Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Veranstaltung „20 Jahre Wiedervereinigung – auch eine Erfolgsgeschichte für jüdische Gemeinden“ 

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Veranstaltung „20 Jahre Wiedervereinigung – auch eine Erfolgsgeschichte für jüdische Gemeinden“ 

in Berlin

Dienstag, 26. Oktober 2010

Sehr geehrte Frau Süsskind,

sehr geehrter Herr Professor Wolffsohn,

lieber Herr Joachim,

Exzellenzen,

meine Damen und Herren,

ich freue mich, heute hier bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zu sein. Diese Veranstaltung geht auch auf eine Idee von Herrn Professor Wolffsohn zurück, der angesichts der vielen Feierlichkeiten, die wir vor dem Hintergrund des 20. Jahrestags des Mauerfalls und anlässlich 20 Jahre Deutsche Einheit hatten, sich gedacht hat, dass dies doch auch eine Möglichkeit wäre, einmal aus der Perspektive des jüdischen Lebens hier in Deutschland an diese Tage zu denken. Die Worte von Frau Süsskind haben eben schon gezeigt, was in den letzten 20 Jahren alles passiert ist. Der 20. Jahrestag der Wiedervereinigung wurde in den vergangenen Wochen schon auf vielfältige Weise gewürdigt. Ich finde es besonders schön, hier jetzt in der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands zu einer Feier zusammenzukommen und aus jüdischer Perspektive noch einmal über den Einigungsprozess und das, was daraus geworden ist, nachzudenken.

Der Einigungsprozess im Jahr 1990 war sehr stark von praktischen Fragen geprägt. Schließlich galt es, zwei Staats- und Verwaltungsstrukturen zusammenzuführen, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Aber auch kritische Fragen zur Zukunft des wiedervereinigten Deutschlands wurden damals gestellt. Was wird aus dem Ruf „Wir sind ein Volk“? Entwickeln sich Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein als geeinte Nation – ein Selbstbewusstsein, das integrierend wirkt statt diskriminierend? Welchen Platz wird Deutschland in Europa einnehmen? Wirkt es gemeinsam mit anderen Staaten in der Union für das europäische Gemeinwohl? Oder wird das größer gewordene Deutschland in Zukunft kompromisslos auf eigene Interessen pochen? Ich will nicht verhehlen: Diese Diskussion begleitete uns nicht nur im Jahre 1990, sondern sie begleitet uns auch heute, denn diese Fragen muss man immer wieder aktuell beantworten.

Viele hat das, was geschehen ist, bewegt – im Inland, aber auch im Ausland. Wir sind – ich sage das auch ganz persönlich – natürlich sehr dankbar dafür, dass letztlich das Vertrauen gesiegt hat: Das Vertrauen unserer Nachbarn und Partner in Amerika und Europa, ohne die die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre, und auch das Vertrauen der Menschen hierzulande in ihr eigenes Land, in ihren Staat und ihre Fähigkeit, Einheit zu gestalten und der gewachsenen Verantwortung in Europa gerecht zu werden – dies sage ich ganz bewusst hier in der jüdischen Gemeinde. Und dazu gehört nicht zuletzt auch, dass wir immer versucht haben, diesem Vertrauen gerecht zu werden.

Charlotte Knobloch hat kürzlich in einem Interview erwähnt, dass sie der Wiedervereinigung von Beginn an sehr positiv gegenüberstand. Die Bedenken gerade derer, die unter den Nationalsozialisten gelitten hatten, seien ihr sehr verständlich gewesen. Dann aber sagte sie: „Ich lebte ja hier und wusste, wie gefestigt diese Demokratie war.“ Für dieses Vertrauen bin ich Charlotte Knobloch sehr dankbar.

