Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf der Vollversammlung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages e. V. am 16. März 2016

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Sehr geehrter Herr Schweitzer,
Herr Wansleben,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich, dass ich heute hier sein kann. Im letzten Jahr musste ich wegen der schrecklichen Germanwings-Katastrophe absagen. In diesem Jahr hätte ich beinahe wieder absagen müssen, weil ich heute eine Regierungserklärung zum morgigen und übermorgigen Europäischen Rat zu halten und auch andere Termine wahrzunehmen hatte. Aber ich habe doch noch einen Weg gefunden, denn es soll ja nicht nach systemischen Absagen aussehen, was die wirklich guten konstruktiven Beziehungen zwischen dem DIHK und der Bundesregierung und zu mir als Bundeskanzlerin konterkarieren würde. Deshalb freue ich mich, dass ich heute hier sein kann.

Ich will nur stichpunktartig einige Themen anreißen, weil wir noch Zeit für die Diskussion haben wollen. Deshalb kann ich jetzt nicht in aller Ausführlichkeit über alles und jedes Thema sprechen, würde dann aber bei den Fragen, die Sie mir stellen, auf Ihre Schwerpunkte zu antworten versuchen.

Thema Nummer eins, das ich ansprechen möchte: Flüchtlingspolitik. Wir setzen auf eine europäische Lösung. Ich freue mich, dass auch die Wirtschaft das unterstützt, denn die Bewegungsfreiheit, die Reisefreiheit, die Vorzüge des Binnenmarkts in der Europäischen Union sind uns gewissermaßen schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Es ist Teil des wirtschaftspolitischen Mehrwerts der Europäischen Union, die Chancen dieses Binnenmarkts voll ausschöpfen zu können. Es wäre daher auf Dauer eine sehr fragile Angelegenheit, wenn die Länder mit einer gemeinsamen Währung wieder Schlagbäume zwischen sich einrichten würden.

Deshalb ist es wichtig, dass wir den Schengen-Raum erhalten. Das heißt, die Außengrenzen müssen geschützt werden. Und das wiederum heißt: Wir müssen auch da, wo es sich um Seegrenzen handelt, Wege finden, um mit unseren Nachbarn zu annehmbaren Ergebnissen zu kommen. Das ist im Fall der Ägäis, der Hauptfluchtroute der letzten Monate, im Grunde noch eine relativ einfache Variante dahingehend, als mit der Türkei Absprachen getroffen werden können. Wenn wir an das Mittelmeer zwischen Nordafrika und Italien denken, dann wissen wir, dass so etwas mit Libyen, wo wir immer noch keine Einheitsregierung haben, wo auch der IS durchaus vorhanden ist, sehr, sehr viel schwieriger ist. Aber die Hauptfluchtroute verläuft jetzt über die Türkei; und wir tun jetzt alles, sie auch dadurch einzudämmen, dass wir mit der Türkei Absprachen treffen und dahingehend auch, hoffe ich, auf dem jetzt anstehenden Europäischen Rat vorankommen. Ich habe dazu gerade auch im Deutschen Bundestag ausführlich Stellung genommen.

Wir sollten nie vergessen: Wenn wir eine nachhaltige Lösung erreichen wollen, ist natürlich das Allerbeste, bei der Bekämpfung der Fluchtursachen anzusetzen. Deshalb werden die Politikbereiche Entwicklungspolitik und die Suche nach diplomatischen Lösungen in der Außenpolitik, aber zum Teil auch militärische Beiträge im Kampf zum Beispiel gegen den IS sehr viel stärker als früher Teil unserer zukünftigen Arbeit sein. Denn wir sehen, in unserer Umgebung – und Syrien ist nicht sozusagen hinter Australien, sondern mehr oder weniger vor der Haustür Europas – erreichen uns Konflikte in viel stärkerer Weise, als wir uns das vielleicht noch vor ein paar Jahren vorgestellt haben.

Wir werden am Freitag wieder mit dem türkischen Ministerpräsidenten zusammenkommen und dann, hoffe ich, eine Abmachung treffen, mit der wir vor allen Dingen auch die illegale Migration bekämpfen können, da im Augenblick die Ägäis in der Hand von Schleppern und Schmugglern ist. Es kann und darf nicht der Weg sein, Menschen in Not dadurch zu helfen, dass diese mithilfe von viel Geld in mafiösen Strukturen Schutz suchen müssen. Allein im vergangenen Jahr sind 800 Menschen in der Ägäis ertrunken, in diesem Jahr waren es schon 320. Das ist ein wirklich gefährlicher Weg.

