Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung des Berlin Institute for Medical Systems Biology am 26. Februar 2019 in Berlin

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Sehr geehrter Herr Professor Lohse,
sehr geehrter Herr Professor Rajewsky,
sehr geehrter Herr Staatssekretär Krach und
sehr geehrter Herr Staatssekretär Schütte,
meine Damen und Herren – ich möchte jetzt nicht alle Honoratioren begrüßen; denn wenn ich dann jemanden vergäße, wäre das auch nicht gut –,
vor allem: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

es waren erkennbarerweise nicht 200 hier im Raum. Ich grüße auch die, die heute nicht dabei sein können oder irgendwo arbeiten müssen. Aber es ist sicherlich ein schöner Tag. Ich freue mich über die Einladung. Und ich freue mich wirklich, bei der Eröffnung des Berlin Institute for Medical Systems Biology, BIMSB, dabei zu sein. Ich bedanke mich sehr dafür, dass ich eben schon Gelegenheit hatte, mir das Institut mit drei jungen Wissenschaftlern zusammen anzuschauen und einen kleinen Eindruck von dem zu bekommen, was Sie eben auch noch einmal dargestellt haben.

Ein neuer Standort hier im Herzen Berlins. – Gut, dass es hier Krankenhäuser wie die Charité gibt, aber gut auch, dass es nicht nur Ministerien und das Kanzleramt in der Umgebung gibt, sondern eben auch Forschungsinstitutionen und Universitäten. – Das ist also ein neuer Standort für Sie, an dem Sie neue Ideen entwickeln und neue Methoden anwenden, aber im Grunde ja einen alten Traum verfolgen, den vielleicht ältesten Traum der Menschheit, nämlich möglichst lange und gesund zu leben.

Seit Beginn der modernen Medizin arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, mehr Licht in das Geheimnis eines langen Lebens zu bringen. Wir können wirklich sagen – wir haben gerade die Charts gesehen –, dass wir immer besser verstehen, wie ein gesunder Organismus funktioniert und wie Krankheiten entstehen. Aber das Buch des Lebens ist noch so weit versiegelt und verschlüsselt, dass wahrscheinlich noch Generationen nach Ihnen noch genügend Möglichkeiten haben werden, daran zu forschen.

Es ist eine Plattitüde, dass sich mit jedem Erkenntnisgewinn natürlich auch unser Horizont weitet. Aber das Schöne an der Forschung ist, dass sich daraus immer wieder neue Herausforderungen ergeben. Das ist übrigens ziemlich ähnlich zur Politik: Immer dann, wenn man ein Problem gelöst hat, hat man zehn neue vor sich, die auch der Lösung harren. Deshalb werden Sie an diesem neuen Ort natürlich weiterhin intensiv arbeiten.

Die zentrale Frage, der Sie nachgehen – wie läuft die Genregulation in gesunden und in kranken Zellen ab? –, ist natürlich sehr spannend. – Ich erinnere mich an das Ende meines Biologieunterrichts, als wir bei Adenin usw. angekommen waren. Wenn man sieht, was man heute experimentell, aber auch theoretisch machen kann, dann ist das schon faszinierend. – Sie züchten aus umprogrammierten Hautzellen von Patienten – gerade auch von Patienten, die an bestimmten Krankheiten erkrankt sind – individualisierte Krankheitsmodelle, sogenannte Organoide. Damit lässt sich der Krankheitsmechanismus in einzelnen Zellen analysieren. Für mich – ich verfolge das ja nur aus der Ferne – gehört es zu den unglaublichen Dingen, dass man ausdifferenzierte Zellen wieder zu pluripotenten Zellen zurückentwickeln kann und dann faktisch einen Gesamtüberblick gewinnt. Es zeigt sich eben, dass Evolution stattfindet und dass man sie in jede Zeitrichtung verfolgen kann. Das ist schon faszinierend, finde ich.

