Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Vollversammlung des Zentralverbands des Deutschen Handwerks am 8. Oktober 2020

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Lieber Herr Wollseifer,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, heute per Video zu und mit Ihnen zu sprechen, darf aber sagen – Sie glauben es mir sicherlich auch –, ich wäre lieber persönlich vor Ort. Aber die Coronavirus-Pandemie hinterlässt in unser aller Leben und Arbeiten deutliche und damit auch sichtbare Spuren. Bei allen Schwierigkeiten war und ist aber auch zu sehen, wie wandlungs- und anpassungsfähig unser Land ist. Deutschland hält sich bei der Pandemie-Bewältigung wacker – bisher jedenfalls noch –, gerade auch im europäischen und internationalen Vergleich. Das verdanken wir der Umsicht und Rücksicht der allermeisten Menschen hierzulande, die die notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen ernst nehmen und sich an die Regeln halten.

Die Zahl der Neuinfektionen steigt aber wieder – in einigen Städten sehr stark, unter anderem in Berlin, in anderen weniger. Covid-19 bleibt also eine Herausforderung für uns alle – für die Gesellschaft, für Bund, Länder und Kommunen und nicht zuletzt für die Wirtschaft. Es liegt an uns allen, dass das Infektionsgeschehen möglichst eingedämmt wird. Ich möchte nicht, dass sich eine Situation wie im Frühjahr wiederholt. Der Lockdown war für uns alle ein folgenschwerer Einschnitt. Viele Unternehmen haben noch heute mit den Folgen zu kämpfen. Das ist auch kein Wunder, denn es war eine historisch schwere Rezession, in die die deutsche Wirtschaft im ersten Halbjahr gefallen ist. Aber nachdem wir die Maßnahmen zum Infektionsschutz sukzessive lockern konnten, hat sich auch das Geschäftsklima wieder sichtlich verbessert. Insofern sind wir auch mit Blick auf die Beschäftigung glimpflich durch diese schwierigen Monate gekommen.

Für eine Entwarnung ist es aber leider noch zu früh. Der Arbeitsmarkt steht nach wie vor unter Druck – Sie wissen das besser als ich. Das zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass etwa 35 Prozent aller Betriebe in Deutschland seit März Kurzarbeit angemeldet haben. Für die Bundesagentur für Arbeit bedeutet das milliardenschwere Lasten. Um sie und letztlich auch die Beitragszahler nicht zu überfordern, haben wir beschlossen, von der Rückforderung von Bundesdarlehen an die Bundesarbeitsagentur abzusehen. Das ist natürlich nur einer von sehr vielen Ansatzpunkten, um eine Krise solchen Ausmaßes zu bewältigen. Dazu gehört auch, den Unternehmen selbst unter die Arme zu greifen, die eigentlich gesund sind, aber infolge der notwendig gewordenen Maßnahmen zum Infektionsschutz um ihre Existenz fürchten.

Wir nehmen Unternehmen aller Größenordnungen und Branchen in den Blick. Von Startups über Soloselbständige und Freiberufler sowie kleine und mittlere Betriebe bis hin zu Großunternehmen – für alle gibt es passende Angebote. Über das Bundesprogramm Soforthilfe und das Anschlussprogramm Überbrückungshilfe konnten bzw. können Unternehmen Zuschüsse erhalten, die sie nicht zurückzahlen müssen. Mit dem KfW-Sonderprogramm 2020 und dem KfW-Schnellkredit wurden günstige Kredite ermöglicht. Für große Unternehmen haben wir den Wirtschaftsstabilisierungsfonds aufgelegt und für Startups ein eigenes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht. Hinzu kommen steuerliche Hilfen, auch in Form einer Mehrwertsteuersenkung. Wir haben das Kurzarbeitergeld ausgeweitet. Nicht zuletzt haben wir die Insolvenzantragspflicht bis Jahresende ausgesetzt. Natürlich müssen wir bei all diesen Maßnahmen stets auf ihre Wirksamkeit achten und darauf, ob es unerwünschte Mitnahmeeffekte gibt. Wo nötig, bessern wir nach, wie etwa kürzlich mit der Ausweitung und Verlängerung der Überbrückungshilfe bis Ende des Jahres.