Sicherlich, solches Vertrauen wurzelte insbesondere in der früheren Bundesrepublik, die sich jahrzehntelang als demokratischer Rechtsstaat bewährt hat. Sie alle wissen: Davon konnte in der DDR keine Rede sein. Und dennoch, auch hier wurde in Familien versucht, Werte zu leben. Wir haben 1989 ja auch erlebt, dass das Freiheitsstreben nicht ausgelöscht werden konnte – anders wäre die Deutsche Einheit gar nicht möglich geworden. Schließlich ist die Friedliche Revolution dem Mut und der Zivilcourage zahlloser DDR-Bürgerinnen und -Bürger zu verdanken. Viele haben dann mit angepackt, Demokratie zu gestalten.

Ich erinnere mich sehr gut daran, dass eines der ersten Dinge, die die Volkskammer getan hat, die Anerkennung des Staates Israel war. Eine Anerkennung hatte es bislang in der ehemaligen DDR nicht gegeben – man kann sich das heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Es wurde dann auch gleich damit begonnen, von Parlament zu Parlament einen Austausch zu pflegen. Ich habe es schon oft erzählt: In der ehemaligen DDR gab es ja nicht einmal Briefverkehr zwischen der DDR und Israel. Das heißt, wenn man Sonderdrucke, also Kopien – damals gab es in der DDR ja auch noch keine Kopiergeräte; E-Mails erst recht noch nicht –, oder einen Abdruck eines Beitrags eines israelischen Wissenschaftlers in einer renommierten wissenschaftlichen Zeitung beschaffen wollte, dann schrieb man einen befreundeten Professor in Amerika an, um ihn zu bitten, eine Kopie zu senden. Wenn man ihn besser kannte, hat man ihn gebeten, den Versuch zu unternehmen, den israelischen Professor zu bitten, den Versuch zu machen, den Text mit der Post zu schicken. Und dann hat man gewartet, ob das irgendwie in der DDR ankam. Ganz selten passierte es, aber im Allgemeinen nicht. So waren damals die Zeiten. Deshalb war es uns natürlich ein großes Bedürfnis, dies sehr schnell wettzumachen, als wir freiheitliche Möglichkeiten hatten.

Ich glaube, wir können heute sagen: Ob West oder Ost, wir haben es gemeinsam geschafft, Vertrauen zu gewinnen – Vertrauen darauf, dass die Chancen der Freiheit eines geeinten Deutschlands genutzt und nicht auf Kosten anderer ausgenutzt werden. Freiheit steht ja nie für sich allein. Sie ist immer auch an Verantwortung gebunden. Freiheit – ich habe es schon oft gesagt – ist für mich persönlich die glücklichste Erfahrung, die ich in meinem Leben machen konnte. Auch bald 21 Jahre nach dem überwältigenden Geschenk der Freiheit und 20 Jahre nach Vollendung der Einheit Deutschlands gibt es noch immer nichts, das mich mehr begeistert als die Möglichkeit, in einer freiheitlichen Umgebung zu leben. Ich fühle mich davon angespornt. Das wertvolle Gut der Freiheit sollten wir uns stets vergegenwärtigen und immer auch an die denken, die unter Unfreiheit leiden.

Das Leben in der DDR war in weiten Teilen von Unfreiheit geprägt. Man konnte sich mit manchen Gepflogenheiten zwar arrangieren und ein Leben in bestimmten Schranken führen. Man konnte mit Freunden natürlich auch offen diskutieren. Aber sobald jemand ein Stückchen von den Normen abwich – und sei es, nur um das Recht der freien Religionsausübung für sich in Anspruch zu nehmen –, dann zeigte sich sehr schnell und sehr klar, wie tief Partei und Staat versuchten, in das persönliche Leben einzugreifen.

So fand das religiöse Leben in der DDR überwiegend zurückgezogen statt. Das galt auch und vor allem für das jüdische Gemeindeleben. Das konnte und kann auch in keiner Weise gerechtfertigt werden. Wenn man sich überlegt, dass nur wenige Juden – einige Hunderte – in der DDR lebten, sieht man auch, in welcher Weise das damalige Regime gehandelt hat. Wir haben uns zwar immer sehr viel mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt, aber immer unter weiter Ausblendung dessen, was der Holocaust angerichtet hatte. Es ging um Kommunisten und es ging um Widerständler. Natürlich haben wir in privaten Informationen auch vieles von jüdischen Schicksalen gehört, aber längt nicht in dem Maße, wie dies hätte geschehen müssen.

