Rede der Bundeskanzlerin zur Verleihung des Deutschen Sozialpreises 2012

Sehr geehrter Herr Stockmeier,
sehr geehrte Vertreter der Wohlfahrtspflege,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag
und gegebenenfalls auch aus den Landtagen,
sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger,
meine Damen und Herren,

der Deutsche Sozialpreis ist längst eine Institution. Herr Stockmeier hat schon darauf hingewiesen: Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege verleiht ihn nun bereits zum 41. Mal. Der Preis ist somit schon eine feste geschichtliche Größe. Sicherlich haben sich die Gegebenheiten seit 1971 geändert. Doch damals wie heute gab und gibt es viele Menschen, die einer helfenden Hand bedürfen und eine Stimme in unserer Gesellschaft brauchen, die ihre Anliegen zu Gehör bringen kann.

Es gibt glücklicherweise auch immer engagierte Frauen und Männer, die sich genau dieser Aufgabe annehmen. So gibt es auch immer einen Grund, danke zu sagen. Eine besonders schöne Form, diese Anerkennung zum Ausdruck zu bringen, ist der Deutsche Sozialpreis. Deshalb bin auch ich gerne zu Ihnen gekommen, um sowohl den Preisträgern für ihre herausragende journalistische Arbeit als auch den vielen Aktiven in der Freien Wohlfahrtspflege zu danken, die mit ihrem unschätzbaren Dienst helfen, unserer Gesellschaft ein menschliches Gesicht zu geben.

Ihre Verbände sind starke Pfeiler unseres Sozialwesens, sie sind unverzichtbare Partner in unserem Sozialstaat. Auch als Arbeitgeber sind die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege ein soziales und wirtschaftliches Schwergewicht, denn sie beschäftigen mehr als 1,5 Millionen hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen arbeitet mit Menschen, die mit besonderen Problemen zu kämpfen haben. Jeder, der in diesem Bereich tätig ist, braucht ein ganz besonderes Fingerspitzengefühl und die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf andere einzulassen, sich in ihre Lage zu versetzen, um sie besser verstehen und ihnen überhaupt helfen zu können.

Die Ausgangslage derjenigen, die Hilfe brauchen, kann natürlich sehr unterschiedlich sein. Da kommen erwerbstätige Eltern zu Ihnen, die für ihr Kind eine gute und liebevolle Betreuung suchen. Da kommen auch Mütter und Väter, die selbst eine Beratung brauchen. Andere sind wegen einer Behinderung auf Versorgung angewiesen. Viele hoffen auf geeignete Bedingungen, um einer Beschäftigung nachgehen zu können. Ob im Alter, bei Krankheit oder in besonderen Notlagen – es ist sehr wichtig, dass sich Menschen auf soziale Dienste verlassen können. Selbst wenn wir nur einmal ein paar Tage lang nicht ganz gesund sind, erfahren wir ja, wie schnell es gehen kann, dass man die Hilfe anderer braucht, und wie sehr wir uns darüber freuen, wenn es sie gibt.

Es bedeutet sehr viel Verantwortung für die im sozialen Bereich Beschäftigten, wenn sie Hilfsbedürftigen, Verzweifelten und Ratsuchenden zur Seite stehen – wir vergessen oft, dass das Tag für Tag immer wieder notwendig ist. Deshalb möchte ich diese Veranstaltung auch nutzen, um allen, die sich dieser Aufgabe widmen, ein ganz herzliches Dankeschön zu sagen.

Aber damit nicht genug, denn es gibt auch noch rund 2,5 Millionen ehrenamtlich Tätige. Diese möchte ich natürlich auch in meinen Dank ganz herzlich einbeziehen. Ich möchte auch diejenigen erwähnen, die in den Einrichtungen ihr Freiwilliges Soziales Jahr oder einen Bundesfreiwilligendienst absolvieren. Es sind insgesamt etwa 85.000 zumeist junge Menschen – aber nicht nur junge Menschen –, die die Chancen dieser staatlichen Angebote nutzen.

Einige Wohlfahrtsverbände – um eine Sekunde beim Bundesfreiwilligendienst zu bleiben – waren sich am Anfang ja nicht sicher – dazu muss ich ehrlicherweise sagen: auch ich war mir nicht ganz sicher –, ob wir dafür überhaupt genügend Bewerber finden würden. Aber spätestens ein Jahr nach der Einführung konnte man doch sagen, dass die Zweifel verflogen waren.

