Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Verleihung der Harnack-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft am 29. Juni 2021

Sehr geehrter Herr Professor Stratmann,
sehr geehrte Mitglieder des Senats der Max-Planck-Gesellschaft,
sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Max-Planck-Gesellschaft,
meine Damen und Herren,

seit anderthalb Jahren hält uns die Coronavirus-Pandemie in Atem. Auch das Setting dieser Veranstaltung deutet darauf hin, dass wir noch nicht wieder in voller Normalität leben. Umso mehr freue ich mich aber, dass es heute wieder möglich ist, nicht nur virtuell, sondern in kleinem Kreis auch persönlich zu dieser besonderen Festveranstaltung zusammenzukommen.

Ich danke Ihnen für die Auszeichnung mit der Harnack-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft. Diese Auszeichnung empfinde ich ‑ das sage ich nicht nur so dahin ‑ als eine außerordentlich große Ehre. Dass es jetzt möglich wurde, damit auch einmal eine Frau auszuzeichnen, war, würde ich sagen, nicht zu früh ‑ aber lieber spät als gar nicht. Es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit, zu den Geehrten zählen zu dürfen, denen seit 1924 die Medaille verliehen wurde. Also noch einmal von ganzem Herzen: Danke.

Diese wunderbare Auszeichnung trägt den Namen des Gründungspräsidenten der einstigen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Ihrer Vorgänger-Organisation. Adolf von Harnack war Theologe mit Leib und Seele ‑ aber nicht nur das, sondern er widmete sich mit voller Leidenschaft ebenso der Wissenschaft und ihrer Organisation. Seine wegweisenden Reformvorstellungen gaben den entscheidenden Ausschlag zur Errichtung der ersten außeruniversitären Einrichtung zur Förderung der Wissenschaften. Man kann sagen: Damit war der Grundstein für ein modernes Wissenschaftssystem gelegt.

Adolf von Harnack erkannte, dass den Naturwissenschaften eine Dynamik innewohnt, die, um sie zur Entfaltung kommen zu lassen, eine neue Struktur des etablierten Wissenschaftssystems erforderlich machte. Das nach ihm benannte Prinzip ist nach wie vor der fundamentale Grundgedanke der Max-Planck-Gesellschaft, wonach herausragenden, kreativen, interdisziplinär denkenden Forscherinnen und Forschern hinreichend Raum für freies und unabhängiges Wirken gewährt werden muss.

Es ist genau dieses auf Exzellenz und Vertrauen basierende Prinzip, das die Max-Planck-Gesellschaft zu einer der weltweit renommiertesten Wissenschaftsorganisationen gemacht hat. Ihr haben wir in hohem Maße zu verdanken, dass Deutschland auch für viele internationale Spitzenwissenschaftlerinnen und Spitzenwissenschaftler sehr attraktiv ist.

Ich erinnere mich noch an Annette Schavan, die als Forschungsministerin auch sozusagen die Außenstellen der Max-Planck-Gesellschaft geschaffen hat. Ich habe manchmal scherzhaft gefragt, ob diese mehr werden sollen als die Botschaften, die wir im Ausland haben. Ich glaube aber, dies hat unter dem Strich sehr dazu beigetragen, dass sich die Reputation der Max-Planck-Gesellschaft in die Welt verbreitet hat.

Ich darf vielleicht sagen, dass es mir als Bundeskanzlerin stets ein wichtiges Anliegen war, Wissenschaft und Forschung zu fördern ‑ nicht nur, weil ich früher zu DDR-Zeiten als Physikerin an der Akademie der Wissenschaften gearbeitet habe, sondern auch, weil ich als Politikerin der Überzeugung bin, dass wissenschaftliche Durchbrüche auch technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt antreiben, dass also der Wohlstand, in dem wir leben, ganz wesentlich von wissenschaftlichen Durchbrüchen bestimmt wird.

