutzeit hat recht –, ob als Mechanikerin oder Managerin, ob als Lehrerin oder Krankenschwester. Frauen und Männer sollen die gleichen Chancen haben, ihre Talente zu entfalten.

Natürlich haben wir schon einiges erreicht seit Marie Juchacz, aber wir haben eben auch noch sehr viel zu tun. Vor allen Dingen dürfen wir keine Rückschritte hinnehmen. Und dabei spielt Politik natürlich eine zentrale Rolle. Deshalb ist der Bundestag in dieser Legislaturperiode kein Ruhmesblatt; ich habe eben darüber gesprochen. In der letzten Legislaturperiode waren noch 36,5 Prozent der Abgeordneten Frauen, jetzt sind es 30,9 Prozent. Das ist fast genau der Frauenanteil, den auch der Sudan in seinem Parlament hat. Ich glaube, dass wir uns damit wirklich nicht zufriedengeben können. Jetzt will ich nicht nur von Ruanda reden, bei denen immerhin 61 Prozent Frauen im Parlament sind, sondern vor allen Dingen eine strukturelle Sache hervorheben, die die Kommission der Afrikanischen Union betrifft. In dieser Kommission sind die Regionalbereiche Afrikas vertreten; und zwar jeweils mit einer Frau und einem Mann, so dass die Kommission qua Festlegung paritätisch besetzt ist, was ich für eine wirklich sehr gute Sache halte. Wir müssen aufpassen, dass wir in unserer manchmal fast überheblichen Art in Europa nicht immer denken, dass es woanders vielleicht noch nicht so gut ist. Die Frauen in Afrika spielen zum Beispiel eine ziemlich große Rolle. Und es ist auch richtig, dass wir sie über Entwicklungspolitik fördern.

Nun brauchen wir nicht nur in den Bundestag zu gucken – in manchen Landtagen ist auch nur etwa ein Viertel der Abgeordneten weiblich; und das bei mehr als 50 Prozent Frauen in der Bevölkerung. Ich glaube, dass der Frauenanteil in den Parlamenten eine elementare Frage unserer Demokratie betrifft. Wir werden eben auch hier neue Wege beschreiten müssen. Ich bin, ehrlich gesagt, auch noch schockiert über die Zahl der Oberbürgermeisterinnen; das war mir gar nicht so präsent. Es ist auch wichtig, dass wir uns das noch einmal vor Augen führen. Umso schöner ist es, dass Frau Reker aus Köln heute bei uns ist.

Vieles deutet also darauf hin, dass wir auch über neue Formen der Politik nachdenken müssen. Wir brauchen Formate, die in unser Jahrhundert passen. Und ich bin mir gar nicht so sicher, dass bei den Ortsvereinsversammlungen auch die Männer immer so glücklich sind, wenn alles samstagvormittags stattfindet. Also auch da brauchen wir uns ja nicht zu wundern. Wenn ich mir allein das Durchschnittsalter der Mitglieder meiner Partei vor Augen führe, dann schaue ich natürlich sehnsüchtig zu den Grünen. Bei uns sind die Mitglieder durchschnittlich über 60 Jahre alt, bei den Grünen 48,7. Aber selbst das liegt noch über dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung; und die hat schon mit das höchste Durchschnittsalter der ganzen Welt. Insofern: die Jugend muss ran. Und daher müssen auch jugendgemäße Formate gefunden werden. Und diese passen dann vielleicht sogar etwas besser mit den frauengemäßen Formaten zusammen.

Es müssen also alle die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen. Und man darf doch nicht darum herumreden: Die Quoten waren wichtig, aber das Ziel muss Parität sein – Parität überall, ob in der Politik, in der Wirtschaft, in der Verwaltung und eben auch in der Wissenschaft und im Übrigen auch im kulturellen Bereich. Wir haben neulich der 20 Jahre BKM – des Amtes der Kulturstaatsministerin – gedacht. Wenn Sie sich einmal anschauen, wie viele Dirigentinnen es gibt, wie viele namhafte Malerinnen und Frauen im künstlerischen Bereich, dann müssen Sie sich doch fragen, dass es doch nicht sein kann, dass Frauen da weniger talentiert sind. Auch da müssen wir ihnen durch gezielte Förderung Durchbruch verschaffen und Bekanntheit verschaffen, um voranzukommen. Das gilt wirklich für alle gesellschaftlichen Bereiche.

Für den öffentlichen Dienst hat sich die Regierungskoalition zum Ziel gesetzt, bis 2025 eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in allen Führungspositionen zu erreichen. Wir sind davon zum Teil noch sehr weit entfernt, wissen aber auch um die Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes. Deshalb ist es, finde ich, eine gute Nachricht, dass im Bundeskanzleramt Frauen inzwischen vier von acht Stellen im Rang einer Abteilungsleitung innehaben. Darauf bin ich ein bisschen stolz.

Bei uns in der Wirtschaft liegt immer noch vieles im Argen. In den USA sind in immerhin 90 Prozent der größten Börsenunternehmen mindestens zwei Frauen im Vorstand. In Großbritannien und Frankreich sind es rund 50 Prozent, in Deutschland dagegen nur magere 16,7 Prozent. Auch in der Wirtschaft sind wir also weit davon entfernt, vorhandene Fähigkeiten und Talente wirklich zu nutzen. Und das sollten und dürfen wir uns aber – auch mit Blick auf die demografische Entwicklung – wirklich nicht länger leisten. Es war ein richtiger Ansatz – Frau Giffey hat darüber berichtet –, mit dem Gesetz für mehr Frauen in Führungspositionen auch bei den Aufsichtsräten einen Schritt zu machen. Es ist in der Tat so, dass inzwischen niemand mehr behauptet, dass es keine Frauen für solche Positionen gäbe. Wir haben noch große Probleme bei mittelständischen Unternehmen; da müssen wir weitermachen. Und sollte es einmal dazu kommen, dass eine Frau an der Spitze eines DAX-Konzerns steht, dann sollte das doch keine Besonderheit sein, sondern der erste Schritt zur Normalität. Auch das müssen wir immer wieder sagen.

Ich wünsche mir, dass es selbstverständlich wird, dass Frauen und Männer Erwerbs-, Erziehungs- und Hausarbeit gleichberechtigt aufteilen und niemand aufgrund seines Geschlechts in eine bestimmte Rolle oder Aufgabenverteilung gedrängt wird. Und ich wünsche mir, dass das alles nicht weitere 100 Jahre auf sich warten lässt. Denn die Gleichstellung von Frau und Mann ist ein wichtiger Indikator dafür, ob und wie gerecht eine Gesellschaft ist. Und wir sind, glaube ich, alle davon überzeugt, dass von der Gerechtigkeit in der Gesellschaft auch ihre Zukunftsfähigkeit abhängt. Und deshalb liegt diese gleichermaßen in den Händen von Frauen und Männern oder Männern und Frauen.

Herzlichen Dank und danke dafür, dass wir hier zusammen sein können.