Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Eröffnung der Internationalen Afghanistan-Konferenz

Sehr geehrter Herr Präsident Karsai,

sehr geehrter Herr Generalsekretär der Vereinten Nationen,

sehr geehrte Ministerinnen und Minister,

Exzellenzen,

sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, Sie alle hier heute zur Internationalen Afghanistan-Konferenz begrüßen zu dürfen – dies auch im Namen der gesamten Bundesregierung. Wir – ganz besonders der deutsche Außenminister und das Außenministerium – haben diese Konferenz mit Leidenschaft und mit großem Engagement vorbereitet, denn wir glauben, dass dies ein Treffen ist, das uns eine einzigartige Möglichkeit gibt, die Partnerschaft mit der afghanischen Regierung und auch mit dem ganzen afghanischen Volk zu verbreitern und weiterzuentwickeln. Die Anwesenheit von 100 Delegationen und auch von zahlreichen Vertretern der Zivilgesellschaft zeigt uns, welche Möglichkeiten wir mit dieser Konferenz haben.

Als Sie, sehr geehrter Herr Präsident Karsai, mich auf dem NATO-Gipfel in Lissabon im vergangenen Jahr gefragt haben, ob Deutschland bereit sei, abermals eine Afghanistan-Konferenz auszurichten, habe ich Ihrer Bitte sehr gerne entsprochen, aber in dem Geist, dass der Spiritus Rector dieser Veranstaltung nicht die deutsche Bundesregierung ist, sondern Sie, Präsident Karsai, stellvertretend für alle Vertreter Afghanistans.

Auf dieser Konferenz geht es um die zentrale Frage: Wie arbeiten wir bis 2014 zusammen und wie geht es nach 2014 weiter? Ich möchte hier gleich zu Beginn noch einmal die Botschaft wiederholen: Afghanistan kann sich auch nach 2014 auf die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft verlassen. Das ist eine der ganz wichtigen Lehren, die wir aus vielen historischen Ereignissen in Afghanistan gezogen haben und ziehen werden.

Genau heute vor zehn Jahren kamen in Deutschland, hier in Bonn, schon einmal Delegationen aus aller Welt unter der Ägide der Vereinten Nationen zusammen, um über die Zukunft Afghanistans nach dem Ende der Schreckensherrschaft der Taliban zu beraten. Zehn Jahre später ist es natürlich an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Damals waren staatliche und gesellschaftliche Strukturen zerstört, wenige hatten Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Öffentliche Sicherheit und Ordnung waren in einem äußerst prekären Zustand. Heute, zehn Jahre später, können wir festhalten, dass wir durch einen beispiellosen Einsatz vorangekommen sind. Aber wir müssen auch sagen: Es lohnt sich, auch zehn Jahre später noch einmal einen realistischen Blick auf die Situation zu werfen.

Damals waren es zwei Ziele, die die internationale Staatengemeinschaft geleitet haben. Erstens, es liegt im internationalen Interesse, dass Afghanistan wieder ein stabiler Staat wird, damit von Afghanistan nie wieder eine terroristische Bedrohung für die gesamte Welt ausgehen kann. Zweitens wollen wir Hilfe leisten für das afghanische Volk – Hilfe zur Selbsthilfe, damit die Menschen in Afghanistan eines Tages endlich auch in Frieden und in Wohlstand leben können.

Seitdem haben wir viele Erfahrungen gesammelt – positive, aber auch negative. Wir mussten vieles über Ihr Land lernen. Und wir haben es gerne gelernt. Es ist nicht ganz einfach, die Strukturen in Afghanistan immer vollständig zu überblicken, aber wir haben eines miteinander festgestellt: Ohne Sicherheit ist kein Wiederaufbau möglich – und Sicherheit wird ohne zivilen Wiederaufbau auch nur eine Fassade sein. Aus beidem haben wir unsere Strategie entwickelt, die durchaus erfreuliche Ergebnisse – Präsident Karsai hat darauf hingewiesen – mit sich gebracht hat. Heute haben fast zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung Zugang zu medizinischer Versorgung. Wenn ich einmal ein Beispiel aus dem deutschen Erfahrungsbereich nennen darf, dann kann man sagen, dass Masar-i-Scharif heute erfreulicherweise wieder dabei ist, sich zu einem regionalen wirtschaftlichen Kraftzentrum zu entwickeln.