Deshalb war es mir auch immer ein Anliegen, dass der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt in den letzten Jahren steigen sollte. Bevor ich im Jahr 2005 Bundeskanzlerin wurde, hatten die EU-Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 beschlossen, dass in allen europäischen Ländern der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt auf drei Prozent anwachsen soll. Es ist leider bis heute die Minderheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die diesem Ziel gerecht wird. Aber es wäre so wichtig ‑ gerade auch in der disruptiven technologischen Phase, in der wir jetzt gerade leben, wie man ja sagen muss ‑, dass das eingehalten werden würde. Mit inzwischen 3,18 Prozent zählt Deutschland weltweit zur Spitzengruppe. Nun muss man wissen: Das ist nicht allein dem Staat zu verdanken, sondern zwei Drittel der Ausgaben entfallen auf die Industrie. Wir können uns sehr glücklich schätzen, dass das auf wundersame Weise immer ganz gut hingehauen hat, dass also mit mehr staatlichen Investitionen auch mehr industrielle Investitionen einhergingen.

Wir wissen natürlich, dass Geld wichtig ist, aber allein noch keine Strategie ausmacht. Deshalb haben wir auch immer wieder Schwerpunkte gesetzt, bestimmte Organisationsformen gefunden und natürlich auch darauf Wert gelegt ‑ darauf werde ich gleich zu sprechen kommen ‑, dass es eine gewisse Berechenbarkeit gibt. Wir haben in den letzten Jahren und auch noch einmal in Zusammenhang mit den Konjunkturprogrammen, die wir zur Überwindung der Folgen der Pandemie aufgelegt haben, ganz wesentlich auch in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Wasserstoff- und Quantentechnologien investiert. Das sind Bereiche, in denen wir weltweit nicht unbedingt vorne liegen, sondern in denen wir zum Teil erheblich aufholen müssen.

Je stärker ‑ das hat uns die Pandemie auch noch einmal ganz klar vor Augen geführt ‑ wir auf mehr Kompetenzen und Souveränität in Schlüsseltechnologien hinarbeiten, umso mehr können wir eben auch Schrittmacher des Fortschritts sein, unser Land krisenresilienter machen und uns neue Chancen für Wachstum, Wohlstand und soziale Sicherheit erschließen. Wie sehr die Wissenschaften dem Wohl der Menschen dienen können, das erleben wir ganz besonders in der Coronaviruspandemie am Beispiel des weltweit ersten mRNA-Impfstoffs ‑ neben dem von Moderna ‑, der in Deutschland entwickelt wurde. Darauf können wir, finde ich, auch durchaus ein wenig stolz sein. Denn dass man nur wenige Monate nach Ausbruch einer Pandemie Impfstoffe zur Verfügung hat, ist ein wirklich gutes Zeichen. Wir wissen ja: Die Impfkampagne ist der Schlüssel zur Überwindung der Pandemie; und mit den mRNA-Impfstoffen haben wir hochflexible Impfstoffe, die auch auf Mutationen reagieren können, zur Verfügung.

Auch in Zukunft müssen wir alles daransetzen, unsere Forschungskompetenzen und Forschungskapazitäten zu stärken. Dabei geht es nicht nur darum, mit Innovationen später wirtschaftliche Erfolge erzielen zu können. Vielmehr geht es auch darum, dass es uns als Innovationstreiber auch gelingen kann, Maßstäbe und Standards unseren Werten entsprechend zu setzen. Nur der, der vorne mit dabei ist, kann Maßstäbe und Standards mitbestimmen.

Unsere Werte leiten uns. Wissenschaftsfreiheit bedeutet ja nicht, dass alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden sollte. Freiheit ‑ auch die Freiheit der Wissenschaft ‑ bedeutet nicht, frei von Verantwortung zu sein. Im Gegenteil, auch in der Wissenschaftsfreiheit geht es um den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung. Dabei hat der Mensch stets mit seiner unveräußerlichen Würde im Mittelpunkt zu stehen. Das heißt, wir müssen verantworten, was wir tun, und wir müssen verantworten, was wir unterlassen.

Dabei bedarf es stets einer genauen Abwägung zwischen denkbarem Nutzen und möglichen Risiken. Diese Abwägung ist naturgemäß mit Unsicherheiten verbunden. Aber wir können und müssen sie vornehmen, nach bestem Wissen und Gewissen. Das darf nicht zum Nichtstun führen, aber auch nicht dazu führen, dass man für alles einen Freibrief einfordert.

