Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Verleihung des Heinz-Galinski-Preises

Sehr geehrter Herr Joffe,
sehr geehrter Herr Rosenzweig,
sehr geehrte, liebe Frau Galinski,
Herr Regierender Bürgermeister,
Herr Bundespräsident Richard von Weizsäcker,
liebe Frau Knobloch,
liebe Frau Springer,
liebe Rita Süssmuth,
Herr Botschafter,

– jetzt ist die Gefahr riesig, dass ich jemanden vergesse; deshalb sage ich –:

werte Festversammlung;

und ganz besonders natürlich: liebe Frau Professor Limbach,

Sie haben mich mit Ihren Worten ein bisschen verunsichert; ich nehme diese als Ansporn und schaue einmal, wie das mit der Harmonisierung im Kopf und im Herzen klappt. Die Außenwelt wird es dann beurteilen. Danke für Ihre Worte.

Einen Preis in Empfang nehmen zu dürfen, der nach Heinz Galinski benannt ist, bedeutet, wahrscheinlich wie jedem der Preisträger vor mir, auch mir persönlich sehr, sehr viel. Dass dies nun auch genau am Tag seines 100. Geburtstages geschieht, unterstreicht das Besondere dieses Abends. Denn im Mittelpunkt dieses Abends steht ein Mann, dessen Vermächtnis mit der jährlichen Preisverleihung wachgehalten wird.

Als am 30. Januar 1933 in Deutschland die Hölle des nationalsozialistischen Terrors begann, war Heinz Galinski, geboren im westpreußischen Marienburg, 20 Jahre alt. Im selben Jahr beendete er nach dem Besuch des Gymnasiums eine kaufmännische Lehre. Zehn Jahre später, 1943, wurden er und seine Familie verhaftet beziehungsweise deportiert. Als einziger aus dieser Familie sollte er den Holocaust nach Zwangsarbeit und Terror in Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überleben.

Zeit seines Lebens sah Heinz Galinski sich als Überlebender in der Pflicht und in der Verantwortung, Zeugnis darüber abzulegen, was geschehen war. Diese Haltung fasste er mit den Worten zusammen: „Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um dort wegzusehen, wo Unrecht geschieht, wo Rassen- und Fremdenhass zum Vorschein kommen, wo versucht wird, das Andenken derjenigen, die nicht überleben konnten, zu beschmutzen.“ So hat Heinz Galinski sein Leben in den Dienst gegen das Vergessen gestellt – als Mahnung für kommende Generationen.

Aus dieser Haltung heraus machte er sich auch daran, die jüdische Gemeinde Berlin wieder aufzubauen. Damit setzte er in der Stadt, von der so unendlich viel Leid über die Juden Europas ausgegangen war, ein Zeichen der Hoffnung. Mit großem und immer kritisch-wachsamem Einsatz begleitete er gleichzeitig die demokratische Festigung der Bundesrepublik Deutschland. Immer wieder entlarvte er antisemitische Stereotype und Vorfälle.

Ich bin davon überzeugt, dass wir der heutigen Verleihung des Preises, der seinen Namen trägt, nur dann gerecht werden, wenn wir auch, aber nicht nur darüber sprechen, dass es heute wieder lebendige jüdische Gemeinden, Kindergärten und Schulen in unserem Land gibt, dass viele Synagogen neu entstanden sind, dass auch diese jüdische Gemeinde hier in Berlin als Träger von Bildungseinrichtungen arbeitet oder dass Einrichtungen wie das Jüdische Museum Berlin so großen Zuspruch erfahren. All das gibt es; und all das ist im Wortsinne wunderbar, weil all das nach dem Zivilisationsbruch der Shoah alles andere als selbstverständlich war und ist. Vieles, wofür sich Heinz Galinski in seinen fast 80 Lebensjahren einsetzte, ist heute also erreicht; und es ist es wert, dass es gewürdigt wird.

Doch all das ist nicht die ganze Lebenswirklichkeit von Juden in Deutschland; es ist nicht die ganze Lebenswirklichkeit unserer Gesellschaft insgesamt. Zur Lebenswirklichkeit heute gehört auch, dass antisemitische und fremdenfeindliche Ansichten in manchen Teilen unserer Bevölkerung unverändert auf Zustimmung stoßen. Das belegen Langzeituntersuchungen. So weist der von der Bundesregierung im November 2011 beschlossene Antisemitismusbericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus unter anderem aus, dass im Jahr 2010 16,5 Prozent der Deutschen der Aussage zustimmten, Juden hätten zu viel Einfluss in Deutschland. Fast 40 Prozent der Deutschen stimmten außerdem dem Satz zu, dass viele Juden versuchten, aus der Vergangenheit des Dritten Reichs heute ihren Vorteil zu ziehen. 38,4 Prozent bejahten den Satz, sie könnten bei der Politik, die Israel mache, gut verstehen, dass man etwas gegen Juden habe. Soweit einige wenige Befunde der Meinungsforschung – von verbalen Attacken und tatsächlichen Übergriffen ganz zu schweigen. Auf jüdischen Friedhöfen werden Gräber geschändet, darunter auch die Ruhestätte Heinz Galinskis. Auch auf offener Straße kommt es zu Gewalttaten. Der Angriff auf Rabbiner Daniel Alter in Berlin ist nur ein trauriges Beispiel dafür.