Die Forschungen in der Einzelzellbiologie waren – ich zitiere noch einmal das, was Sie schon an die Wand projiziert hatten – einer der Durchbrüche des Jahres 2018. So urteilte das amerikanische Wissenschaftsjournal „Science“. Nun könnte man sagen: Wenn „Science“ das sagt, dann gibt es natürlich keinerlei Widerspruch. Nur würde ich einmal sagen, dass auch „Science“ in eine Gesamtwelt eingebettet ist. Sie müssen sich, denke ich, nicht schämen, wenn Sie ab und zu auch noch in einer anderen Zeitschrift publizieren. Aber das Urteil von „Science“ gilt schon viel. „Science“ hat die Arbeit am Max-Delbrück-Centrum namentlich hervorgehoben. BIMSB-Forscherinnen und  Forscher waren an dieser Pionierleistung maßgeblich beteiligt. Das ist wirklich etwas, worauf man stolz sein kann.

Wir reden viel darüber, wo wir im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz stehen. Hier haben wir eine ganz praktische Anwendung. Maschinelles Lernen trägt nämlich dazu bei, dass die Datenberge der Einzelzellbiologie zu verarbeiten und zu verstehen sind. Auch das konnte ich mir eben anschauen. Aber wir müssen natürlich auch darüber sprechen, ob wir genug Daten haben. Daten sind der Rohstoff für die Künstliche Intelligenz. Gerade auch in der Medizin müssen wir schauen, dass von den anonymisierten – das betone ich für die Öffentlichkeit – Daten genügend viele vorhanden sind, damit wir wirklich Vergleiche stattfinden lassen können und die Muster gut sehen können.

Es zeigt sich an diesem Haus exemplarisch, dass Spitzenforschung in vielen Bereichen nur über die Grenzen einzelner Disziplinen hinaus denkbar ist – so etwa zwischen der Biotechnologie, der Biochemie, der Molekularbiologie, der rechnergestützten Wissenschaft und der Medizin. Wie wichtig es auch beim BIMSB ist, über Fächergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, um Erkenntnisgrenzen zu überwinden, liegt selbst für Laien sehr klar auf der Hand.

Eigentlich gibt es eine ganz interessante Entwicklung. Wir denken in diesem Jahr daran, dass sich der Geburtstag Alexander von Humboldts zum 250. Mal jährt. Die Humboldts waren vielleicht mit die letzten Universalgelehrten. Danach hat sich die Sache unglaublich ausdifferenziert. Heute kommt man aber eher wieder dahin, dass man verschiedene Fächer und Disziplinen enger zusammenbringen und wieder in verschiedenen Kombinationen gemeinsam denken muss.

Lieber Herr Professor Rajewsky, das BIMSB wurde 2008 auf Ihre Initiative hin im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin gegründet. Die Bundesregierung und das Land Berlin haben Ihr Institut früh gefördert; Sie haben es eben dargestellt. Dass es aus einem Pilotprojekt im Rahmen des Bundesprogramms „Spitzenforschung und Innovation in den Neuen Ländern“ hervorgegangen ist, zeigt auch, was in 30 Jahren Deutscher Einheit, die wir nächstes Jahr feiern werden, möglich geworden ist. Es ist gut, auch daran zu erinnern. Seit 2012 wird das BIMSB innerhalb des Max-Delbrück-Centrums institutionell gefördert. 16 Arbeitsgruppen, 250 Forscherinnen und Forscher – ich denke, in Ihrem Beispiel spiegelt sich auch die Stärke des Max-Delbrück-Centrums insgesamt wider. Als Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft zählt es zu den führenden biomedizinischen Forschungszentren weltweit.

Wissenschaftliche Exzellenz und Internationalität gehen hier Hand in Hand. Deshalb wird auch die internationale Nachwuchsförderung sehr groß geschrieben. Das finde ich auch sehr wichtig, nämlich nicht nur über die Forschungsbereichsgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, sondern eben auch über die Grenzen von Institutionen und Ländern hinweg. Dass Sie von Berlin aus das LifeTime-Konsortium koordinieren, unter Beteiligung der Helmholtz-Gemeinschaft und gemeinsam mit Partnern in Frankreich, ist auch eine sehr, sehr gute Nachricht.