Ich möchte mich bei der Wirtschaft dafür bedanken, die ihren Beitrag zur Integration leisten möchte. Wir haben heute im Kabinett wieder darüber gesprochen. Die Beiträge der Wirtschaft sind noch sehr punktuell. Die verschiedenen Anbieter und Beiträge sind auch noch nicht so geordnet, wie wir das vielleicht noch machen müssten. Das aber, was jetzt in der Anfangsphase geleistet wird, ist auch gut. Wir müssen Erfahrungen sammeln und uns fragen: Was lehrt uns das? Was bedeutet das für die Ausbildungsgänge? Muss man andere, modulare Ausbildungen anbieten? Was bedeutet das für die Art der Sprachausbildung, die wir brauchen? Wir müssen die Sprachausbildung der Bundesagentur für Arbeit und die Sprachausbildung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge besser einander annähern. Wir werden auch Menschen haben, die vielleicht erst überzeugt werden müssen, dass eine berufliche Ausbildung richtig und gut ist, obwohl man mit einfacher Arbeit erst einmal mehr Geld verdienen könnte. Oft stehen ja auch Familien dahinter, die Erwartungen an die jungen Menschen haben, die vielleicht arbeiten gehen.

Das heißt also, wir haben viel Arbeit. Aber ich glaube, dass die Bundesarbeitsministerin, der Bundeswirtschaftsminister und auch wir alle miteinander lösungsorientiert arbeiten und deshalb auch sehr bereit sind, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Vielen Dank für das große Engagement seitens der Wirtschaft. Wo immer ich hinkomme, höre ich davon. Das ist auch alles andere als selbstverständlich. Aber damit wir uns gegenseitig nicht enttäuschen, müssen wir eben auch bei diesen Fragen in einem engen Austausch stehen. Ich unterstütze Ihr Aktionsprogramm „Ankommen in Deutschland – Gemeinsam unterstützen wir Integration“ aus ganzem Herzen – und nicht nur aus dem Herzen, sondern auch mit dem, was wir einbringen können.

Wir haben – Sie haben es beschrieben, Herr Schweitzer – eine ordentliche, sehr gute Beschäftigungslage. Wir haben eine vernünftige wirtschaftliche Situation. Das Wirtschaftswachstum ist nicht schlecht, aber es ist auch nicht überragend gut, muss man sagen. Wenn ich mir überlege, dass der Erdölpreis historisch niedrig ist, dass die Europäische Zentralbank sozusagen auch eine Politik macht, die Investitionen anregen soll, dann, würde ich sagen, dass das Wirtschaftswachstum noch nicht so ist, wie es sein könnte. Wir kommentieren das Handeln der Europäischen Zentralbank politischerseits nicht; ich will es bei diesem Satz bewenden lassen. Mir sind auch alle negativen Effekte sehr bewusst. Ich will nur sagen: Eigentlich müsste, wenn man die Zielstellung sieht, mit der das alles gemacht wird, und den niedrigen Ölpreis noch dazunimmt, das Wirtschaftswachstum eher größer sein, als es jetzt ist. Das heißt, wir können die Situation so nehmen, wie sie ist, aber sie kann uns nicht total beruhigen. Im Grunde will ich also Herrn Schweitzer zustimmen.

Das Ganze findet in einer Phase statt, in der im Bereich der industriellen Wertschöpfung eine massive Veränderung der Wirtschaftsweise stattfindet: Industrie 4.0, das Internet der Dinge. Ich war gestern auf der CeBIT. Wir werden auch bald die Hannover Messe haben. Ich habe jüngst wieder zwei große mittelständische Unternehmen besucht: Festo und Aesculap. Dort sieht man, wie sich die Produktionsweise verändert, was sich in den Betrieben tut, was an Automatisierung dazukommt.

Wir stehen eben vor großen Herausforderungen. Was passiert mit denen, die Güter produzieren, und was passiert mit der Kundenbindung? Wie schieben sich sozusagen Internetunternehmen zwischen Kunden und Hersteller? Schaffen wir es als Produzenten und Nation einer starken Industrie und Wirtschaft, die Kontakte zum Kunden auch in die Zeit des Big-Data-Managements zu übernehmen? Ich glaube, daran entscheidet sich sehr, sehr viel. Ich denke, das ist auch im Mittelstand inzwischen angekommen.

Wir müssen auch bei diesen Fragen die Vorteile der Europäischen Union nutzen. Natürlich müssen wir auch den Breitbandausbau vorantreiben. Ich glaube, hierbei macht die Bundesregierung mit 50 Megabit pro Sekunde bis 2018 zumindest ein ordentliches Angebot. Aber für alles, was Sie brauchen, um die Vernetzung des Internets der Dinge wirklich leben zu können, reicht das natürlich nicht aus. Wir brauchen breitflächigen Glasfaserausbau.

Wenn Sie sehen, in welch atemberaubendem Tempo sich zum Beispiel das automatische Fahren entwickelt, dann erkennen Sie, dass wir es mit Entwicklungen zu tun haben, die nach diesem riesigen Technologieschub innerhalb der nächsten zehn Jahre darüber entscheiden werden, wo Deutschland künftig wirtschaftlich stehen wird. Deshalb ist es schon sehr, sehr wichtig, dass wir auf Investitionen hinarbeiten, dass wir auf Flexibilität auch in der Arbeitsgestaltung hinarbeiten. Und deshalb stehe ich aus voller Überzeugung auch dazu, dass Neuregelungen der Zeitarbeit und Werkverträge entsprechend der Koalitionsvereinbarung umgesetzt werden und dass daraus nicht mehr wird.

