Rede der Bundeskanzlerin bei der 5. Tagung der 11. Synode der EKD

Sehr geehrte Frau Präses, liebe Frau Göring-Eckardt,
sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender, lieber Herr Schneider,
sehr geehrte Synodale,
meine Damen und Herren,

ich freue mich, als ein Teil des weltlichen Regiments hier zu Wort zu kommen. Von mir ist auch nichts Schlimmes zu erwarten; im Gegenteil: Man ist ja heute auch froh, wenn man von der Kirchenseite freundlich behandelt wird.

Ich bedanke mich bei Herrn Schmid für die CD. Ich gehöre zwar mehr zu der Fraktion, die gerne ein Abkommen mit der Schweiz hätte. Aber ich nehme sie auch und schau einmal, was darauf ist. Es hat sich also schon gelohnt, hier zu sein. Natürlich bin ich auch aus anderen Gründen gerne hierhergekommen.

Wir befinden uns jetzt mitten in der Luther-Dekade. Das Reformationsjubiläum 2017 rückt näher. Es ist spannend, dass Sie in diesen Tagen hier aus dem Blickwinkel des Johanneszitats „Am Anfang war das Wort“ darüber diskutieren. Die Interpretationen dieses Zitats füllen ganze Bücher; Sie haben auch in vielen Teilen darüber gesprochen.

Für mich persönlich ist immer noch das sehr beeindruckend, was Václav Havel in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 1989, zu der er nicht persönlich kommen konnte, zum Satz „Am Anfang war das Wort“ ausgeführt hat. Ich will ihn deshalb zu Beginn zitieren: „Wenn das Wort Gottes der Quell all seiner Schöpfung ist, dann ist der Teil dieser Schöpfung, den das Menschengeschlecht darstellt, er selbst nur aufgrund eines anderen Wunders Gottes, nämlich des Wunders des menschlichen Wortes. Und wenn dieses Wunder der Schlüssel zur Geschichte des Menschen ist, dann ist es zugleich auch der Schlüssel zur Geschichte der Gesellschaft, ja, vielleicht ist es das erste nur, weil es das zweite ist; wäre nämlich das Wort nicht eine Art Kommunikation zwischen zwei oder mehreren menschlichen ‚Ich’, dann wäre es wohl überhaupt nicht.“

So, meine Damen und Herren, wird deutlich, warum der Satz „Am Anfang war das Wort“ auch für die Reformation gilt. Martin Luthers Thesenanschlag war eine Mischung aus Verstand, Wissen und vor allen Dingen Gewissen und einer Tat; Wort und Tat bildeten eine Einheit. Mit Sicherheit war er ein Akt der Freiheit eines Christenmenschen. Wenn sich dies am 31. Oktober 2017 zum 500. Mal jährt, ist das natürlich ein Anlass, der uns fragen lässt: Wie ist unser Land dadurch geprägt worden? Welche Prägekraft geht davon auch für die Zukunft unseres Landes aus?

Luthers Entscheidung, seine Gedanken und Zweifel in Worte zu fassen und diese öffentlich auszuhängen, hat vielen Menschen aus der Seele gesprochen und ihnen Kraft gegeben und mehr Mut gemacht, um ihr Unbehagen, ihre ungeklärten Fragen doch auszusprechen. Die Bibelübersetzung in Kombination mit der Erfindung des Buchdrucks hatte gravierende Veränderungen. Wort, Sprache und Kommunikation als Schlüssel zu Glaube, Wissen und Demokratie – dieser Schlüssel ist heute genauso wertvoll, wie er es damals war, auch wenn uns das Ganze heute in anderer Form begleitet; wir haben es ja eben bei Twitter gesehen. Aber wenn wir uns die tiefgreifenden Veränderungen durch den Buchdruck in der damaligen Gesellschaft vor Augen führen, erahnen wir vielleicht, welche tiefgreifenden Veränderungen wir durch die Zeit des Internets noch gewärtigen werden.

Wir sollten uns von der Leidenschaft, mit dem sich damals die Reformatoren dem Thema „Bildung“ gewidmet haben – dies erinnert mich auch an den Festakt 2010 in Wittenberg zum Gedenken an Melanchthon –, auch heute leiten lassen. Diese Frage sollten wir uns immer wieder vor Augen führen. Denn Bildung ist wesentliche Grundlage einer demokratischen Gesellschaft. Deshalb sind für mich Reformation und Bildung auf das engste miteinander verknüpft.