Ein besonderes Anliegen ist es, kleinen und mittleren Betrieben bei der Ausbildung zu helfen. Denn durch die Pandemie konnten Jugendliche und Betriebe in den letzten Monaten, wenn überhaupt, nur schwer zusammenfinden. Aber das deutliche Aufholen bei den Vertragsabschlüssen in jüngster Zeit ist ermutigend. Wir müssen alles daransetzen, die Chancen der jungen Generation beim Einstieg in Ausbildung und Beruf auch in dieser schwierigen Zeit zu sichern. Junge Menschen dürfen nicht zu Verlierern der Pandemie werden. Deshalb haben wir das Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“ aufgelegt, mit dem wir 500 Millionen Euro für dieses und nächstes Jahr bereitstellen. So können zum Beispiel Betriebe, die ihr Ausbildungsniveau stabil halten oder sogar ausbauen, eine Ausbildungsprämie erhalten. Und Unternehmen, die Auszubildende aus insolventen Betrieben übernehmen, können mit einer Übernahmeprämie rechnen.

In dieser außergewöhnlichen Zeit ist auch außergewöhnliche Flexibilität bei den Abschluss- und Gesellenprüfungen gefragt. Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, die Sie in diesem Jahr doch einen termingerechten Abschluss der Prüfungen ermöglicht haben. Ich darf sagen: Die Pandemie wird uns leider noch eine Weile begleiten. Sie wird auch im neuen Ausbildungsjahr besonderen Einsatz erfordern. Da ist es gut zu wissen, mit dem Handwerk einen starken Partner zur Seite zu haben, wenn es darum geht, heute unsere Fachkräfte für morgen zu sichern – für die Betriebe selbst und für den gesamten Standort Deutschland.

Heute schon an morgen zu denken, ist gerade jetzt, in dieser Krisenzeit, sehr wichtig, da weltweit die Weichen neu gestellt werden. Wir in Deutschland haben den Anspruch, die Folgen der Pandemie nicht nur möglichst schnell zu bewältigen. Wir wollen uns über Investitionen auch langfristig neue Chancen sichern. Deshalb hat die Bundesregierung neben einem Konjunkturpaket auch ein Zukunftsprogramm auf den Weg gebracht, dessen Name – eben Zukunft – auch Programm ist. Für 2021 planen wir Bundesinvestitionen in Höhe von 55 Milliarden Euro. Von 2022 bis 2024 sind jedes Jahr 48 Milliarden Euro vorgesehen. Das liegt deutlich über dem Vorkrisenniveau.

Wir investieren in unser Bildungssystem, in Forschung und neue Technologien. Wir unterstützen etwa die Dekarbonisierung der Wirtschaft und auch deren Digitalisierung. Das schließt den verstärkten Ausbau der digitalen Infrastruktur mit ein. Das war natürlich schon vor Corona ein Themenschwerpunkt, doch die Pandemie hat die Beschleunigung der Digitalisierung noch dringender gemacht. Das sehen wir etwa in den Schulen, im Homeoffice und in den Betrieben.

Auch die Digitalisierung der Verwaltung kommt voran. So haben wir zum Beispiel für die Überbrückungshilfen eine bundeseinheitliche Online-Plattform aufgebaut, über die die Anträge digital abgewickelt werden können. Nun weiß ich, dass das technisch noch nicht ganz ausgereift ist. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir die noch bestehenden Schwierigkeiten in den Griff bekommen werden. Mit neuen Erfahrungen lernen wir ja auch immer Neues hinzu. Jedenfalls ist es bemerkenswert, dass innerhalb weniger Wochen ein großes Digitalisierungsprojekt auf die Beine gestellt wurde. Das kann sonst schon mal Jahre dauern. Wir haben also gesehen: es geht sehr schnell, wenn es sein muss. Diesen Schwung werden wir nutzen. Wir wollen bis Ende 2022 alle priorisierten Dienstleistungen der Verwaltung online verfügbar machen.