Für die Politik heißt es, mehr zu investieren – vor allen Dingen in die Infrastruktur. Ich habe Breitband genannt. Auch Mobilität, also Straßen und Schienen, sind von allergrößter Bedeutung.

Im Zusammenhang mit niedrigen Zinsen gibt es natürlich eine Reihe von Herausforderungen für Sie, was zum Beispiel Pensionsrückstellungen anbelangt. Da haben wir versucht, Lösungen anzubieten. Aber natürlich sind das alles immer die zweitbesten Lösungen. Noch besser wäre es, wir kämen wieder in eine Balance, in der sich Inflation und Zinsen wieder vernünftig entwickeln.

Wir sehen natürlich, dass im Augenblick unsere Konjunktur im Wesentlichen durch Binnenkonsum getragen wird. Das Außenhandelsumfeld ist für die meisten von Ihnen sehr unsicher, glaube ich. Wir haben zwar eine relativ stabile Konjunktur in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben aber Unsicherheiten im Zusammenhang mit China, das sich in einer Umstrukturierungsphase befindet. Die weltwirtschaftlichen Gegebenheiten sind eben nicht so, dass man von ganz sicheren Erwartungen ausgehen kann. Umso wichtiger ist es, dass wir im Lande versuchen, unsere Stabilität zu halten und nicht Enttäuschungen zu produzieren.

Dazu gehört in Ihren Kreisen das Thema Erbschaftsteuer. Ich freue mich, Herr Schweitzer, dass Sie schon ein bisschen Licht am Ende des Tunnels sehen. Ich habe vor vielen Monaten auch schon andere Kommentare von Ihnen gehört. Jetzt kommt es wirklich darauf an, dass wir eine Lösung finden, bevor es zu spät ist, denn Ende Juni läuft die Möglichkeit aus. Und wenn das Bundesverfassungsgericht das Thema wieder in die Hand bekommt, dann kann es sein, dass die Verschonungsregelungen insgesamt infrage gestellt werden. Wir wissen es nicht; ich will auch nicht spekulieren. Wir haben jedenfalls einen politischen Auftrag, bis Ende Juni die Sache voranzubringen.

Letzter Punkt: Der amerikanische Präsident wird nach Deutschland kommen, um die Wirtschaftsdelegation der Vereinigten Staaten von Amerika anzuführen, die dieses Jahr Gastland der Hannover Messe sind. Die Amerikaner werden mit einer großen Zahl an Wirtschaftsunternehmen kommen und sozusagen ihre Ambitionen zeigen – sie sind auf der einen Seite gut bei Internetfirmen, haben aber auch Anspruch bei produzierenden Firmen. Wir werden noch einmal verdeutlichen können, dass wir die Chance haben, mit einem riesigen Markt, mit einem Markt, der stabil wächst, mit einem Markt, der mit unserem auch von den Grundlagen des Wirtschaftens her sehr viel Gemeinsamkeit hat, die Gemeinsamkeit zu verstärken. Deshalb werde ich mich auch dafür einsetzen, dass wir in der Zeit des amerikanischen Präsidenten Barack Obama noch die wesentlichen Grundzüge des Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten hinbekommen. Denn was man hat, hat man.

Positiv ist, dass wir beim Freihandelsabkommen mit Kanada jetzt auch bezüglich der Schiedsgerichtsverfahren einen großen Schritt gemacht haben. Ich glaube, das ist sozusagen die Voraussetzung, dass CETA gelingt, bevor wir dann das Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika endgültig voranbringen können. Deutschland wird sich da jedenfalls sehr aktiv einbringen. Das ist auch gut. Wenn wir sehen, wie viele Freihandelsabkommen auch im asiatischen Bereich geschlossen werden, tun wir gut daran, das auch zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Markt hinzubekommen.

Insofern also: Themen noch und noch. Innovation und Forschung könnte ich noch hinzusetzen; das sind natürlich auch wichtige Themen. Wir haben Chancen, sollten aber immer gewahr sein, dass der Wettbewerb auf der Welt unheimlich hart geworden ist und dass wir durch die demografische Veränderung in den nächsten Jahren ohnehin eine ganze Reihe von Lasten tragen. Deshalb sind wir auch, wenn wir immer wieder aufgefordert werden, unseren Außenhandelsüberschuss zurückzufahren, doch ein bisschen kritisch. Ich habe es mir noch einmal angesehen: Innerhalb des Euro-Raums haben wir eine relativ ausgeglichene Handelsbilanz. Und wenn der Euro infolge der Geldpolitik so weit abgewertet wird, dann darf man sich natürlich nicht wundern, dass unsere Exporte eher zunehmen. Ich finde, man kann nicht uns dafür verantwortlich machen, dass andere Gegebenheiten so sind, wie sie sind. Deshalb sind wir auch ein Stück stolz darauf, was wir leisten. Und das – will ich abschließend noch einmal sagen – kann auch so bleiben.