Nach unserem Staatsverständnis sind Politik und Kirche aus guten Gründen getrennt. Gleichzeitig – das ist kein Widerspruch; und deshalb habe ich mich auch zu meinem aktuellen Podcast entschlossen – steht für mich die Mitverantwortung der Politik für ein gemeinsames Bewusstsein grundlegender Werte und Normen völlig außer Frage. Politik findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie kommt bei aller Detailarbeit ohne ein Fundament nicht aus, denn sonst würde sie völlig beliebig werden. Noch schwieriger: Politik lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann. Das heißt, wenn wir politisch handeln wollen, sind wir darauf angewiesen, dass bereits ein Fundament unserer Gesellschaft existiert.

Ich glaube, dass es eine Tatsache ist, dass die Reformation das Verständnis vom zur Freiheit berufenen, mündigen, selbst- und mitverantwortlichen Menschen beeinflusst hat – ein Menschenbild, das jeglicher demokratischer Ordnung zugrunde liegt. Deshalb ist es für die Politik nicht belanglos, ob es in unserer Gesellschaft ein Verständnis für den christlichen Glauben, für die Grundlagen des christlichen Glaubens gibt. Deshalb ist die Bundesregierung auch mit dabei, wenn es darum geht, das Reformationsjubiläum vorzubereiten und zu unterstützen. Ich sage auch ganz offen: Ich erhoffe mir, dass das Jubiläum auch, wenn man das heutzutage noch sagen darf, eine missionarische Komponente hat, dass etwas von dem Geist der Reformation auch wieder zu den Menschen gelangt, die von diesem Geist vielleicht nie gehört oder schon lange nichts mehr gehört haben.

Unserem Staat ist verfassungsgemäß eine weltanschaulich-religiöse Neutralität auferlegt – das ist völlig unstrittig. Aber die Bundesrepublik ist ausdrücklich nicht laizistisch gegründet worden. Die Präambel unseres Grundgesetzes beginnt nicht ohne Grund mit dem Satz: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“ Der Gottesbezug verdeutlicht das, was hier schon erwähnt wurde, nämlich dass sich Politik nicht in Allmachts- oder Absolutheitsansprüchen verlieren darf, wenn sie sich zum Schluss nicht in menschenfeindlichen Ideologien wiederfinden will.

Deshalb ist der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, Werte zu leben, vorzuleben und zu vermitteln, so wichtig. Das Wächteramt der Kirchen gegenüber politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ist nicht nur aus kirchlichem Selbstverständnis wichtig. Es ist schlichtweg unverzichtbar für unsere gesamte Gesellschaft als Verantwortungsgemeinschaft geworden.

Deshalb ist der Staat aufgefordert, vernünftige Rahmenbedingungen für ein freies, politisch unabhängiges kirchliches Leben und Wirken zu sichern. Artikel 4 unseres Grundgesetzes schützt die Unverletzlichkeit der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit und gewährleistet die ungestörte Religionsausübung. In Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen ist Vergleichbares niedergelegt. Dennoch sind wir weltweit unendlich weit von einer wirklichen Anerkennung und Beachtung dieses global gültigen Menschenrechts entfernt. Fanatismus, Einschränkung von Glaubensfreiheit, Geringschätzung von Glauben – das alles ist Teil unserer Lebenswirklichkeit in der Welt. Man darf es, glaube ich, auch einmal sagen: Das Christentum ist die verfolgteste Religion auf der Welt. Deshalb haben wir uns in der Bundesregierung ganz bewusst entschieden, zu sagen, dass der Kampf gegen die Verfolgung von Menschen, die eine Religion ausüben – und damit auch von Christen –, Teil unserer Außenpolitik ist.

Das Themenjahr „Reformation und Toleranz“ ist ein sehr spannendes, denn Religionsfreiheit und Toleranz müssen mit Sicherheit zusammen gedacht werden. Religionsfreiheit bedeutet nicht nur eine Duldung religiöser Bekenntnisse oder Überzeugungen, sondern viel mehr. Toleranz darf nicht etwa mit Gleichgültigkeit gegenüber anderen Bekenntnissen verwechselt werden. Deshalb bin ich persönlich sehr gespannt, wie Sie das Thema „Reformation und Toleranz“ managen werden. Wenn Toleranz nicht nur ein Hinnehmen ist, sondern auch bedeutet, sich auf den anderen einzulassen und sich im Spiegel des anderen seiner eigenen Überzeugungen zu vergewissern, dann ist dieses Wechselspiel vielleicht etwas, das wir uns manchmal schon gar nicht mehr zutrauen. Denn oft verharrt man respektvoll und etwas sprachlos vor dem anderen und denkt sich, dass Religionsfreiheit sozusagen einen Diskurs fast schon verbietet. Oft entspringt das aus der Unsicherheit, was die eigene Bekenntnisposition anbelangt. Ich glaube, das darf man auch sagen.