Ich grüße die Gäste aus Frankreich. Ich werde morgen zwar nicht nur wegen Ihnen nach Paris fahren, aber dort auch von meiner heutigen Erfahrung berichten. Denn gerade im Bereich der Wissenschaftskooperation haben wir uns noch viel vorgenommen. Im Aachener Vertrag haben wir explizit festgelegt, auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz zusammenzuarbeiten und ein gemeinsames Netzwerk bilden zu wollen. Dazu passt das hier sehr gut. Das LifeTime-Konsortium wird von mehr als 120 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 53 Forschungseinrichtungen in 18 Ländern unterstützt. Daran kann man auch sehen, was globale Zusammenarbeit bedeutet und dass multilaterale Zusammenarbeit in manchen Bereichen noch sehr gut funktioniert.

Der Bundesregierung ist es ein ganz besonderes Anliegen, die Gesundheitsforschung voranzubringen. Wir haben seit 2009 die Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung aufgebaut. Gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir ein neues Rahmenprogramm verabschiedet. Es definiert, nach welchen Leitlinien die medizinische Forschung in Deutschland in den nächsten zehn Jahren gefördert werden soll. Ich glaube, ein Markenzeichen der letzten Jahre ist geworden, dass wir verlässlich arbeiten, dass wir nachhaltig arbeiten. Das hat dem Wissenschaftsstandort Deutschland insgesamt sehr gut getan und seine Attraktivität gefördert.

Ich soll Sie im Übrigen sehr herzlich von der Forschungsministerin grüßen, die heute dankenswerterweise in meinem Wahlkreis ist, nämlich beim Wendelstein 7-X, wo sozusagen mögliche neue Formen der zukünftigen Energieversorgung vorangebracht werden sollen – übrigens ebenso ein internationales Projekt wie Ihres hier.

Insbesondere geht es uns auch darum, dass wir medizinischen Fortschritt noch rascher bei den Patienten ankommen lassen; das haben Sie hier ja auch hervorgehoben. Das ist auch wichtig, denn die Menschen lesen und hören von bestimmten Dingen und fragen dann natürlich: Wann kann ich daran teilhaben? Dafür soll die Translation, also die Überführung von Forschungsergebnissen in medizinische Anwendungen, konsequent weiterentwickelt werden. Das ist auch gut so. Wir müssen dann nur gucken, dass die entsprechenden Ausschüsse das dann auch schnell zulassen. Damit plagt sich gerade der Gesundheitsminister herum.

Um Translation voranzubringen, müssen wir natürlich auch Grenzen durchlässiger werden lassen – Grenzen zwischen akademischer und industrieller Forschung, zwischen experimenteller und theoretischer Forschung sowie zwischen Forschung und Versorgung. Die bestehenden Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung zu Volkskrankheiten wollen wir deshalb auch weiter ausbauen. Ich konnte mich in Bonn ja selber davon überzeugen, was dort geleistet wird.

Wir wollen außerdem gemeinsam mit den Ländern die Hochschulmedizin deutlich stärken, die der zentrale Schrittmacher der Translation ist. – Herr Professor Frei wird diese Worte gerne hören. – Wenn Sie aber einmal eine Zusammenkunft von Forschungs- und Gesundheitsministern der Länder und des Bundes erlebt haben, dann wissen Sie, was da allein schon an Translation zwischen zwei Kategorien von Ministerien noch zu tun ist. Es ist jedenfalls sehr interessant, wie die einen mit den anderen umgehen und glauben, dass sie jeweils das Zentrum sind. Man muss sich aber gleichermaßen achten.

In den letzten Jahren gab es gerade auch in der Krebsforschung beachtliche Fortschritte. Daran wollen wir natürlich anknüpfen. Auch hier müssen die Forschungsfortschritte schnell in der Praxis ankommen. Wir haben deshalb mit der „Nationalen Dekade gegen Krebs“ eine nationale Gesamtstrategie zur Tumorbekämpfung aufgelegt. Wir wollen eine engere Zusammenarbeit und Vernetzung – von der Spitzenforschung bis zur ärztlichen Behandlung. Es kommt eben auch auf das Teamwork an, um Tumorerkrankungen besser verstehen zu können und verlässliche Therapien zur Anwendung zu bringen. In der Früherkennung sind Sie ja auch mit dabei.