Ob in der Verwaltung oder der Wirtschaft – mit mehr digitalen Nutzungsmöglichkeiten steigen natürlich auch die Leistungsanforderungen an die Infrastruktur. Wir wollen daher unser Förderprogramm für Glasfasernetze ausweiten, damit noch mehr Kommunen davon profitieren. Die beihilferechtliche Genehmigung der Europäischen Kommission erwarten wir noch in diesem Jahr.

Im Mobilfunk ist die LTE-Versorgung schon recht gut, aber noch nicht ganz zu hundert Prozent. Deshalb wollen wir mit einem Förderprogramm noch bis zu 5.000 Standorte erschließen, die sogenannten weißen Flecken, was sonst ohne staatliche Unterstützung nicht möglich wäre. Hierüber sprechen wir auch gerade mit der Europäischen Kommission. Eine Mobilfunkversorgung, die Voraussetzung für viele neue technologische Anwendungen ist, sollte nicht nur lückenlos, sondern auch auf modernstem Stand sein. Deshalb drücken wir bei 5G noch mehr aufs Tempo. Der 5G-Ausbau soll mit fünf Milliarden Euro weiter beschleunigt werden.

Ja, Investitionen kosten Geld. Krisenbewältigung und Zukunftsinvestitionen schlagen im Bundeshaushalt zu Buche. Wir nehmen eine Neuverschuldung in Kauf, die außerordentlich hoch, aber in dieser außerordentlichen Situation auch gerechtfertigt ist. Ich betone das Wort „außerordentlich“. Denn auch kommende Generationen sollen, wie Herr Wollseifer es eben gesagt hat, ebenso wie wir genügend Investitions- und Handlungsspielräume haben, um sich Chancen auf eine hohe Lebensqualität zu sichern. Deshalb ist es wichtig, dass der Bund ab 2022, wenn immer möglich, wieder zur Einhaltung der grundgesetzlichen Schuldenregel zurückkehrt. Das wird sehr strikte Disziplin und eine kluge Prioritätensetzung erfordern. Das sagt sich jetzt leicht, doch solide Staatsfinanzen sind gleichermaßen eine Frage der Generationengerechtigkeit wie auch der volkswirtschaftlichen Vernunft.

Und bei dieser Frage müssen wir neben der Ausgabenseite natürlich auch auf die Einnahmenseite des Haushalts blicken. Lieber Herr Wollseifer, Sie haben zum Beispiel vorgeschlagen, digitale Dienstleistungen stärker zu besteuern. Das ist auch nachvollziehbar. Wer in Deutschland Milliardenumsätze macht, sollte auch hierzulande Steuern zahlen. Große Digitalkonzerne dürfen keine ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteile genießen. Aber wir wissen auch, wie kompliziert die Diskussion über eine angemessene Besteuerung der global aktiven Digitalwirtschaft ist. Nichtsdestoweniger werde ich mich auch weiterhin für ein möglichst weltweit abgestimmtes Besteuerungskonzept einsetzen; Finanzminister Olaf Scholz tut dies auch. Denn hier haben wir es nun einmal mit einer internationalen Frage zu tun. Und diese lässt sich auch nur international beantworten. Das braucht eben seine Zeit.

Das Stichwort Zeit führt mich zum Stichwort Zeitaufwand und damit zum Dauerthema Bürokratie – ein Thema, das gerade auch viele Handwerksbetriebe umtreibt. Abbau und Vermeidung unnötiger Bürokratie sind und bleiben ein wichtiges Ziel der Bundesregierung. Vor einem Jahr haben wir das Bürokratieentlastungsgesetz III auf den Weg gebracht. Damit wurde unter anderem die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingeführt und die elektronische Archivierung von Steuerdaten erleichtert. Insgesamt steht unter dem Strich eine jährliche Entlastung der Wirtschaft um über eine Milliarde Euro. Derzeit arbeiten wir an einem vierten Bürokratieentlastungsgesetz, das noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden soll. Ich bedanke mich schon heute dafür, dass sich natürlich auch der ZDH mit seinen Vorschlägen einbringen wird.