Deshalb wäre es, wenn ich mir etwas wünschen dürfte, geradezu schön, wenn Sie Menschen, die sich in den Bekenntnissen der eigenen Religion vielleicht nur tastend auszudrücken vermögen, ermutigen würden, dies zu wagen und sich auf Diskurse einzulassen. Wenn ich das so sagen darf: Viel zu oft denkt man, wenn man mit Vertretern der Amtskirche zusammenkommt, dass man alles wissen und geschliffen in der Sprache sein muss, weil man sich ansonsten sehr schnell eine Blöße gibt. Ich glaube, das wäre nicht im Sinne Luthers. Also, seien Sie tolerant bei denen, die nicht ganz so sprachgewaltig sind wie Sie.

Natürlich gehört auch Respekt vor dem Andersdenkenden dazu. Deshalb ist es wichtig, dass Sie in der Diskussion über Toleranz auch darauf hinweisen, wo Christentum nicht tolerant war und wo es Fehler gegeben hat. Wir sehen uns auch in unserem Alltag immer wieder Fragen der Toleranz gegenüber. Ich denke, eine solche Herausforderung in diesen Tagen ist für uns die Frage der Beschneidung bei den Juden. Wir haben uns im Parlament sehr intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir einen betreffenden Gesetzentwurf gestalten können. Den vorliegenden Gesetzentwurf zur nicht medizinisch indizierten Beschneidung bei Jungen sehe ich als Beispiel der Toleranz gegenüber einer Religion und damit auch als eine Notwendigkeit an. Aber ich glaube, dass wir in unserem Alltag auch immer wieder auf solche Probleme stoßen.

Glaubens- und Religionsfreiheit entspringen ebenso wie etwa die Freiheit von Meinung und Kunst letztlich aus dem gleichen Verständnis von verantworteter Freiheit. Die Diskussion, was verantwortete Freiheit bedeutet, ist in einer Gesellschaft mit vielen Menschen, die in keiner Weise religiös gebunden sind, nicht immer einfach zu führen. Insofern ist es sehr wichtig, dass die Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum auch Impulse zur religiösen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Bildung auf diejenigen gerichtet bieten, die sich keiner Religion zugehörig fühlen.

Das Bewusstsein um ein verbindendes christliches Erbe in Deutschland und Europa ist das eine. Das andere ist – auch das kann uns der Rückblick auf die vergangenen 500 Jahre zeigen –, dass wir sehr lange gebraucht haben, um bei allen Unterschieden zu einem friedlichen Miteinander zu gelangen. Es hat in Europa lange gedauert, bis man sich darauf besonnen hat, dass man unterschiedlichen Religionen angehören, dass man unterschiedliche Meinungen vertreten kann und Gewalt kein Mittel der Auseinandersetzung sein darf. Ich glaube, daran sollten wir denken, wenn wir zu Entwicklungsprozessen in anderen Teilen der Welt Stellung nehmen. Hochmut ist aus europäischer Perspektive nicht angezeigt, allenfalls Austausch von eigenen schmerzlichen Erfahrungen, die natürlich nicht überall in gleicher Form gemacht werden müssen.

Zum Jubiläum der Reformation gehört auch, dass wir an das ökumenische Miteinander denken. Ich habe gelernt, dass schon das Wort „Jubiläum“ im Zusammenhang mit der Reformation Anlass zu Diskussionen bieten kann. Ich denke, dass wir gerade in einer sehr säkularen Welt das Gemeinsame der christlichen Religionen immer wieder in den Vordergrund stellen dürfen. Ich spreche jetzt einfach auch einmal von einer Religion.

Meine Damen und Herren, der Dialog der Religionen auch über das Christentum hinaus ist natürlich auch für die Integration in unserem Land und in Europa von äußerst wichtiger Bedeutung. Die Herausforderungen, die es im Miteinander von weltlicher Gewalt und Kirchen gibt, sind natürlich über das eigene Bekenntnis hinaus vielfältig. Das will ich hier an drei Beispielen noch einmal deutlich machen.