Ich habe deshalb durchaus Verständnis dafür, wenn angesichts dessen manch einer fragt, wie man als Jude hierzulande eigentlich offen leben kann. Hinzu kam eine Beschneidungsdebatte, die in jüdischen wie auch – das wollen wir heute Abend auch nicht vergessen – in muslimischen Gemeinden viel Unsicherheit ausgelöst hat. Es ist daher gut, dass wir vor knapp einer Woche im Bundestag in erster Lesung das „Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes“ – wie es wörtlich heißt – beschlossen haben. In Kürze wird die zweite und dritte Lesung des Gesetzes im Bundestag erfolgen. Die erste Runde im Bundesrat ist auch absolviert. Ich hoffe, Mitte Dezember wird die Beratung im Bundesrat abgeschlossen werden können.

Doch es ist traurig, dass es überhaupt dieses Gesetzes bedarf, um wieder Rechtssicherheit und im Ergebnis sozialen Frieden in dieser Frage herzustellen – einer Frage, in der der soziale Friede über Jahrzehnte und Jahrhunderte eigentlich nie gefährdet war, in der es eigentlich nie einen Konflikt gab. Das führt mich zu der Frage, wie es gelingen kann, Toleranz von Riten zu schaffen, die der Mehrheit unserer Gesellschaft völlig fremd, für die betroffenen Minderheiten aber essenziell und völlig unumstritten sind.

Deutschland ist eine plurale Gesellschaft. Das hat sich nicht nur in unserer Fußball-Nationalmannschaft widerzuspiegeln, sondern muss sich auch in der Frage der Religionsausübung viel stärker beweisen. Vor dieser Aufgabe stehen wir jetzt. In den Worten unseres Grundgesetzes ausgedrückt: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ – Das ist Artikel 4 Absatz 2 des Grundgesetzes.

Ich werde das Urteil des Landgerichts Köln zur Beschneidung natürlich nicht kommentieren, denn das gebührt sich nicht – schon gar nicht in Anwesenheit einer ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts; aber das verbietet mein Amt sowieso. Ich kann aber feststellen, dass es in seinen praktischen Folgen unsere Vorstellung von Religionsfreiheit auf die Probe stellt. Vielleicht ist auch darin schon etwas, das seine Wirkung entfalten kann. Wir alle wissen: Auch die Religionsfreiheit in Deutschland ist nicht schrankenlos. So ist und bleibt immer auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu würdigen. Kinder haben Rechte, die zu bewahren und zu schützen sind. Deshalb müssen fraglos auch mögliche Risiken und körperliche Folgen einer Beschneidung bedacht werden. In der Beschneidungsdebatte muss selbstverständlich auch die Frage nach dem Kindeswohl gestellt werden; und sie muss überzeugend beantwortet werden.

Doch als besonders traurig an der Beschneidungsdebatte habe ich empfunden, dass bei dieser notwendigen Abwägung aller Rechtsgüter in manchen Äußerungen jede Hemmschwelle verloren zu gehen schien, Juden und Muslimen in Deutschland endlich einmal zu sagen, was gut für sie sei und was die anderen von ihnen hielten, wenn sie dem nicht folgten. Es ist traurig, dass in manchen Beiträgen der Eindruck entstehen konnte, jüdischen und muslimischen Eltern liege das Wohl ihrer Kinder weniger am Herzen als anderen Eltern, nur weil sie an einem uralten Ritus festhalten und für ihn auf Rechtssicherheit auch in Zukunft hoffen, auch wenn die Mehrheit in unserem Land diesen Ritus nicht kennt.

Das führt zu einem Punkt in dieser Debatte, in deren Zusammenhang die Direktorin des Berliner Büros des American Jewish Comittee, Deidre Berger, Folgendes ausführte: „Die Entfaltungsfreiheit religiöser und kultureller Minderheiten und die Akzeptanz der Bevölkerungsmehrheit für die empfundene Andersartigkeit und unterschiedliche Lebensweisen von Minderheiten ist der Gradmesser für eine demokratische Gesellschaft.“ Oder anders gesagt: Am Umgang mit Minderheiten entscheidet sich die Menschlichkeit einer Gesellschaft.

Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Dialog zwischen Minderheiten und Mehrheiten – darin beweist sich eine lebendige Demokratie. Wenn diese Offenheit füreinander und der Austausch untereinander nicht geachtet werden, dann entsteht Raum für Missverständnis und für Vorurteile. Wo Bildung, Aufklärung und gesunder Menschenverstand nicht ausreichen, sind Politik, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftliche Kräfte gleichermaßen gefordert, Extremismus in die Schranken zu weisen. Jedem muss klar sein: Antisemitismus ist eine Schande für unser Land. Dafür darf kein Platz in unserem Land, in Deutschland, sein. Das gilt im Übrigen nicht nur für Deutschland. Nirgendwo auf der Welt darf dafür ein Platz sein. Doch auch hier spricht die Lebenswirklichkeit eine andere Sprache.