Ehrlich gesagt, jetzt haben wir mehr mit der Frage zu tun, wo wir mehr Geld für den Bundesfreiwilligendienst herbekommen, als mit der Frage, wo wir mehr Bewerber herbekommen. Das ist, wie ich finde, doch ein unerwartet guter Befund, der uns sagt, dass es sehr viele Menschen mit Bürgersinn gibt, dass sich viele Menschen einbringen wollen – und sei es auch nur für einen kurzen Abschnitt in ihrem Leben –, dass sie andere Menschen unterstützen wollen und vielleicht auch für das eigene Leben sehr wertvolle Erfahrungen sammeln wollen. Dass die Wohlfahrtseinrichtungen zu den ersten Adressen zählen, bei denen sich Bewerber melden, ist ja auch ein Ausweis ihrer Güte, ihrer Qualität und ihrer Attraktivität.

Die Freie Wohlfahrtspflege hat sich mit ihrem Eintreten für sozialen Ausgleich einen Namen gemacht. Dass Sie Ihren Blick auf sozial schwächere und hilfsbedürftige Menschen lenken, gehört zu Ihrem Selbstverständnis. Die Auswahl der Wettbewerbsbeiträge für den Deutschen Sozialpreis unterstreicht genau diese Anwaltsfunktion. Sie verstehen es, Finger in die Wunden zu legen, um auf soziale Missstände hinzuweisen und Verbesserungen anzumahnen. Deshalb habe ich mich auch immer um einen konstruktiven Austausch mit den Wohlfahrtsverbänden bemüht und werde das auch weiter tun. Das sind nicht immer Harmonieveranstaltungen, denn da werden auch Forderungen gestellt. Ich gebe auch zu: Nicht allen Forderungen können wir sofort nachkommen. Es ist aber wichtig, dass wir uns darüber austauschen.

Die Frage der Gerechtigkeit ist ja eine weite Frage. Einerseits geht es dabei darum, wie viel Geld wir für soziale Leistungen brauchen. Andererseits muss sich die Politik auch darum kümmern, dass dieses Geld auch erwirtschaftet wird. Denn wir alle haben mittlerweile mitbekommen: Auch das Leben auf Pump, das Schuldenmachen, ist zum Schluss eine Gerechtigkeitsfrage. Wir sehen jetzt in einigen Ländern, die uns sehr nahestehen, dass es zum Schluss eigentlich immer die Schwächsten trifft. Ich denke dabei zum Beispiel an Griechenland – ich komme gerade aus der Bundestagsfraktion, in der wir wieder darüber gesprochen haben –: So oft, wenn Veränderungen in einem Land notwendig sind, trifft es die Allerschwächsten und nicht diejenigen, die mit viel Geld schon längst über alle Berge sind.

Das Organisationsprinzip in unserem Land ist das sogenannte Subsidiaritätsprinzip – sperrig im Ausdruck, aber gut im Anliegen. Wir sagen: Was Einzelne oder kleine Gemeinschaften selber können, das sollten sie auch wirklich machen dürfen. Das heißt also, der Staat sollte sich eben nicht für alles zuständig erklären, denn ansonsten würde er für die Menschen nicht sehr attraktiv sein. Stattdessen muss der Staat für geeignete Rahmenbedingungen sorgen.

Hilfe zur Selbsthilfe – das ist das Credo, das auch Sie als Wohlfahrtsorganisationen versuchen zu leben. Dabei geht es darum, Menschen wieder zu ertüchtigen und ihnen ein Stück Unabhängigkeit und Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung zu geben. Die Frage, wie wir Eigenverantwortung in unserem Land stärken können, ist sicherlich immer wieder eine Diskussion wert. Dabei wäre es natürlich nicht hilfreich, wenn gesagt wird: Das ist eigentlich nur die intelligenteste Art und Weise, zu erklären, warum man gerade kein Geld hat. Darum darf es dabei nicht gehen. Ich glaube aber, wir alle sind uns einig, dass ein Stück zurückgewonnener eigener Lebensqualität auch das Anliegen Ihrer Arbeit ist. Ohne finanzielle Zuwendung ist das natürlich oft nicht zu erreichen.

Es geht also um den Versuch, einerseits keine dauerhafte Abhängigkeit von Hilfsleistungen zu schaffen, auf der anderen Seite aber so viele Hilfeleistungen geben zu können, dass Menschen ihren Lebensweg so weit wie möglich, und soweit das in ihren Kräften liegt, selber gehen können. Deshalb stehen wir sozusagen eng miteinander in Kontakt, denn das ist auch unser Anliegen.