Wir haben heute ganz im Sinne des Auftrags „Macht euch die Welt untertan“ die Aufgabe, mit unserer Welt vernünftig und nachhaltig umzugehen. Das fällt uns unendlich schwer. Nehmen wir als Beispiel den Klimaschutz. Wir haben Tage der Berichterstattung über den Hurrikan „Sandy“ hinter uns. Immer wieder werden mit großer Konzentration solche Naturgewalten beschrieben. Sie dürften nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrhunderte sicherlich immer einmal wieder auftauchen. Sie dürften aber unter gar keinen Umständen in dieser Häufigkeit auftauchen. Es ist aber so unendlich schwer, der Menschheit klar zu machen, dass, wenn man etwas nicht tut, die Schäden sehr viel größer ausfallen, weil man nie Szenarien vor Augen hat, was hätte werden können, wenn man etwas getan hätte.

Es werden also hohe Anforderungen an die Abstraktionsfähigkeit gestellt. Aber der Mensch hat solche technische Fähigkeiten entwickelt, dass er parallel dazu auch seine Abstraktionsfähigkeit entwickeln muss, über seinen eigenen Tellerrand und sein eigenes Leben hinaus schauen muss. Wenn dies die Menschheit nicht lernt, wird die Menschheit dafür in dramatischer Weise bezahlen müssen. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass die Bemühungen um mehr Klimaschutz auch von den Kirchen in ganz konkreter Art und Weise unterstützt werden, zum Beispiel dadurch, dass die CO2-Emissionen in den Gemeinden bis 2015 im Vergleich zu 2005 um 25 Prozent gesenkt werden sollen. Damit gibt man ein Beispiel. Das zeigt, wie man es machen kann. Das ist – genauso wie die Entwicklungsarbeit der Kirchen – sicherlich ein wesentlicher Beitrag dazu, mehr über Verantwortung zu lernen.

Zweitens will ich die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise und die augenblickliche Situation in Europa, nämlich die europäische Staatsschuldenkrise, erwähnen. Auch hier sind einfachste Regeln missachtet und der Geist der Sozialen Marktwirtschaft mit Füßen getreten worden. Dass gerade in diesem Augenblick die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird, finde ich sehr bemerkenswert. Ich will nicht verschweigen: Es hat mich wirklich berührt. Wir haben die Auszeichnung nicht bekommen, als der Kalte Krieg zu Ende ging. Wir haben die Auszeichnung nicht bekommen, als die große Erweiterungsrunde vorgenommen wurde und mittel- und osteuropäische Länder dazukamen, sondern wir erhalten die Auszeichnung, wie eine kleine Mahnung, genau in dem Augenblick, in dem wir drauf und dran sind, vor der Aufgabe, vor der wir stehen, ein Stück weit zu verzagen.

Wenn wir uns noch einmal vor Augen führen, wie viele Kriege auch im Namen der Reformation geführt wurden, dann können wir stolz darauf sein, dass wir auf 67 Jahre weitgehend friedliche Entwicklung in Europa zurückblicken dürfen – wenn auch mit all den Problemen, die daraus erwachsen, wenn Menschen den Frieden vielleicht gar nicht mehr so schätzen können wie Menschen, die Krieg noch selbst erlebt haben. Ich glaube, dass dieses Europa Unglaubliches vollbracht hat. Denn auch dieses Europa gründet auf Verantwortung, auf Werten, die eben nicht von der Politik geschaffen werden konnten. In der Präambel der Grundrechtecharta der Europäischen Union heißt es nicht umsonst: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ Ich hätte es gut gefunden, wenn man sich auch auf das Wort „Gott“ hätte einigen können; so weit ging aber das gemeinsame Bewusstsein in Europa nicht. Da sieht man schon, wo die Grenzen sind. Dennoch ist es gut, dass wir in Europa im Wesentlichen viele gemeinsame Werte teilen.

Trotz allem, worum wir uns immer wieder streiten, können wir heute sagen: Die 500 Millionen Menschen in Europa leben auf einem Fundament, das ohne das Christentum nicht denkbar wäre. Es wird auch in den zukünftigen Jahren des 21. Jahrhunderts für uns von allergrößter Bedeutung sein. In Europa stellen wir heute nur noch über sieben Prozent der Menschen auf der Welt. Wir Deutschen machen einen Anteil von etwas mehr als ein Prozent aus. Stellen Sie sich also vor: Wenn wir eine kluge Idee haben, müssen wir die anderen 99 Prozent davon überzeugen, dass sie richtig ist, damit alle so denken, wie wir es ganz natürlich finden. Wir Europäer stellen immerhin noch fast 25 Prozent der Wirtschaftskraft der Welt. Und wir bestreiten immerhin rund 50 Prozent der Sozialausgaben der Welt. Ich glaube, um das erhalten zu können, ist es gut, wenn uns die Kirchen – und dafür danke ich sehr – immer wieder ermuntern, in der Europäischen Union zusammenzuhalten und angesichts erster Schwierigkeiten nicht gleich in lauter Einzelteile zu zerfallen.

Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist – damit komme ich zu dem dritten Problem –, dass der weitaus größte Teil des Wachstums – wobei ich glaube, dass Wachstum viele andere Dimensionen hat neben dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts – außerhalb Europas erzeugt wird. Wir sind ein alternder Kontinent. Das hat auch gute Seiten. Ich erzähle immer wieder gerne die Geschichte eines Asylbewerbers aus Äthiopien, der seine Mutter anrief, die ihn dann fragte, ob es ihm im Winter in Deutschland nicht zu kalt sei. Er sagte: „Mutter, mache dir keine Sorgen. Damit komme ich klar.“ Dann noch eine gute Botschaft: „Hier sitzen dauernd so alte Leute wie du auf der Bank. Hier würdest du dich richtig wohlfühlen.“ Eine alternde Gesellschaft ist das, was uns kennzeichnet. Insofern ist der demografische Wandel für uns – ich sage nicht, dass es etwas Schlechtes ist, es ist nur etwas völlig Neues – eine riesige Herausforderung, der sich Kirchen und Gesellschaft in gleicher Weise stellen müssen.

Gerade die neuen Bundesländer bieten ein Beispiel dafür, wie man den Wandel schon vorzeitig erlebt. Ich glaube, auch die Gründung einer Nordkirche ist eine Antwort auf diese Herausforderung. Sie stellen sich in Ihren Gemeinden viele praktische Fragen. Wie können Ältere weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben? Wie können wir den Austausch der Generationen fördern, die Erfahrungen von Generation zu Generation weitergeben? Was und wo können junge Menschen von Älteren lernen? Deshalb möchte ich mit einem Dankeschön für die viele Arbeit schließen, die Sie leisten – in den Kindergärten, in den Altenheimen, in den vielen Wohnprojekten, die von der Kirche und von Menschen, die sich dem christlichen Glauben verpflichtet fühlen, geleitet und unterstützt werden.

Wir werden uns auch regierungsseitig den Herausforderungen annehmen, denn wir haben angesichts längerer Lebensphasen auch unnatürliche Zeitaufteilungen. Es gibt die sogenannte rush hour des Lebens; auf Deutsch fällt einem dazu nichts mehr ein. Jedenfalls ballt sich in dieser Phase des Lebens alles – von Karriere über Kindererziehung bis zur Pflege von Angehörigen –, um dann schließlich lange Abschnitte zu haben, in denen Menschen sehr selbstbewusst und selbstbestimmt leben möchten, wobei es aber nicht unbedingt schon bestimmte Vorstellungen und Rollenmodelle gibt, wie man eigentlich eine selbstbestimmte Altersphase gestalten kann. Hierbei sind wir noch eine lernende Gesellschaft. Ich finde, gegenüber diesem Lernen sollten wir uns ganz offen zeigen. Es gibt aber bereits viele gelungene Praxisbeispiele, gerade auch in kirchlichen Kreisen. Sie sind ein ganz wesentlicher Beitrag zu dem, was ich eine echte Bürgergesellschaft nennen möchte. Auch in dieser Hinsicht bietet das Reformationsjubiläum Chancen, die genutzt werden können.

Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die Worte Václav Havels in seiner Dankesrede zurückkommen und ein Zitat erwähnen: „‘Am Anfang ist das Wort.’ – Das ist ein Wunder, dem wir zu verdanken haben, dass wir Menschen sind. – Doch zugleich ist es ein Hinterhalt, eine Prüfung, eine List und ein Test. (...) Das ist ganz offenbar durchaus nicht nur eine linguistische Aufgabe. Als Aufruf zur Verantwortung für das Wort (...) ist dies eine wesenhaft sittliche Aufgabe. Als eine solche ist sie allerdings nicht vor dem Horizont der von uns zu überblickenden Welt verankert, sondern erst irgendwo dort, wo jenes Wort sich aufhält, das am Anfang war und das nicht das Wort des Menschen ist.“

Jede Synodentagung und erst recht das Reformationsjubiläum sind gute Anlässe, sich in diesem Sinne selbst zu vergewissern. Ich wünsche Ihnen noch gute Beratungen. Herzlichen Dank.