Hierbei kommt der Max-Planck-Gesellschaft eine bedeutende Rolle zu, weil sie mit ihrer exzellenten Grundlagenforschung häufig Ausgangspunkt wegweisender wissenschaftlicher Erkenntnisse, von Technologiesprüngen und Innovationen aller Art und deren Transfer in Wirtschaft und Gesellschaft ist.

Die Max-Planck-Gesellschaft ist unsere traditionsreichste und, gemessen an den Nobelpreisen, erfolgreichste Forschungsorganisation. Sie ist das Aushängeschild deutscher Grundlagenforschung in der Welt. Allein im letzten Jahr haben dies zwei Entscheidungen des Stockholmer Nobelkomitees noch einmal deutlich unterstrichen: der Nobelpreis für Chemie für die in Berlin arbeitende französische Mikrobiologin und Biochemikerin Emmanuelle Charpentier und der Nobelpreis für Physik für den deutschen Astrophysiker Reinhard Genzel.

Diese Auszeichnungen zeigen, was möglich ist, wenn exzellente Wissenschaft und Forschung exzellente Voraussetzungen hat. Dazu gehören natürlich auch verlässliche und attraktive finanzielle Rahmenbedingungen. Ich denke, diese bieten die Bundesregierung und die Bundesländer mit dem Pakt für Forschung und Innovation. Mit seiner Hilfe konnten sich die Max-Planck-Gesellschaft und die anderen außeruniversitären Forschungsorganisationen über viele Jahre erfolgreich entfalten. Dass auch für die neue Dekade Planungssicherheit besteht, weil bis 2030 eine jährliche Erhöhung der Mittel um drei Prozent garantiert ist, ist, denke ich, von großer Wichtigkeit. Diese langfristigen und hohen Mittelaufwüchse sind ‑ das darf ich sagen ‑ international eine Rarität, wenn nicht gar einmalig. Auf jeden Fall aber sind sie ein guter Beitrag zur Freiheit der Wissenschaft.

Ich bin davon überzeugt, dass Sie damit verantwortungsbewusst umzugehen wissen. Denn auch Adolf von Harnack war der Ansicht: „Nichts kann den Menschen mehr stärken als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“ Ich denke, die langjährige Fortführung des Pakts für Forschung und Innovation ist auch ein solcher Vertrauensbeweis Ihnen gegenüber.

Meine Damen und Herren, ich sage es; und jeder weiß es: Auch künftig wird es an großen Herausforderungen nicht mangeln, deren Lösung wissenschaftliche Expertise erfordert. Ich weiß, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Max-Planck-Gesellschaft jeden Tag dafür arbeiten, weit über die gesetzlich geregelte Arbeitszeit hinaus. Deshalb darf ich sagen: Ich zähle auf die Beiträge der Max-Planck-Gesellschaft, auf die Leidenschaft und den Elan der einzelnen Forschenden.

Ich hoffe auch, dass wir Ihnen und Sie sich manchmal selbst nicht so viele Regeln geben, dass zum Schluss keine Zeit zum Forschen mehr bleibt. Man kann sein Leben zwar auch mit Begutachtungen, Einschätzungen, Indizes und Bewertungen verbringen, aber irgendwann muss auch einmal irgendetwas gemacht werden; das sage ich nur etwas scherzhaft dazu. Wenn sich alle gut fühlen, weil Sie jedem anderen einmal etwas Gutes an Gutachten ausstellen, dann ist der Fortschritt noch nicht vorangekommen. Aber das wissen Sie alle selbst.

So wünsche ich Ihnen allen auch weiterhin viel Erfolg - Ihnen und damit letztlich natürlich uns allen, die wir Nutznießer Ihrer Forschung sind.

Ich sage es noch einmal: Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, zum einen für Ihr unschätzbares Wirken im Dienste des Fortschritts und zum anderen natürlich auch für die Ehre, die Sie mir heute erwiesen haben. Dass das kein knapper Beschluss des Senats der Max-Planck-Gesellschaft war, beruhigt mich in Wahlkampfzeiten besonders. Aber ich trete ja auch nicht mehr an.

Vielen Dank und alles Gute für Sie.