Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Gesprächs mit Vertreterinnen und Vertretern des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien am 11. Oktober 2021 in Jerusalem

Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Gesprächs mit Vertreterinnen und Vertretern des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien am 11. Oktober 2021 in Jerusalem

Montag, 11. Oktober 2021 in Jerusalem

Herr Prof. Trajtenberg,
Herr Lowy,
liebe Mitglieder des INSS,

ich freue mich, heute auch mit Ihnen zusammen zu sein. Ich bin ja gestern in vielen Gesprächen mit Premierminister Bennett und dem Kabinett sowie mit Staatspräsident Herzog gewesen. Insofern habe ich eine sehr intensive Tagesordnung gehabt.

Ich habe auch Yad Vashem besucht, was immer wieder ein sehr bewegendes Ereignis mit Blick auf die Vergangenheit ist. Dass sich vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs der Shoa zwischen unseren beiden Ländern so vielfältige Beziehungen entwickeln konnten, halte ich nach wie vor für einen einzigartigen Vertrauensbeweis gegenüber Deutschland – für einen großen Glücksfall und für einen Schatz, den wir hüten müssen. Das kann von deutscher Seite aus nur bedeuten, dass wir uns immer weiter zur Verantwortung der Shoa bekennen, aber auch, dass wir – da die Zeitzeugen der schrecklichen Ereignisse immer weniger werden – neue Formen des Gedenkens dieser schrecklichen Zeit durch kluge Konzepte für neue Generationen auf der Tagesordnung halten. Ich glaube, dass Yad Vashem hierbei eine ganz herausragende Arbeit leistet.

Unsere Schlussfolgerung für die heutige Zeit ist, dass sich Deutschland in ganz besonderer Weise der Sicherheit Israels verpflichtet fühlt. Deshalb will ich noch einmal in Erinnerung rufen, was ich vor der Knesset 2008 gesagt habe: Die Sicherheit Israels ist für die Bundesrepublik niemals verhandelbar. Sie ist Teil unserer Staatsräson. Das muss natürlich auch immer wieder mit Leben erfüllt werden.

Dabei sehen wir uns natürlich auch Problemen gegenüber. Ich will als Erstes das iranische Nuklearprogramm nennen. Ich persönlich habe den JCPOA für ein Abkommen gehalten, das sicherlich alles andere als perfekt ist, das aber einen Handlungsrahmen bietet. Es ist leider eine ganze Zeit lang durch die amerikanische Administration infrage gestellt worden und von der israelischen Regierung ja auch nie begrüßt worden, weil man die Schwächen stärker bewertet hat. Wir haben aber eine gemeinsame Haltung: Die nukleare Bewaffnung des Iran muss verhindert werden. Aber ich will ganz deutlich sagen: Wir befinden uns, auch wenn die Verhandlungen wieder beginnen sollten, in einem sehr kritischen Prozess und müssen – das habe ich gestern auch mit Premierminister Bennett besprochen – intensiv weiter arbeiten – insbesondere die E3-Länder, also die europäischen Länder, und die Vereinigten Staaten von Amerika, aber möglichst auch gemeinsam mit Russland und China –, um sozusagen eine weitere Anreicherung zu verhindern. Wir sind bereits in einer sehr kritischen Phase.

Wir haben natürlich mit der Frage der Sicherheit Israels im Hinblick auf die regionale Situation auch unabhängig vom Iran zu tun. Hier ist es so, dass die sogenannten Abraham Accords eine Veränderung der Lage gebracht haben, eine positive Veränderung. Das wird ja auch von Ihrem Institut so gesehen. Aber die Frage ist, wie eigentlich die Lösung aussieht, was die Lebensmöglichkeiten der Palästinenser anbelangt. Diese Frage ist etwas von der aktuellen Tagesordnung verschwunden, was aber, glaube ich, nicht gut ist. Ich möchte mich aber beim INSS dafür bedanken, dass es dieses Thema, obwohl es nicht jeden Tag die Schlagzeilen beherrscht, nicht aus den Augen verliert.

Ich bekenne mich wie viele andere auch zur Vision eines demokratischen jüdischen Staates. Aber dieser muss natürlich langfristig in der Region abgesichert sein. So, wie Israel das Recht auf einen Staat hat, so ist aus meiner Sicht auch das Recht der Palästinenser nicht aus den Augen zu verlieren, eine Lebensmöglichkeit zu haben. Deshalb sollte man auf keinen Fall, auch wenn es durch die Siedlungsgegebenheiten immer schwieriger wird, das Thema einer Zweistaatenlösung aus den Augen verlieren. Ich freue mich, dass Sie sehr pragmatisch daran arbeiten, nicht nur an Schlagzeilen denken, sondern auch Modellierungen machen und sich Möglichkeiten überlegen. Ich begrüße das außerordentlich. Ich denke, dass dieses Thema langfristig nicht einfach von der Tagesordnung verschwinden wird – auch nicht, wenn es verbesserte Beziehungen zu den arabischen Nachbarstaaten gibt. Und ich denke, dass die Regierung interessante Schritte unternimmt, auch mit Blick auf pragmatische Lösungen, um die Lebensmöglichkeiten der Palästinenser zu verbessern. Wir werden uns auch von europäischer Seite immer wieder in diese Fragen einmischen.