Bereits 2015 haben wir das sogenannte „One in, one out“-Prinzip eingeführt. Dass sich das bezahlt gemacht hat, wurde auch in Brüssel aufmerksam registriert. Ich begrüße es sehr, dass die EU-Kommissionspräsidentin das Prinzip „One in, one out“ auch auf EU-Ebene einführen will. Damit würde also auch jeder Regelungsvorschlag der Europäischen Kommission, der zu neuen Belastungen führt, entsprechende Entlastungen an anderer Stelle vorsehen.

Wie Sie wissen, hat Deutschland derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne. Im Mittelpunkt steht natürlich die gemeinsame Bewältigung der Coronavirus-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Wir streben insbesondere eine bessere Koordinierung der Pandemiebekämpfung der EU-Mitgliedstaaten an. Dies betrifft unter anderem Einreisen aus Risikogebieten.

Das Thema Covid-19 dominiert zwar die Schlagzeilen, aber damit sind andere große Herausforderungen mitnichten aus der Welt. Ob Digitalisierung und Wettbewerbsfähigkeit, ob Migration oder Klimaschutz – das alles sind Fragen, die uns in Europa gemeinsam betreffen. Bei all dem drängen wir auf Fortschritte. Das reicht natürlich weit über unsere Ratspräsidentschaft hinaus. Das ist zum Beispiel mit Blick auf das Ziel der Klimaneutralität 2050 offensichtlich. Um dieses langfristige Ziel zu erreichen, braucht es die Bereitschaft und Fähigkeit, unser Leben und Arbeiten noch nachhaltiger zu gestalten.

Unser aller Bereitschaft zu Veränderungen wird ja auch durch die Covid-19-Pandemie auf die Probe gestellt – wenn auch auf andere Weise. Die derzeit leider wieder ansteigenden Infektionszahlen zeigen bzw. mahnen uns, nach wie vor aufmerksam und vielleicht noch aufmerksamer zu sein, um uns, aber auch andere zu schützen. Jeder und jede von uns ist und bleibt aufgefordert, in den Herbst- und Wintermonaten nun erst recht die sogenannte AHA-Regel zu beherzigen: Abstand halten, Hygieneregeln beachten und Alltagsmaske tragen.

Zu „AHA“ gesellen sich noch zwei weitere Buchstaben: Zum einen „L“ für Lüften, um die Ansteckungsgefahr zu verringern, wenn wir uns in der kalten Jahreszeit wieder vermehrt in geschlossenen Räumen aufhalten, und zum anderen der Buchstabe „C“, der für Corona-Warn-App steht. Auch diese App ist natürlich kein Allheilmittel. Aber sie ist eine wichtige Hilfe, um Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen. Dabei sind wir einen großen Schritt weitergekommen: Wir haben jetzt ein europäisches System im Probetrieb. Davon erhoffen wir uns, dass die App bald eine noch breitere Wirkung entfalten kann.

Kurzum: es kommt also auf uns alle an, das Infektionsgeschehen soweit wie möglich im Griff zu haben und zu halten. Das ist, rein wirtschaftlich betrachtet, derzeit wohl auch das wichtigste Konjunkturprogramm. Daher danke ich allen für die Bereitschaft, die Schutzmaßnahmen mitzutragen. Nur so sind wir stärker als das Virus. So machen wir auch wirtschaftlich mehr und mehr Boden gut. So gelingt auch am besten, was ein Slogan der ZDH-Imagekampagne verspricht: „Wir lassen uns von Corona nicht ins Handwerk pfuschen.“

Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Jetzt freue ich mich auf Ihre Fragen.