Aber wir haben auch immer wieder Rückschläge zu verkraften und müssen sagen: Obwohl sich die Sicherheitslage verbessert hat, sind wir noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem wir eines Tages sein wollen. Aber wir können jetzt immerhin Schritt für Schritt ein Konzept umsetzen, das die Übergabe in Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte möglich macht. Grundlage dafür war und ist die Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften im Rahmen des „Partnering“ und „Mentoring“. Ich möchte an dieser Stelle neben allen, die einen Beitrag für die Sicherheit in Afghanistan leisten, den Vereinigten Staaten von Amerika in ganz besonderer Weise danken, denn sie leisten hier einen großen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage.

In wenigen Monaten wird die Verantwortung für die Sicherheit von mehr als der Hälfte Afghanistans in afghanischen Händen liegen. Das ist eine neue qualitative Stufe. Bis 2014 wollen wir dann das gesamte afghanische Territorium übergeben können. Dann allerdings wird unsere Arbeit nicht beendet sein, sondern dann wird es darum gehen, die Sicherheitskräfte weiter zu ertüchtigen, sie weiter auszubilden und sie weiter zu unterstützen, auch wenn wir nicht mehr mit Kampftruppen dabei sein werden. Dann wird es darum gehen, die Entwicklungsarbeit zu verstetigen, um die Ziele zu erreichen, die wir uns vorgenommen haben. Dann wird es sicherlich noch darum gehen, den politischen Prozess, den Versöhnungsprozess, ebenso weiter voranzubringen wie, Präsident Karsai hat es eben gesagt, den wirtschaftlichen Aufbau in Afghanistan.

Der Aufbau der Sicherheitskräfte ist weit vorangekommen. Mehr als 300.000 afghanische Soldaten und Polizisten sind bereits im Einsatz. Wir werden das Konzept des „Mentoring“ und „Partnering“ fortsetzen und gleichzeitig unsere eigenen Truppen reduzieren können. Auch Deutschland wird das in verantwortlichem Maße machen.

Ein entscheidender Wegbereiter für den heutigen Tag war die Regionalkonferenz in Istanbul am 2. November. Dort haben sich die Staaten der Region verpflichtet, einen afghanisch geführten Versöhnungsprozess zu akzeptieren. Auch die Frage der Nachbarschaft Afghanistans ist natürlich eine zentrale Frage. Denn ich glaube, dass Frieden und Entwicklung in Afghanistan auch ein Stimulus für eine gedeihliche Entwicklung der gesamten Region sein können.

Das privatwirtschaftliche Engagement in Afghanistan ist natürlich auch von allergrößter Bedeutung. Die europäische Bergbauindustrie – ermuntert auch durch die Europäische Union und Deutschland – hat sich dafür entschieden, so schnell wie möglich eine Partnerschaft zu entwickeln, immer in dem Geist der Hilfe zur Selbsthilfe. Afghanistan soll von seinen Ressourcen profitieren und sich entwickeln können. Das ist für uns die große Zielsetzung.

Meine Damen und Herren, zweifellos stehen die afghanische Regierung und das afghanische Volk vor großen Herausforderungen. Bei allem, was wir erreicht haben, dürfen wir den Blick für die Realitäten nicht verlieren. Von hoher Bedeutung ist der politische Prozess, in dem die Fragen von Versöhnung und Machtverteilung unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen und ethnischen Gruppen gelöst werden müssen. Wir können dabei helfen. Wir können unsere Erfahrungen und unsere Hilfe mit einbringen. Lösen können dieses Problem aber nur die Afghanen selbst. Deshalb bitte ich Sie, Herr Präsident Karsai, dass Sie mit Ihrem politischen Willen und Ihren Fähigkeiten dazu beitragen, diesen politischen Prozess voranzubringen, Korruption und Drogenhandel zu bekämpfen und die Bedingungen für das Leben der Menschen dadurch zu verbessern.

Uns leitet die tiefe Überzeugung, dass die Menschen in Afghanistan genauso wie woanders auf der Welt in Frieden miteinander leben wollen. Auf diesem Weg wollen wir Sie unterstützen. Deshalb wird diese Konferenz eine klare Botschaft haben: Afghanistan kann auf unsere Unterstützung zählen, und zwar nicht nur die Regierung und die Institutionen, sondern alle Menschen – Männer und Frauen, Jüngere und Ältere, egal welcher Herkunft sie sind. Uns eint das Ziel eines sicheren und souveränen Afghanistans in einer friedlichen und prosperierenden Region.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, Herr Präsident, und der gesamten Konferenz viel Erfolg. Wir freuen uns, Gastgeber sein zu können. Und wir sind bereit, mit Ihnen auch in den nächsten Jahren hart zu arbeiten – zum Wohle der Menschen in Afghanistan.