Ich habe gestern die Ehrendoktorwürde des Technion verliehen bekommen. Das wirft noch einmal ein Schlaglicht darauf, was für ein Hightech-Standort Israel ist. Wenn man die Geschichte des Technion verfolgt, dann weiß man, dass es bereits vor der Gründung des Staates Israel sozusagen ein Nukleus herausragender Forschung gewesen ist. Wir haben gestern auch bei einem Round Table mit Wirtschaftspartnern die technologischen Fähigkeiten Israels beleuchtet. Ich kann nur sagen: Wir brauchen auch da mehr deutsch-israelische Zusammenarbeit. Deutsche Unternehmen können hier eine Menge lernen, insbesondere weil hier gerade auch im Hinblick auf Künstliche Intelligenz und den Cyberbereich nicht zwischen militärischem Ansatz und zivilen Ansätzen unterschieden wird, sondern weil die Forschung insgesamt sehr effizient vorangetrieben wird.

Es zeigt sich, dass wir vielleicht neue Formen der Zusammenarbeit auf Gebieten finden können, die bis jetzt noch nicht im Fokus gestanden haben. Es freut mich, dass ich auch gerade im Vorgespräch noch mehr darüber erfahren habe, was Sie im Hinblick auf den Klimaschutz tun. Israel hat – wir haben gestern darüber gesprochen – ganz herausragende Forschungsbereiche – von Batterieschnelllademöglichkeiten bis zur Frage der Elektrifizierung der gesamten Mobilität –, selbst aber noch nicht so viel davon implementiert, sodass ich glaube, dass Israel auch im Bereich des Klimaschutzes und eines nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen eines der interessantesten Länder sein kann. Wenn man sich diese Region anschaut, dann ist ja nicht nur das sehr präzise Wassermanagement, das Sie seit Jahrzehnten haben, ein Teil des nachhaltigen Wirtschaftens, sondern es kommen andere Teile hinzu. Hierbei kann ich Israel nur ermutigen, weiterzumachen.

Wir befinden uns international in einem sehr komplizierten Umfeld, in dem sich die weltweiten Kräfteverhältnisse verschieben. Wir haben durch den Abzug der Amerikaner aus Afghanistan gesehen, dass Amerika nicht mehr so bedingungslos bereit ist, überall und an jeder Stelle der Welt eine Führungsrolle zu übernehmen. Das bedeutet aus der europäischen Perspektive, dass wir unsere eigenen Sicherheitsinteressen stärker definieren müssen und mit den Vereinigten Staaten von Amerika sicherlich auch klarer besprechen müssen, wer zum Beispiel welche Aufgaben innerhalb der NATO übernimmt.

Ihr Sicherheitsumfeld hier ist sehr kompliziert; und die Entfernungen zu Europa sind nicht sehr groß. Wenn man sich die europäischen Außengrenzen ansieht, dann weiß man, dass Israel sehr nah an diesen Außengrenzen liegt. Insofern haben wir auch gemeinsame Sicherheitsinteressen, die sicherlich in den nächsten Jahren auch noch mehr beleuchtet werden sollten.

Wir werden vor allen Dingen auch weiter im Kampf gegen den Terrorismus aktiv sein müssen, auch in der Europäischen Union.

Wir wissen, dass China ein aufsteigendes Land ist. Ich habe mit Interesse verfolgt, dass es auch zahlreiche Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und Israel gibt. Sicherlich wäre es bei einer anderen Gelegenheit wichtig, auch einmal mit Deutschland ein Gespräch über die Haltung zu China – bezüglich der dortigen gesellschaftlichen Situation, aber auch bezüglich der wirtschaftlichen Stärken und der Sicherheitsvorstellungen Chinas – zu führen. Das würde aber heute hier den Rahmen sprengen.

Ich will abschließend sagen, dass wir überall auf der Welt – sicherlich auch durch die Möglichkeiten des Internets getrieben – eine Tendenz zur Polarisierung von Gesellschaften sehen. Wir werden gemeinsam lernen müssen, mit den digitalen Möglichkeiten der Medien besser umzugehen. Diese Polarisierung führt in der Kombination mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, der Shoa und des Nationalsozialismus dazu, dass wir auch wieder ein verstärktes Aufkommen von Antisemitismus verzeichnen. Antisemitismus ist – genauso wie Hass gegen anders denkende und anders aussehende Menschen insgesamt – eine große Gefahr für unsere Demokratien. Wir in Deutschland haben jedenfalls eine große Aufgabe vor uns, denn Antisemitismus ist – ich muss das traurigerweise so sagen – nicht zurückgegangen, sondern hat eher zugenommen. Wir werden viel Kraft darauf verwenden müssen, uns bereits der Anfänge zu erwehren. Und auch dabei sind wir natürlich für eine schonungslose Analyse auch durch Ihr Institut sehr dankbar.

Insgesamt also: Danke für Ihre Arbeit und Ihre Gedanken, die ja weit über den heutigen Tag hinausgehen. Es ist für politisch Agierende sehr, sehr wichtig, dass es solche Think Tanks gibt, die immer wieder auch Themen im Blick behalten, die vielleicht nicht jeden Tag auf der politischen Tagesordnung stehen. Und deshalb bin ich heute sehr gerne hier bei Ihnen.

Beitrag teilen