Meine Damen und Herren, für medizinischen Fortschritt allgemein lässt sich der technologische Fortschritt nutzbar machen. Auch das ist etwas, das wir immer wieder in der Gesellschaft sagen müssen, nämlich dass aus scheinbar sehr entfernt liegenden Dingen plötzlich individueller Nutzen entstehen kann. Es ist klar, dass insbesondere der digitale Wandel völlig neue Möglichkeiten eröffnet. – Wir haben uns hier schon anschauen können, wie Data Scientists arbeiten. – Deshalb wollen wir als Bundesregierung die Ausbildung von Datenwissenschaftlern fördern; und das gerade auch in den Lebenswissenschaften. Wir fördern Professuren und Nachwuchsgruppen in der Bio- und Medizininformatik. Und wir haben als Bundesregierung eine Strategie zur Förderung der Künstlichen Intelligenz verabschiedet. Das ist auch sehr notwendig.

Ich mache mir ein wenig Sorgen, ob wir in diesen Bereichen genügend eigene Expertise in Deutschland entwickeln. Es ist sehr wichtig, dass wir jungen Menschen, die vor der Entscheidung für Studienfächer stehen, gerade auch diesen Bereich ans Herz legen. Denn so schön es auch ist, wenn wir israelische und andere Gäste haben – wir haben hier eben auch unglaubliche Zukunftschancen für unsere eigenen Menschen. Es ist auf diesem Gebiet auf der Welt ein Kampf um kluge Köpfe entbrannt. Wir wollen jetzt hundert zusätzliche KI-Professuren an deutschen Hochschulen besetzen, um möglichst schnell Nachwuchs zu fördern.

Wir werden für die Gesundheitsforschung künftig rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung stellen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass das eine gewinnbringende Investition ist. Daraus ergibt sich eben auch, dass wir ein attraktiver Standort sind. Wir sind im Wettbewerb um Wissen und Können gefordert, denn die Welt schläft nicht. Das wissen wir mit Blick auf China, Korea, Japan und die Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb brauchen wir eine starke universitäre Forschung und eine starke außeruniversitäre Forschungslandschaft. Wir haben ja immer wieder eine Diskussion darüber gehabt, dass die Universitäten im Wesentlichen in der Hoheit der Länder und die außeruniversitären Forschungseinrichtungen in gemischter Verantwortung liegen. Wir haben uns entschieden, dass der Bund die jährlichen Steigerungen der Förderung von außeruniversitären Forschungseinrichtungen übernimmt. Zudem haben wir schweren Herzens auch noch die BAföG-Leistungen übernommen. Damit haben die Länder Spielräume gewonnen. Manche haben diese auch genutzt, andere weniger, aber das will ich hier jetzt nicht ausbreiten; das war jetzt kein Angriff auf Berlin.

Wir versuchen also Beständigkeit und langfristige Planbarkeit in die Dinge zu bringen. Wir erleben jetzt in den Gesprächen mit dem Finanzminister, bei dem Herr Schütte gerade war, dass die Zeit der jährlich steigenden Steuereinnahmen im Augenblick erst einmal vorbei ist. Das wird für uns auch die Probe aufs Exempel sein, ob Wissenschaft und Forschung wirklich weiter unser Schwerpunkt bleiben. Ich jedenfalls werde dafür eintreten, denn wir haben hier ja auch langfristige Zusagen gemacht. Und das sind Zusagen, die über unsere Zukunft mitentscheiden. Das muss man auch ganz klar sagen.

Seien Sie deshalb stolz auf Ihr schönes Kleinod. Wo früher die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR war, ist heute ein Zukunftsort entstanden. Und das ist doch ein schönes Zeichen. Genießen Sie es, indem Sie möglichst viele Stunden hier verbringen, ohne Ihre Familien zu sehr zu vernachlässigen.

Herzlichen Dank.