Wir wissen, dass wir eine Gesellschaft sind, die großen Veränderungen entgegensieht, die schon mitten im Gang sind. Der demografische Wandel wird unser Land sehr verändern. Wir sind eines der Länder auf der Welt, die am schnellsten mit dem demografischen Wandel konfrontiert werden. Die Aufgaben, die wir dabei zu erledigen haben, stehen heute vielleicht noch nicht allen von uns vollkommen vor Augen.

Ich erzähle, seitdem ich 2007 bei Ihnen war, immer wieder von einem mit dem Deutschen Sozialpreis ausgezeichneten Hörfunkbeitrag über Telefonate zwischen Asylbewerbern und ihren Angehörigen in der Heimat. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an diesen Beitrag erinnern. Darin ging es auch um einen jungen Mann aus Äthiopien, der seine Mutter anrief. Die Mutter fragte: Junge, wie ist denn das – in Deutschland ist es doch so kalt; frierst du nicht dauernd? Der Junge antwortete: Ach Mutter, damit komme ich schon klar; aber eines muss ich dir sagen: Hier sind so viele alte Menschen auf der Straße, dass du überhaupt nicht auffallen würdest, wenn du dich hier auch einmal auf eine Bank setztest. Das hatte mir schlaglichtartig noch einmal vor Augen geführt, dass es Gegenden auf der Welt gibt, in denen die Bevölkerung ganz anders als bei uns zusammengesetzt ist.

Im Jahr 2030 werden wir rund sechs Millionen Menschen weniger im erwerbsfähigen Alter haben. Das sagt uns natürlich: Das Thema Pflege, das Thema Zusammenleben im Alter, das Thema des Zusammenbringens der Generationen werden riesige Themen werden. Gleichzeitig wird die Sorge um jeden jungen Menschen beziehungsweise die Aufgabe, seine Potenziale zu fördern, natürlich eine noch drängendere Aufgabe; und zwar nicht nur aus individuellen Gründen – die gelten immer –, sondern auch aus gesellschaftlichen Gründen. Der demografische Wandel ist an manchen Stellen schon spürbar. Sie alle, die Sie im Pflegebereich tätig sind, wissen auch, was es heißt, über Fachkräftemangel zu sprechen. Deshalb ist es noch wichtiger, dass wir in unserer Gesellschaft Vorsorge treffen für den sozialen Schutz.

Die Bundesregierung hat nach sorgsamer Analyse eine Demografiestrategie entwickelt, mit der wir mit den Kommunen, den Ländern und unter anderem auch den freien Trägern sechs zentrale Themenfelder bearbeiten. Es geht darum, Familie als Gemeinschaft zu stärken, eine Kultur eines längeren, motivierten und erfüllten Arbeitslebens zu etablieren, selbstbestimmtes Leben im Alter zu fördern, gleichwertige Lebensverhältnisse in ländlichen und städtischen Regionen zu sichern, die Fachkräftebasis und Innovationskraft zu stärken und schließlich die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten; das setzt natürlich vor allen Dingen auch nachhaltige Finanzen voraus.

Wir haben Anfang Oktober ein erstes Gipfeltreffen abgehalten und werden auf dem zweiten Demografiegipfel im Mai 2013 mit ersten Ergebnissen an die Öffentlichkeit gehen. Ich bedanke mich bei allen, die dabei mitmachen. Wir sind bei allen auf sehr offene Ohren und Bereitschaft zur Mitarbeit gestoßen. Die Antworten, die wir liefern müssen, werden aber sicherlich sehr komplex sein. Es stellt sich ja immer die Frage: Welche Vorstellungen haben die Menschen eigentlich darüber, wie sie in unserem Land leben wollen? Ich hatte zu dieser Frage in diesem Jahr einen Dialog mit 125 Experten und vor allen Dingen auch mit Bürgerinnen und Bürgern in sogenannten Town Halls in mittelgroßen Städten initiiert. Denn es ist ja auch ganz interessant, wenn man nicht immer nur die Berliner Meinung hört, sondern auch einmal die Meinungen in Erfurt, Bielefeld und Heidelberg. Es gab außerdem auch einen sehr intensiven Onlinedialog.

Wir haben uns bei diesen Bürgerdialogen drei Fragen gestellt: Wie wollen wir morgen lernen? Wovon wollen wir morgen leben? Und wie wollen wir morgen zusammenleben? Die am intensivsten diskutierte Frage – von jungen Leuten und Schülern bis hin zu den Teilnehmern am Onlinedialog – war die Frage: Wie wollen wir morgen zusammenleben? Überall bin ich auf eine unglaubliche Ernsthaftigkeit gestoßen. Dabei ging es auch um die Fragen: Wie können wir es eigentlich schaffen, die Unterschiede in unserer Gesellschaft nicht zu groß werden zu lassen? Wie können wir es schaffen, diejenigen, die schnell abgehängt werden – ob im Schulbereich oder im höheren Alter –, wieder zu integrieren? Ich glaube, die Ergebnisse dieser Diskussion können wirklich ermutigen.