Das führt uns auch zu der Frage, wie sich die politischen Gewichte in der arabischen Welt verschieben, welche Rolle der Iran spielt, dessen Atomprogramm wir mit größter Sorge sehen, oder wie sich die Lage in Syrien weiterentwickelt und was das alles für die Sicherheit Israels bedeutet. Israel ist auch nach den Umbrüchen in Nordafrika und Nahost immer noch der einzige Staat in der Region, in dem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Pluralismus gelten. Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind nicht neutral. Das gilt auch dann, wenn sich Konflikte wie der zwischen der Hamas in Gaza und Israel erneut zuspitzen.

Für die Raketenangriffe der Hamas auf Israel gibt es keinerlei Rechtfertigung. Keine vernünftige Regierung dieser Welt könnte einen solchen Zustand auf Dauer hinnehmen. Israel hat wie jeder andere Staat das Recht und die Pflicht zur Selbstverteidigung. Auf Dauer – das ist gleichzeitig die politische Herausforderung jenseits der militärischen – kann diese Region allerdings nur über Verhandlungen für eine Lösung des Nahostkonflikts zur Ruhe kommen. Das erfordert von beiden Seiten schmerzhafte Kompromisse. Denn es wird weder mit einseitigen palästinensischen Initiativen bei den Vereinten Nationen, die auf eine Anerkennung abzielen, noch mit dem fortgesetzten Siedlungsbau Israels im Westjordanland und im Großraum Jerusalem tatsächlich irgendetwas gewonnen.

Die Bundesregierung versucht deshalb im Rahmen des ihr Möglichen, beide Seiten davon zu überzeugen, dass letztlich nur Verhandlungen ohne weitere einseitige Vorfestlegung zum Nutzen aller sind. Entscheiden, ob solche Verhandlungen aufgenommen werden können, das müssen letztlich die beiden betroffenen Seiten selbst. Wir können ihnen nur dabei helfen, den Schritt zu Verhandlungen zu wagen, der aus meiner Überzeugung notwendig ist, mit dem Ziel zweier unabhängiger und souveräner Staaten – also mit Israel als jüdischem Staat und einem lebensfähigen palästinensischen Staat mit voller Souveränität. Verhandlungen, die Misstrauen, Vorurteile und Hass überwinden helfen – das ist die Aufgabe.

Dieser Gedanke liegt auch der Idee des Musical-Projekts „Step by Step – Sauwa, Sauwa“ von jüdischen und arabischen Jugendlichen aus Israel zugrunde, für das ich das mit dem Heinz-Galinski-Preis verbundene Preisgeld zur Verfügung stellen möchte. Die nette Analogie von „Step by Step – Sauwa Sauwa“ zu dem, wovon ich oft spreche, dem Überwinden unserer Krisen Schritt für Schritt, hat dabei keine vordergründige Rolle gespielt; es ist aber ein nettes Zusammentreffen.

Es ist aber wahrlich nicht nur der Nahostkonflikt, der im Mittelpunkt der engen deutsch-israelischen Partnerschaft und Zusammenarbeit steht. Unsere besonderen Beziehungen, die ihren Ausgangspunkt in der immerwährenden Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen des Holocaust haben, gründen sich für die Zukunft auf gemeinsamen Werten und Interessen im Zeitalter der Globalisierung. Ausdruck dessen sind nicht zuletzt die deutsch-israelischen Regierungskonsultationen, die wir seit 2008 durchführen. Am 6. Dezember werden beide Kabinette in Berlin wieder zusammenkommen. Ein wichtiger Impulsgeber für unsere Zusammenarbeit ist auch das Deutsch-Israelische Zukunftsforum, das seit seiner Gründung im Jahre 2007 vor allem dazu dient, junge Menschen zusammenzubringen.

Meine Damen und Herren, die jährliche Verleihung des Heinz-Galinski-Preises mahnt, dass niemals der Eindruck entstehen darf, die eigene Zeit sei per se gegen Tragödien, blinden Hass und Menschenfeindlichkeit gefeit. Sie mahnt, dass sich jede Generation stets aufs Neue im Klaren sein muss: Toleranz braucht Mut, Freiheit braucht Respekt, Zivilisation braucht Engagement.

Heinz Galinski hat einmal über die Demokratie gesagt: „Sie muss täglich erkämpft und verteidigt werden.“ Genau dazu ist und bleibt jeder in unserem Land aufgerufen. In diesem Sinne empfinde ich persönlich die heutige Auszeichnung mit dem Heinz-Galinski-Preis nicht nur als eine große Ehre, sondern vor allem als Verpflichtung und Ansporn. Herzlichen Dank.