So war das Schicksal der wenigen Juden und jüdischen Gemeinden in der DDR auch ein Indikator für die gesellschaftlichen Verhältnisse, die damals in der DDR insgesamt herrschten. Antisemitismus gehörte nach der offiziellen Doktrin der Vergangenheit an. Ihn gab es offiziell nicht. Damit war das Thema abgehakt. Das Dogma sollte die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Schuld ersetzen. Umso notwendiger ist es, auch heute immer wieder Gespräche mit denen zu führen, die in den neuen Bundesländern leben, denn hier fehlt wirklich ein Stück langjähriger Auseinandersetzung. Ich weiß, dass gerade auch die israelische Botschaft sehr stark diese Gespräche sucht. Ich bin allen dankbar, die das immer wieder tun.

Etwas als abgeschafft zu erklären, heißt nicht, dass es auch wirklich aufgehört hat zu existieren. So haben wir dann leider nach dem Fall der Mauer erlebt, dass Antisemitismus etwas war, das in den Köpfen einiger Menschen weiter existierte. Deshalb möchte ich ganz deutlich sagen, dass der Kampf gegen Antisemitismus, wie Sie, Frau Süsskind, das eben auch deutlich gemacht haben, für uns eine immerwährende Aufgabe sein wird.

Ich möchte diesbezüglich noch an die Prozesse in den frühen 50er Jahren in der ehemaligen DDR erinnern, die viele antisemitische Stereotype bedienten. Überlebende des Holocaust galten im Unterschied zu den sogenannten antifaschistischen Widerstandskämpfern als Opfer zweiter Klasse, als passive Opfer der nationalsozialistischen Kriegsführung. Im Rückblick kann man sich diese Unverfrorenheit überhaupt nicht erklären. Aber das war eben Teil dessen, was die DDR und was das ganze kommunistische bzw. sozialistische Weltsystem, wie es sich selbst nannte, ausmachte. Auch die Israelfeindlichkeit offenbarte das wahre Gesicht der Partei- und Staatsführung. Israel nannte sie stets nur „zionistisches Gebilde“.

Meine Damen und Herren, unter Ihnen hier im Saal sind gewiss viele, die mit ihrer eigenen Geschichte Beispiele für Antisemitismus in der DDR und anderen ehemaligen Ostblockstaaten erzählten könnten. Das sind Erfahrungen, die prägen und die sich auch nach Jahren nicht einfach abschütteln lassen. Umso wichtiger war es, dass nach dem Mauerfall endlich auch öffentlich eine umfassende und ehrliche Aufarbeitung möglich wurde. So war die Bitte um Entschuldigung der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR im Frühjahr 1990 ein erster Schritt. Wir haben uns damit – ich sage jetzt bewusst „wir“ als jemand, der früher in der DDR gelebt hat – zur Mitverantwortung für die Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder im nationalsozialistischen Deutschland bekannt. Wir baten um Entschuldigung für die Diskriminierung der jüdischen Bürger in der DDR und für die offizielle Politik gegenüber dem Staat Israel.

Damit wurde der Weg für einen bemerkenswerten und folgenreichen Entschluss geebnet: Jüdische Bürger der ehemaligen Sowjetunion erhielten die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen. Das hat in der Folgezeit – wir haben es von Frau Süsskind gehört – das jüdische Leben hierzulande tiefgreifend verändert. Die Gemeinden sind gewachsen, die Mitgliederzahlen haben sich in etwa vervierfacht. In Orten, in denen das jüdische Leben jahrzehntelang brachlag, gründeten sich neue Gemeinden. Synagogen wurden gebaut und eingeweiht. In unserem Land werden wieder Rabbiner ausgebildet und ordiniert.