Manchmal ist es schwierig, die Zuständigkeiten in unserem föderalen System immer beachten zu müssen. Meine Erfahrung ist: Die Menschen interessiert überhaupt nicht, ob dieser oder jener zuständig ist, ob die Kindertagesstätte in die kommunale Verantwortung, die Schule in die Länderverantwortung und die Berufsbildung wiederum in die Verantwortung des Bundes oder der Bundesagentur für Arbeit fällt. Deshalb ist es, wenn wir zum Wohle der Menschen in unserem Land arbeiten wollen, so wichtig, dass wir die Übergänge von einer Zuständigkeit in die andere nicht kaschieren, sondern so gestalten, dass der einzelne Mensch damit gut leben kann. Denn dieser kann ja nichts dafür, dass der Lehrer anders ausgebildet ist als die Kindergärtnerin, dass sich deshalb beide eigentlich kaum austauschen. Es bedarf erst einer Stiftung, die eine gemeinsame Weiterbildung mit beiden Gruppen anbietet, sodass sich das Kind dann auch darüber freuen kann, dass die Lehrerin einmal in den Kindergarten kommt und die Kindergärtnerin vielleicht auch einmal in die Schule, damit beides irgendwie besser zusammenpasst. Es geht auch darum, dass die Berufsberatung in die Schule darf.

Und so könnte ich von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt viele Geschichten davon erzählen, dass Menschen einfach den Eindruck haben: Hier wird nicht unbedingt für mein Leben gearbeitet, sondern irgendwie mehr für die Kompetenz einer imaginären Größe. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir da, wo wir es für wichtig halten, auch über bestimmte Grenzen hinaus tätig sind. Ich will als Beispiel dafür den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz nennen. Dazu hat der Bund gesagt: Das ist eine so große gesellschaftliche Aufgabe, dass wir hierbei die Länder unterstützen. Ein weiteres Beispiel ist die Hochschulbildung. Mit dem Hochschulpakt tragen wir gemeinsam mit den Ländern dafür Sorge, dass auch in den Jahrgängen, in denen noch viele Studenten sind, gute Studienmöglichkeiten bestehen. Ich glaube, auch Sie bei den Wohlfahrtsverbänden kennen die nicht ganz einfache Frage der Zuständigkeiten – natürlich nicht untereinander; da sind Sie natürlich ein Herz und eine Seele. Sie kennen das vielmehr auch von der Politik. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir auf allen Ebenen miteinander im Gespräch sind.

Meine Damen und Herren, spannend ist, dass vor 41 Jahren auch die Wohlfahrtsverbände gesagt haben, dass ihre Arbeit mehr im Fokus stehen muss, weshalb sie sich an die Medien gewandt haben und die Aufmerksamkeit der Medien auch dadurch gewonnen haben, dass man von ihnen, den Wohlfahrtsverbänden, einen Preis bekommen kann. Nachdem ich gehört habe, wie viele sich beworben haben, kann ich sagen: Diese Sache scheint ja hinreichend attraktiv zu sein.

Ich möchte mich auch an die anwesenden Medienvertreter richten. Ich will zwar nicht vorschlagen „mal einen Krimi weniger und stattdessen etwas aus dem richtigen Leben“ – aber so etwas in der Richtung. Ich plädiere also für gute Sendezeiten für die Beiträge, die etwas über das wirkliche Leben erzählen. Ich habe von den 2,5 Millionen Ehrenamtlichen und von den 1,5 Millionen hauptamtlich Beschäftigten allein im Bereich der Wohlfahrtsverbände gesprochen. Damit sind wir schon bei vier Millionen Menschen; das sind schon fast fünf Prozent der deutschen Bevölkerung. Wenn wir einmal annehmen, dass viele davon auch eine Familie haben, sind wir schnell bei 10 bis 15 Prozent. Wenn deren Arbeit, die jeden Tag so spannend und interessant ist und oft – nicht immer, aber oft – auch einen tollen Ausgang hat, noch etwas mehr Beachtung finden würde, dann wäre das kein Fehler. Ich vermute, die Preisträger sind da mit mir sogar einer Meinung. Deshalb bin ich gerne hierhergekommen; denn die Welt der Medien ist ja wichtig für uns in der Politik und genauso für Sie, um das zu transportieren, was Gutes in unserem Land geschieht.

Herzlichen Dank.