Ja, ich kann den Titel Ihrer heutigen Veranstaltung nur unterstreichen: „20 Jahre Wiedervereinigung“ sind „auch eine Erfolgsgeschichte für jüdische Gemeinden“. Dass jüdisches Leben nach den Schrecken der Schoah in Deutschland so aufblühen konnte, ist ein einzigartiger Vertrauensbeweis. Diesem Vertrauensbeweis will ich – persönlich und als Bundeskanzlerin – nach Kräften gerecht werden. Wir können gemeinsam schlichtweg danken für diese Erfolgsgeschichte. Und ich glaube, wir sollten sie auch als Ansporn und als Verpflichtung sehen. Wir können das vielleicht in einem Satz zusammenfassen: Die Stärkung des jüdischen Lebens in Deutschland und die Sicherheit des Staates Israel gehören zur deutschen Staatsräson.

Heute spiegelt sich in den jüdischen Gemeinden sicher auch die europäische Dimension der Wiedervereinigung wider. Besonders deutlich wird dies natürlich am bereits erwähnten Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Jüdisches Leben in Deutschland ist wieder vielfältig – und damit auch vielstimmig. Pluralität, sei sie religiös oder kulturell, birgt natürlich Herausforderungen. Aber ich erinnere daran: Die Alternative ist nicht wirklich schön. Insofern ist es schon gut, dass Traditionen und Selbstbilder immer wieder in Frage gestellt werden und daraus auch Fortschritt erwächst. Vor diesem Hintergrund ist die enorme Integrationsleistung zu würdigen, die Alteingesessene wie Zuwanderer in den jüdischen Gemeinden vollbracht haben und immer noch vollbringen.

Auch heute leisten der Zentralrat und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, die Landesverbände und die vielen engagierten Gemeindemitglieder Großartiges. Ich konnte mir das zum Beispiel auch in München hautnah anschauen und sage: Es ist bewundernswert, was dort geleistet wird. Gemeinsam zeigen Sie, was Integration bedeutet. Es wird vorbildlich an religiöser Einbindung und gesellschaftlicher Teilhabe gearbeitet. Sie geben so ein wunderbares Beispiel gelungenen Miteinanders in unserer Gesellschaft. Wenn heute in Deutschland das Thema Integration auf der Tagesordnung steht, dann denkt kaum jemand an jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, denn sie sind in der Regel gut integriert.

Insgesamt gibt es in unserem Land viele Migranten, die hier ihren Platz und ihre Heimat gefunden haben. Das sollten wir in der hitzigen Diskussion, die zum Teil geführt wird, nicht vergessen. Andererseits zielt die Integrationsdebatte heute auf die Menschen, die sich schon vor vielen, vielen Jahren in Deutschland ansiedelten, aber nur in Ansätzen heimisch geworden sind. Die Debatte zielt auch vor allen Dingen auf deren Kinder und Enkelkinder, die hier zwar aufgewachsen sind, sich aber dennoch schwertun mit der deutschen Sprache, mit der deutschen Kultur, mit unseren Werten und Gepflogenheiten. Ich glaube, wir tun der Integration nichts Gutes, wenn wir da etwas beschönigen würden, sondern wir müssen die Probleme benennen und dann vor allen Dingen mit aller Kraft alles daransetzen, Lösungen zu finden – und das am besten immer gemeinsam mit den Betroffenen.

In einem fremden Land Fuß zu fassen, verlangt vielerlei Anstrengungen. Viele im Raum hier können davon erzählen. Natürlich darf niemand gezwungen werden, sich von seinen kulturellen Wurzeln zu verabschieden. Aber zweifellos müssen Zuwanderer auf die Verhältnisse ihrer neuen Heimat reagieren. Sie müssen Gegebenheiten annehmen, vorneweg die in unserem Grundgesetz festgeschriebenen Werte. Zugleich verändert Zuwanderung – auch das muss in der Diskussion immer wieder betont werden – aber auch die Gegebenheiten unseres Landes. Deutschland hat sich durch den Zuzug von Menschen aus verschiedenen Ländern der Welt verändert und wird sich weiter verändern. In vielen Bereichen hat es sich zum Guten verändert.

Heute haben viele Städte nicht nur Kirchen und vielleicht eine oder sogar mehrere Synagogen. Heute stehen in vielen Städten Deutschlands auch Moscheen. Das ist eine Tatsache. Das ändert nichts daran, dass unser Land von seiner christlich-jüdischen Geschichte und Kultur geprägt ist und dies auch bleiben wird. Es kommt aber darauf an, stärker als bisher ein gutes Miteinander aller Menschen, gleich welcher Herkunft oder Religion, einzufordern und zu stützen. Da ist jeder Einzelne mit seinen Erfahrungen und Fähigkeiten gefragt – zum einen in der Pflege des Dialogs. Es geht um Verständigung über historische und kulturelle Grundlagen. Es geht um Verständigung über geteilte Interessen, Traditionen und Werte bis hin zu einer gemeinsamen Vision für die Zukunft. Das alles kann das Zusammengehörigkeitsgefühl festigen. Zum anderen ist jeder von uns auch beim Aufzeigen von Grenzen gefragt. Anstand und Respekt gegenüber anderen zu wahren, den anderen als gleichwertiges und gleichberechtigtes Individuum zu sehen und zu achten – das ist schlichtweg eine Frage der Menschlichkeit.

Auf dieser Grundlage können wir für den Integrationsprozess in den jüdischen Gemeinden festhalten: In der Nachkriegsgeschichte ist jüdisches Leben in Deutschland heute präsenter denn je. Bund und Länder unterstützen diesen Prozess. Insbesondere der Staatsvertrag zwischen dem Zentralrat der Juden und der Bundesregierung gibt dem sensiblen Miteinander ein festes Fundament. Dabei geht es keineswegs allein um finanzielle Unterstützung in bestimmter Höhe. Paul Spiegel stellte hierbei fest: „So hilfreich diese Summe auch sein mag, so ist doch der symbolische Wert dieses Vertrages weit höher.“ In der Tat, mit dem Vertrag unterstreicht Deutschland: Jüdisches Leben in Deutschland soll gestärkt werden, es ist erwünscht, es ist willkommen. Zudem steht der Staatsvertrag für die sichtbare Überzeugung der Gemeinden und ihres Zentralrats: Jüdisches Leben gehört zu Deutschland; es hat hier eine Heimat.

Insofern betrachte ich die Entscheidung zur jüdischen Zuwanderung im Kontext der Wiedervereinigung als eine gute Fügung. Beides ließ sich vereinbaren, ja, gehörte förmlich zusammen: das Zusammenwachsen des geeinten Deutschlands und das Erstarken der jüdischen Gemeinden.

1989 haben die Ostdeutschen gerufen: „Wir sind das Volk!“ – und dann sehr schnell: „Wir sind ein Volk!“ Das rief ein Nationalgefühl wach, das lange verschüttet war – aus nachvollziehbaren Gründen. Inzwischen ist in Deutschland ein neuer Patriotismus gewachsen, der auf der Grundlage unverbrüchlicher Werte offen ist für verschiedene Herkünfte und kulturelle Prägungen. Ohne Zweifel, es gibt nationalistische und fremdenfeindliche Auswüchse in unserem Land. Wer wollte das bestreiten? Gegen sie müssen wir mit aller Konsequenz vorgehen. Wir können dies erfolgreich, weil wir verstehen, dass wir eine gute Zukunft erst im Bewusstsein unserer immerwährenden Verantwortung für die Vergangenheit gestalten können.

Professor Michael Blumenthal schreibt in seinen Erinnerungen: „Für diejenigen von uns, die mit den Qualen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts in nähere Berührung gekommen sind, ist das Deutschland von heute nichts weniger als ein Wunder.“ Dass ein solches Wunder möglich wurde, dazu haben jüdische Gemeinden maßgeblich beigetragen. Dafür möchte ich Ihnen allen ganz herzlich danken.

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